Richterliche Hinweispflicht gemäß § 76 Abs. 2 FGO; Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Als Verfahrensmangel; Rüge der Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht
Gesetze: FGO § 76 Abs. 2, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 96 Abs. 1
Instanzenzug: FG des Landes Sachsen-Anhalt Urteil vom 1 K 1033/06
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) geltend gemachten Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) sind in der Beschwerdebegründung zum Teil nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gebotenen Weise dargelegt worden, im Übrigen liegen sie nicht vor.
1. Die vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) sind nicht gegeben.
a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Finanzgericht (FG) seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens, also den gesamten konkretisierten Prozessstoff zu Grunde zu legen. Insbesondere ist der Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen der Prozessbeteiligten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen. Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist ein Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (, BFH/NV 2008, 26).
aa) Der Kläger macht geltend, das FG habe bei der von ihm vorzunehmenden Prüfung, ob der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) eine korrekte Ermessensentscheidung getroffen habe, nicht berücksichtigt, dass zwar die vom FA erlassenen Einspruchsentscheidungen, nicht aber die angefochtenen Verwaltungsakte über die Festsetzung von Verspätungszuschlägen begründet worden seien.
Dieser Vortrag zeigt keinen Mangel auf, auf dem das Urteil beruhen kann. Ein Urteil beruht nur dann auf einem Verfahrensmangel, wenn es ohne einen solchen Mangel unter Berücksichtigung des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG möglicherweise anders ausgefallen wäre. Dies ist hier deshalb nicht der Fall, weil das FG in seinem Urteil darauf abgestellt hat, für die Beantwortung der Frage, ob das FA sein Ermessen in der gebotenen Weise ausgeübt habe, sei nicht auf den angefochtenen Bescheid, sondern auf den Inhalt der nachfolgenden Einspruchsentscheidung abzustellen.
bb) Ferner bringt der Kläger vor, das FG habe bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Einspruchsentscheidungen vom nicht das wenige Wochen zuvor ergangene Schreiben des FA an den Prozessbevollmächtigten vom berücksichtigt. Das FA habe darin angeregt, das Ergebnis einer anhängigen Außenprüfung beim Kläger abzuwarten. In diesem Zusammenhang habe das FA ausgeführt, die Ergebnisse der Außenprüfung hätten erhebliche Auswirkungen auf die Ermessensausübung. Dies betreffe sowohl die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs als auch den gezogenen Vorteil. Nachdem der Kläger mit dieser Vorgehensweise nicht einverstanden gewesen sei, habe das FA die Einspruchsentscheidungen erlassen. In diesen habe sich das FA nicht mit dem Schreiben vom auseinandergesetzt, insbesondere habe es nicht offengelegt, weshalb es zu einer Ermessensentscheidung nunmehr in der Lage gewesen sei. Das FG hätte daher bei Berücksichtigung des Inhalts des vorgenannten Schreibens klären müssen, ob das FA seine Entscheidung unter Berücksichtigung des gesamten relevanten Sachverhalts getroffen habe.
Der gerügte Verfahrensfehler liegt bereits deshalb nicht vor, weil sich das FG im Tatbestand seines Urteils mit dem Ruhen des Verfahrens im Hinblick auf eine zeitgleich stattfindende Betriebsprüfung befasst hat (vgl. Seite 4 Absatz 2 des Urteils). Bei dieser Sachlage ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass das FG die damit im Zusammenhang stehenden Vorgänge nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern im Rahmen der rechtlichen Würdigung in Erwägung gezogen hat, auch wenn es sich in den schriftlichen Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich damit auseinandergesetzt hat (, BFH/NV 2000, 673). Im Übrigen lässt sich der Inhalt des Schreibens des FA vom zwanglos in der Weise erklären, dass eine Betriebsprüfung in nicht seltenen Fällen zu Änderungen hinsichtlich der festzusetzenden Steuerschuld führt. Dies kann —jedenfalls dann, wenn die Steuer herabzusetzen ist— zur Folge haben, dass das FA gehalten sein kann, den Verspätungszuschlag ebenfalls zu ändern (Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 152 AO Rz 53 f.).
cc) Schließlich macht der Kläger geltend, das FG habe eine umfassende Würdigung des Akteninhalts versäumt. Nur deshalb sei es unter Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO zu der Auffassung gelangt, das FA habe ausreichende Ermessenserwägungen angestellt. Aus dem Schreiben des FA vom ergäbe sich aber eindeutig, dass keine umfassenden Ermessenserwägungen angestellt worden seien. Vielmehr habe das FA ohne weitere Erwägungen anzustellen, die in früheren Bescheiden festgesetzten Verspätungszuschläge übernommen und lediglich einen pauschalen Abzug im Hinblick darauf vorgenommen, dass die Steuerfestsetzungen zu Steuererstattungen geführt hätten.
