Bei erstmaligen Zweifeln an der Rechnungsanschrift des leistenden Unternehmers hat das FG zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung eine Hinweispflicht
Gesetze: UStG § 14, UStG § 15, FGO § 76, FGO § 96
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist eine Holding AG. Alleiniger Aktionär und Vorstand war A, der seinerzeit zugleich alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der B-GmbH (GmbH) war.
Die Klägerin erwarb auf Grund mehrerer Kaufverträge vom 28. April und , in denen die Anschrift der GmbH und der Klägerin mit „C-Str. ., . D-Stadt” angegeben wurde, von der GmbH mehrere Gegenstände (z.B. zwei Fahrzeuge, Hunde und Einrichtungsgegenstände), die sie (teilweise) an die GmbH zurück vermietete, wofür sie der GmbH Umsatzsteuer in Rechnung stellte.
Die Klägerin reichte ihre Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 1997 am beim Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) ein und machte Vorsteuer aus den Kaufverträgen mit der GmbH vom 28. April und geltend. Im Anschluss an eine betriebsnahe Veranlagung, die mangels Mitwirkung zu Lasten der Klägerin davon ausging, dass die Lieferungen tatsächlich nicht erfolgt seien, erkannte das FA die Kaufverträge als Scheingeschäfte nicht an und ließ die geltend gemachte Vorsteuer aus den Rechnungen der GmbH nicht zum Abzug zu. Der Einspruch der Klägerin, der sich insbesondere gegen die Annahme von Scheingeschäften wandte, blieb erfolglos.
Die Klägerin legte durch ihren Vorstand gegen die Einspruchsentscheidung, die u.a. auch die Körperschaftsteuer 1998 und 1999 betraf, Klage ein. Das Verfahren wegen Umsatzsteuer wurde abgetrennt.
In diesem Verfahren erging am eine Aufklärungsanordnung an die Klägerin, wonach diese den Nachweis zu erbringen hatte, dass die in den Rechnungen vom 28. April und genannten Gegenstände für das Unternehmen der Klägerin verwendet worden seien. Nachdem die Klägerin Unterlagen vorgelegt hatte, erging am nach § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Aufforderung, bis nachzuweisen, dass der in den Rechnungen vom 28. April und angegebene Sitz der GmbH in der C-Straße ., . D-Stadt bestanden habe. Innerhalb der Frist ließ die Klägerin vortragen, dass die GmbH zum damaligen Zeitpunkt beim Gewerbeamt ordnungsgemäß mit dem Firmensitz C-Straße ., . D-Stadt, gemeldet gewesen sei. Ebenso sei sie im Handelsregister D-Stadt unter Nr. . eingetragen worden. Auch sei der Betriebs-PKW der GmbH auf die C-Straße ., . D-Stadt, zugelassen worden. Aus den vorliegenden Unterlagen ergebe sich ferner, dass der Hauptsitz der GmbH in der C-Straße in D-Stadt gewesen sei und sich eine Zweigniederlassung in E-Stadt befunden habe. Die Klägerin bat um richterlichen Hinweis, sofern ihre Angaben nicht ausreichen sollten.
Mit Schriftsatz vom übersandte das FA dem Finanzgericht (FG) die Steuerakten der GmbH. Darin befindet sich ein Bericht des FA über Ermittlungen bei der GmbH vom . Dort wird ausgeführt, dass zwar nach § 1 der Satzung der Sitz der GmbH D-Stadt sei und die GmbH unter der Anschrift C-Straße ., . D-Stadt ihr Gewerbe angemeldet habe. Im Rahmen der Ermittlungen sei die GmbH unter dieser Anschrift aber nicht aufgefunden worden. Weder im Haus noch an der Außenfront noch den Briefkästen seien Firmenschilder angebracht gewesen. Das „Geschäftslokal” in der C-Straße sei daher noch im Rahmen einer offiziellen Besichtigung zu überprüfen.
Mit Verfügung vom wurde zur mündlichen Verhandlung am geladen. Ausweislich der Akten fand am ein Telefongespräch zwischen der Berichterstatterin am FG und dem Vertreter der Klägerin statt. Mit Schriftsatz vom verzichtete die Klägerin unter Bezugnahme auf das Telefongespräch auf mündliche Verhandlung und auf die steuerliche Geltendmachung von Vorsteuer für zwei Hunde, obgleich diese von dem mittlerweile zuständigen FA F „steuerlich” anerkannt worden seien. Die Klägerin legte nochmals den Handelsregisterauszug der GmbH und deren Gewerbeanmeldung vor, außerdem den Fahrzeugbrief, in dem als Sitz . D-Stadt angegeben ist. Vorgelegt wurde ferner eine Bestätigung der Aufsichtsratsvorsitzenden vom , wonach die streitigen Kauf- bzw. Mietverträge von den Beteiligten in der C-Straße ., . D-Stadt abgeschlossen und unterschrieben worden seien. Sollten noch Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorsteueranspruchs bestehen, so werde um richterlichen Hinweis gebeten.
