Leitsatz
[1] a) Zur Frage der Bindung des Berufungsgerichts an die Tatsachenfeststellungen (hier: die Beweiswürdigung) des Gerichts der ersten Instanz (Fortführung von , NJW 2004, 2751, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).
b) Im Revisionsverfahren ist nicht zu überprüfen, ob das Berufungsgericht im Falle einer erneuten Tatsachenfeststellung die Voraussetzungen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO beachtet hat (Fortführung von , NJW 2004, 1458).
Gesetze: ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1
Instanzenzug: OLG Oldenburg vom LG Osnabrück
Tatbestand
Die Klägerin belieferte den Beklagten, der eine Gaststätte betreibt, mit Getränken. Sie hat mit ihrer Klage unstreitige Zahlungsrückstände des Beklagten aus Getränkelieferungen in Höhe von 18.847,11 € nebst Zinsen geltend gemacht. Der Beklagte hat in einer die Klageforderung übersteigenden Höhe die Aufrechnung mit mehreren Gegenforderungen erklärt, die er aus einer Vereinbarung herleitet, nach der ihm für jeden abgenommenen Hektoliter Bier eine Rückvergütung habe gutgeschrieben werden sollen. Das Landgericht hat - nach Vernehmung von Zeugen zu der vom Beklagten behaupteten Vereinbarung - die Gegenforderung für begründet erachtet und die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht - nach erneuter Beweisaufnahme - den Bestand der streitigen Aufrechnungsforderung verneint und der Klage bis auf einen Teil der geltend gemachten Zinsforderung stattgegeben. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Gründe
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, es habe zum Bestand der Aufrechnungsforderung eine eigene Sachaufklärung durchgeführt, weil konkrete Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung bestanden hätten. Aufgrund des Ergebnisses der erneuten Beweisaufnahme habe es sich nicht mit der erforderlichen Gewißheit davon zu überzeugen vermocht, daß die Parteien im Jahr 1997 tatsächlich die vom Beklagten behauptete Rückvergütungsvereinbarung getroffen hätten. Zwar habe die als Zeugin erneut vernommene Ehefrau des Beklagten dessen Vortrag bestätigt. Deren Aussage reiche aber nicht aus, um die Rückvergütungsvereinbarung als bewiesen anzusehen. Denn es bestünden aufgrund der Aussage des Zeugen O. und weiterer - unstreitiger - Sachverhaltsumstände durchgreifende Zweifel an der objektiven Richtigkeit der Aussage der Ehefrau des Beklagten. Im folgenden hat das Berufungsgericht die Gründe für das Ergebnis seiner Beweiswürdigung näher ausgeführt.
II.
Ohne Erfolg beanstandet die Revision die Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts. Die Revision ist deshalb zurückzuweisen.
1. Die Revision meint, das Berufungsgericht sei zu einer erneuten Tatsachenfeststellung gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nur berechtigt, wenn die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung auf Rechtsfehlern beruhe, die in der revisionsrechtlichen Rechtsprechung zu § 286 ZPO als Verfahrensmängel anerkannt seien. Da die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung hier nicht verfahrensfehlerhaft gewesen sei, verstoße die davon abweichende Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts gegen § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Dies trifft nicht zu.
Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Aus dieser durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom (BGBl. I S. 1887) eingeführten Bestimmung ist nicht herzuleiten, daß die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung auf Verfahrensfehler und damit auf den Umfang beschränkt wäre, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt. Zwar kommt in § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO eine grundsätzliche Bindung des Berufungsgerichts an die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung zum Ausdruck; eine erneute Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht ist nach der Formulierung der Bestimmung nur als Ausnahme ("soweit nicht ...") vorgesehen. Dies entspricht der Absicht des Gesetzgebers (Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/4722, S. 100). Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich aber, daß die zur Entlastung des Berufungsgerichts vorgesehene - grundsätzliche - Bindung an die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung auf solche Tatsachen beschränkt sein soll, welche die erste Instanz bereits "vollständig und überzeugend" getroffen hat (BT-Drucks. 14/4722, S. 61 ). Denn die Aufgabe der Berufungsinstanz als zweite - wenn auch eingeschränkte - Tatsacheninstanz besteht auch nach der Reform des Zivilprozesses in der Gewinnung einer "fehlerfreien und überzeugenden" und damit "richtigen", das heißt der materiellen Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung des Einzelfalles (BT-Drucks. 14/4722, S. 59 f.; Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 14/6036, S. 118, 124; Senatsurteil vom - VIII ZR 164/03, NJW 2004, 2751 unter II 1 b aa, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt; , WM 2005, 99 = NJW 2005, 291 unter II 2 b cc, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).