Dieser Vortrag des Klägers trifft nicht zu. Das FG hat sich in seinem Urteil ausführlich mit der Frage befasst, ob das FA ausreichende Ermessenserwägungen angestellt hat. Soweit der Kläger meint, das FG sei zu Unrecht zu diesem Ergebnis gelangt, rügt er nicht das Vorliegen eines Verfahrensfehlers, sondern eine unzutreffende Würdigung der tatsächlichen Gegebenheiten. Dies ist jedoch kein verfahrensrechtlicher, sondern ein materiell-rechtlicher Mangel, der die Zulassung der Revision nicht rechtfertigt (, BFH/NV 2005, 2215).
b) Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO kann gegeben sein, wenn das FG den Beweisantrag eines Beteiligten übergeht. Da die Rüge einer Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht durch Übergehen entscheidungserheblicher Beweisanträge zu den verzichtbaren Verfahrensmängeln (§ 295 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO) gehört, ist ein solcher Verstoß nur schlüssig dargelegt, wenn dargetan wird, dass die fehlende Beweiserhebung gerügt worden ist, oder aus welchen Gründen eine solche Rüge nicht möglich war. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der betroffene Verfahrensbeteiligte in der maßgeblichen mündlichen Verhandlung fachkundig vertreten war (, BFH/NV 2000, 597).
Diesen Darlegungsanforderungen entspricht die Beschwerdebegründung nicht. Sie zeigt nicht auf, dass die fehlende Beweiserhebung gerügt worden ist. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung vor dem FG, bei der u.a. die sachkundige Prozessbevollmächtigte des Klägers anwesend war, wurde der in der Klageschrift gestellte Beweisantrag nicht wiederholt und auch nicht die Nichterhebung des angebotenen Beweises gerügt.
Im Übrigen lässt die Beschwerdebegründung auch unberücksichtigt, dass das FG den unter Beweis gestellten Tatsachenvortrag als wahr unterstellt hat. In seiner Klageschrift (Seite 4 Abschnitt V.) hat der Kläger vorgetragen, das FA habe bei der Festsetzung der Verspätungszuschläge sich erkennbar an dem steuerlichen Verhalten des Klägers in der Vergangenheit orientiert. Die Abgabeverhältnisse des Klägers hätten sich verbessert. Diesen Vortrag hat das FG als wahr unterstellt. Denn das FG ist ausdrücklich im Rahmen seiner Entscheidung (Urteil Seite 10 Absatz 1) davon ausgegangen, dass sich das Abgabeverhalten des Klägers mittlerweile gebessert habe.
Soweit der Kläger vorträgt, sein Beweisantrag habe darauf abgezielt, zu belegen, das FA habe keine Ermessenserwägungen angestellt, sondern lediglich die höchstmöglichen Zuschläge festsetzen wollen, entspricht dies nicht dem Inhalt seines schriftsätzlich gestellten Beweisantrags. Soweit der Kläger meint, das FG sei gehalten gewesen, den Kläger aufzufordern, seinen Beweisantrag zu präzisieren, trifft dies hier nicht zu.
Eine richterliche Hinweispflicht gemäß § 76 Abs. 2 FGO gegenüber sachkundig vertretenen Prozessbeteiligten besteht jedenfalls dann nicht, wenn ein gestellter Beweisantrag eindeutig und auch nicht offenkundig mangelhaft ist (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 76 Rz 55 f.).
2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO wegen Divergenz zuzulassen.
Dieser Grund für die Zulassung der Revision liegt nur vor, wenn das FG und die (angebliche) Divergenzentscheidung bei vergleichbarem Sachverhalt in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage abweichende Rechtsauffassungen vertreten und deshalb eine Abweichung hinsichtlich des grundsätzlichen Ansatzes vorliegt (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 53 ff., m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH).