Das FG wies die Klage ab. Nach den bisherigen Feststellungen könne nicht davon ausgegangen werden, dass der in den Rechnungen vom 28. April und angegebene Sitz der GmbH in D-Stadt, C-Straße . bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungsstellung tatsächlich bestanden habe, denn unter der angegebenen Adresse sei laut Bericht vom ein Geschäftssitz der GmbH nicht auffindbar gewesen. Die an die GmbH vermieteten Gegenstände, deren Erwerb die Klägerin geltend mache, hätten sich vielmehr in E-Stadt befunden. Damit sei nachgewiesen, dass der in den streitigen Rechnungen angegebene Sitz tatsächlich nicht bestanden habe. Die Gewerbeanmeldung auf die Anschrift C-Straße in D-Stadt, der Eintrag im Handelsregister und auch der vorgelegte Fahrzeugbrief seien nicht geeignet, den „tatsächlichen” Geschäftssitz der Firma zu begründen.
Die Nichtzulassungsbeschwerde stützt sich auf Verfahrensmängel und Divergenz. Die Klägerin macht geltend, sie habe wiederholt um richterliche Hinweise gebeten, sofern ihr Vortrag nicht ausreichen sollte. Aus ihrer Sicht sei daher das Urteil —unter Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör— völlig überraschend gewesen. Sie habe eine Reihe von Unterlagen vorgelegt, aus der sich der Sitz der GmbH ergeben habe. Auch habe am ein Telefongespräch zwischen ihrem Vorstand und der Berichterstatterin stattgefunden, in dem Letztere bestätigt habe, dass die Unterlagen zur Darlegung des Sitzes ausreichten (Beweisantrag: eidliche Parteieinvernahme des Vorstands der Klägerin). Deswegen habe sie auf mündliche Verhandlung verzichtet. Sie habe erstmals aus dem Urteil erfahren, dass die Angaben zum rechtlichen Sitz der GmbH nicht ausreichten. Hätte sie das gewusst, so hätte sie nicht auf mündliche Verhandlung verzichtet und als Zeugen den Steuerberater der Klägerin präsentiert, der die Geschäftsräume der GmbH im Jahr 1997 gekannt habe und bestätigt hätte, dass die GmbH in der C-Straße in D-Stadt, in dem der Zeuge seine eigene Kanzlei gehabt habe, per Post und Telefon zu erreichen gewesen sei und auch ein Firmenschild angebracht gewesen sei (Beweisantrag: Steuerberater G, C-Straße ., . D-Stadt). Auch habe ihre Aufsichtsratsvorsitzende schriftlich bestätigt, dass sich bei Abschluss der Kaufverträge am angegebenen Ort Büroräume der GmbH befunden hätten. Diesen Vortrag habe das FG nicht als verspätet zurückgewiesen und dies hätte auf Grund des Amtsermittlungsgrundsatzes zu weiterer Beweiserhebung veranlassen müssen. Im Übrigen würde das FG mit seiner Auffassung, in der C-Straße in D-Stadt hätten sich Geschäftsräume der GmbH befinden müssen, vom (BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622) abweichen, weil danach ein „Briefkastensitz” mit postalischer Erreichbarkeit der Gesellschaft ausreichen könne.
Das FA tritt der Nichtzulassungsbeschwerde entgegen.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG wird gemäß § 116 Abs. 6 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen. Die Klägerin rügt zu Recht das Vorliegen einer verfahrensfehler-haft zustande gekommenen Überraschungsentscheidung.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung vor, wenn das Gericht in seinem Urteil ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter oder Beteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (sog. Überraschungsentschei-dung; vgl. z.B. Beschluss des erkennenden Senats des , BFH/NV 2007, 1885, m.w.N.). Nach § 76 Abs. 2 FGO hat zudem der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass Formfehler beseitigt, sachdienliche Anträge gestellt, unklare Anträge erläutert, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt und ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. Der richterliche Hinweis nach § 76 Abs. 2 FGO dient in erster Linie der Gewährleistung eines fairen Verfahrens und der Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, ohne dass allerdings die Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten dadurch eingeschränkt oder beseitigt wird. Der Erfolg einer Klage soll nicht an der Unerfahrenheit eines Klägers zumal in Formsachen scheitern. Inhalt und Umfang der aus § 76 Abs. 2 FGO folgenden Hinweispflichten sind von der Sach- und Rechtslage des einzelnen Falles abhängig, von der Mitwirkung der Beteiligten und von deren individuellen Möglichkeiten (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom X B 187/05, BFH/NV 2006, 1507; vom III B 7/03, BFH/NV 2004, 645).
2. Vor diesem prozessualen Hintergrund erweist sich die Vorentscheidung als verfahrensfehlerhaft.
a) Der erkennende Senat lässt dahingestellt, ob die Vorentscheidung schon deswegen unter Verletzung des Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 96 Abs. 2 FGO zustande gekommen ist, weil das FG in der Aufklärungsanordnung vom Nachweise über den „Sitz” der GmbH in D-Stadt, C-Straße angefordert hat und —wie von der Klägerin zu Recht vorgetragen— unter „Sitz” der rechtliche Sitz zu verstehen ist (vgl. z.B. § 11 der Abgabenordnung —AO—; § 1 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes —KStG—; § 3 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung —GmbHG—). Auf die hier entscheidungserhebliche Frage bezogen, hätte das FG von der im Klageverfahren nicht (steuer)rechtskundig vertretenen Klägerin richtigerweise Nachweise zur (seinerzeitigen) „Anschrift” der GmbH (§ 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 in der im Streitjahr geltenden Fassung des Umsatzsteuergesetzes 1993 —UStG—) anfordern müssen.
b) Die Vorentscheidung verletzt den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör, weil die Klägerin mit der Klageabweisung aus dem im Urteil genannten Grund nicht rechnen musste.
Streitgegenstand war der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der GmbH gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG. Das FA hatte ihn mit der Begründung abgelehnt, es lägen zwischen der Klägerin und der GmbH sog. Scheingeschäfte vor. Der Vorsteuerabzug setzte ferner voraus, dass die Klägerin nach §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnungen der GmbH besitzt, also solche, die § 14 Abs. 1 UStG entsprechen. Die in der Rechnung angegebene Anschrift muss im Zeitpunkt der Lieferung bzw. Rechnungsstellung, hier im April bzw. Mai 1997, zutreffend gewesen sein (z.B. , BFHE 181, 197, BStBl II 1996, 620). Unterstellt, die Klägerin war sich trotz der ungenau formulierten Aufklärungsanordnung darüber im Klaren, dass das FG Nachweise zur „Anschrift” der GmbH verlangte, so musste sie jedoch zu keinem Zeitpunkt damit rechnen, dass das FG den Vorsteuerabzug für die im Jahr 1997 ausgestellten Rechnungen deswegen versagt, weil eine Außenprüfung im Jahr 1999 —also ca. zwei Jahre später— bei der angegebenen Adresse kein auf die GmbH hinweisendes Firmenschild vorgefunden hat. Selbst wenn der erkennende Senat zu Lasten der Klägerin ferner unterstellt, dass diese sich noch im Jahr 2006 an den Inhalt des Berichts vom März 1999 erinnert hat bzw. erinnern musste, so gibt der Bericht keinen Anlass anzunehmen, die in den Rechnungen angegebene Anschrift sei bereits im Jahr 1997 unzutreffend gewesen. Auch hat der Bericht insoweit selbst für das Jahr 1999 keine abschließende Feststellung getroffen, sondern noch eine Überprüfung durch eine offizielle Besichtigung des „Geschäftslokals” für erforderlich gehalten.
Die Klageabweisung aus dem im Urteil genannten Grund war auch deswegen überraschend, weil das FA während des gesamten Verfahrens nie bestritten hatte, dass die Anschrift der GmbH im Zeitpunkt der Lieferung bzw. Rechnungsstellung D-Stadt, C-Straße . gewesen sei. Zudem hatte das FA noch mit Schriftsatz vom die Steuerakten der bei ihm erfassten GmbH vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass die GmbH in der C-Straße . in . D-Stadt eine Anschrift hatte, unter der —wie auch von der Klägerin vorgetragen— Bescheide, Mahnungen o.Ä. zumindest im damaligen Zeitraum die GmbH erreichten. Ausweislich der Akten der GmbH („Dauerunterlagen”) kam erstmals ein am abgesandtes Schreiben an das beklagte FA zurück.
c) Auf die Fragen, ob das FG unter Berücksichtigung der Schreiben der Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Klägerin vom 24. April und diese gemäß § 76 Abs. 1 FGO von Amts wegen als Zeugin hätte vernehmen müssen oder zumindest die nicht rechtskundig vertretene Klägerin auf die Stellung eines sachdienlichen Beweisantrags gemäß § 76 Abs. 2 FGO hätte hinweisen müssen, kommt es somit ebenso wenig mehr an wie auf den unter Beweis gestellten Inhalt des Telefongesprächs zwischen dem Vorstand der Klägerin und der Berichterstatterin am .
3. Da die Klägerin in der Beschwerdebegründung zudem u.a. dargelegt hat, dass sie bei rechtzeitiger Gewährung rechtlichen Gehörs die Vernehmung des Steuerberaters der GmbH beantragt hätte (vgl. hierzu z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 119 Rz 11, 14, m.w.N.), kann das Urteil des FG keinen Bestand haben. Der erkennende Senat hält es für sachgerecht, schon in diesem Verfahren das Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zur weiteren Sachaufklärung zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).
Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 1195 Nr. 7
XAAAC-79270