Der Kläger macht geltend, das angefochtene Urteil weiche von den Grundsätzen des Senatsurteils vom X R 14/95 (BFHE 183, 21, BStBl II 1997, 642) und dem Beschluss des 2. Senats des (BStBl III 1967, 166) ab. Er bringt vor, nach diesen Entscheidungen dürfe der gesetzliche Höchstsatz des Verspätungszuschlags in Höhe von 10 % der festgesetzten Steuer (§ 152 Abs. 2 der Abgabenordnung —AO—) nur in außergewöhnlichen Fällen festgesetzt werden. Voraussetzung hierfür sei, dass mehrere erschwerende Umstände zusammentreffen würden. Demgegenüber gehe das FG jedenfalls im Ergebnis davon aus, dass ein Zuschlag von 10 % auch dann gerechtfertigt sei, wenn ein solches schweres Fehlverhalten nicht gegeben sei, sondern bei „Besserverdienenden” ein Zuschlag von 10 % im Ausgangspunkt gerechtfertigt sei, der lediglich in Erstattungsfällen pauschal ermäßig werde.
Der angerufene Senat kann offenlassen, ob die Beschwerdebegründung die Grundsätze der Senatsentscheidung in BFHE 183, 21, BStBl II 1997, 642 zutreffend wiedergibt. Auch muss der angerufene Senat keine Überlegungen dazu anstellen, ob die Grundsätze, die das BVerfG in der vorstehend genannten Entscheidung aufgestellt hat, deshalb überholt sind, weil der Gesetzgeber den Höchstbetrag von 10 % der festgesetzten Steuer durch die absolute Höchstgrenze von 25 000 € (§ 152 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 AO) begrenzt hat (vgl. hierzu Senatsurteil in BFHE 183, 21, BStBl II 1997, 642, unter II.2.e der Urteilsgründe). Entscheidend ist, dass das FG weder ausdrücklich noch konkludent von der vom Kläger behaupteten Rechtsauffassung ausgegangen ist. Es hat vielmehr ausdrücklich festgestellt, die Annahme des Klägers, wonach das FA im Ansatz weiterhin von der grundsätzlichen Berechtigung ausgehe, im Streitfall einen Verspätungszuschlag von 10 % festzusetzen, treffe nicht zu. Dementsprechend hat das FG geprüft, ob die Begründung des FA für die Festsetzung eines Verspätungszuschlags in Höhe von 7 % der festgesetzten Steuerschuld, die tatsächlichen Gegebenheiten im Streitfall berücksichtigt.
3. Der Kläger hat nicht in der erforderlichen Weise dargetan, dass die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen ist.
Wird geltend gemacht, die Revision sei wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, ist ausführlich darzustellen, aus welchen Gründen die aufgeworfene Rechtsfrage im allgemeinen Interesse der Klärung bedarf. Hierbei ist unter Heranziehung der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur darzustellen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft und strittig ist (Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 31 ff., m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH). Hat der BFH bereits früher über die Rechtsfrage entschieden, muss begründet werden, weshalb gleichwohl eine erneute Entscheidung des BFH zu dieser Frage im Interesse der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist. Hierzu ist substantiiert vorzutragen, inwiefern und aus welchen Gründen die höchstrichterlich beantwortete Frage weiterhin umstritten ist. Insbesondere ist darzutun, welche neuen und gewichtigen Argumente in der Rechtsprechung der FG und/oder in der Literatur gegen die Rechtsauffassung des BFH vorgebracht worden sind, die der BFH noch nicht geprüft hat (Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 33, m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH).
Der Kläger macht geltend, der BFH habe sich in einer Vielzahl von Entscheidungen mit der Frage der Festsetzung von Verspätungszuschlägen befasst. Dies zeige, dass noch in erheblichem Umfang im allgemeinen Interesse Klärungsbedarf bestehe. Diese Ausführungen sind ersichtlich nicht ausreichend. Es fehlt bereits an der Herausarbeitung der Rechtsfrage, die der Kläger für klärungsbedürftig hält. Auch setzt sich der Kläger weder mit der Rechtsprechung noch mit der Literatur auseinander, die zu der Frage ergangen ist, welche Ermessenserwägungen seitens der Finanzbehörde im Falle der Festsetzung eines Verspätungszuschlags anzustellen sind.
Soweit der Kläger vorbringt, es bedürfe der grundsätzlichen Klärung, ob es zulässig sei, im Falle einer prozentualen Bestimmung des Verspätungszuschlags „Besserverdienende” zusätzlich zu sanktionieren, ist diese Frage im Streitfall auch nicht klärungsfähig. Im Streitfall wurde der Verspätungszuschlag auf 7 % der Steuerschuld festgesetzt und nicht ein niedrigerer Prozentsatz im Hinblick auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Klägers zusätzlich erhöht.
Fundstelle(n):
HAAAD-03253