Dieser Zielsetzung entsprechend hat der Rechtsausschuß des Bundestages im Gesetzgebungsverfahren darauf hingewiesen, daß die Anforderungen an die Voraussetzungen einer erneuten Tatsachenüberprüfung durch das Berufungsgericht im Interesse einer zutreffenden Tatsachenfeststellung und einer materiell gerechten Entscheidung nicht überspannt werden dürfen (BT-Drucks. 14/6036, S. 118, 124); "vernünftige" Zweifel sollen genügen, um das Berufungsgericht zu neuen Tatsachenfeststellungen zu verpflichten (aaO S. 124). Diese Erwägungen haben zu der Regelung geführt, daß das Berufungsgericht - anders als das Revisionsgericht (§ 559 Abs. 2 ZPO) - an die vorinstanzliche Tatsachenfeststellung bereits dann nicht mehr gebunden ist, wenn "konkrete Anhaltspunkte" Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen (näher zum Gesetzgebungsverfahren: Senatsurteil vom , aaO). Für die Bindung des Berufungsgerichts an die Tatsachenfeststellung des erstinstanzlichen Gerichts genügt es - im Gegensatz zur revisionsrechtlichen Regelung (§ 559 Abs. 2 ZPO) - somit nicht, daß die vorinstanzliche Tatsachenfeststellung keine Verfahrensfehler aufweist; auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen sind für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind (Senatsurteil vom , aaO.; vgl. auch BGHZ 158, 269, 275).
Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben (, NJW 2003, 2524 unter II 1 b; , zitiert nach juris unter II 1 a), insbesondere daraus, daß das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme - wie im vorliegenden Fall - anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz (BVerfG, jeweils aaO unter II 1 b). Wenn sich das Berufungsgericht von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht zu überzeugen vermag, so ist es an die erstinstanzliche Beweiswürdigung, die es aufgrund konkreter Anhaltspunkte nicht für richtig hält, nicht gebunden, sondern zu einer erneuten Tatsachenfeststellung nach der gesetzlichen Neuregelung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet (BVerfG, jeweils aaO unter II 1 b bzw. II 1 a).
2. Die Revision meint darüber hinaus, das Berufungsgericht sei auch deshalb zu einer erneuten Tatsachenfeststellung nicht berechtigt gewesen, weil die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung konkrete Anhaltspunkte dafür, daß die erstinstanzliche Beweiswürdigung unzutreffend gewesen sei, nicht dargelegt habe. Auch damit dringt die Revision nicht durch.
Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO muß die Berufungsbegründung die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte enthalten, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellung in dem angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Durch diese Vorschrift wird der Berufungsführer dazu angehalten, die Gründe genau zu bezeichnen, aus denen er die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung für unrichtig hält; es soll dadurch bloß formelhaften Berufungsbegründungen entgegengewirkt und eine Beschränkung des Prozeßstoffs im Berufungsverfahren erreicht werden (Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 25. Aufl., § 520 Rdnr. 33). Daraus folgt aber nicht, daß eine erneute Tatsachenfeststellung nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO eine darauf bezogene Berufungsrüge voraussetzt und das Berufungsgericht deshalb gehindert wäre, an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung zu zweifeln, wenn entsprechende Darlegungen in der Berufungsbegründung fehlen. Denn das Berufungsgericht ist an die geltend gemachten Berufungsgründe (abgesehen von bestimmten Verfahrensmängeln) nicht gebunden (§ 529 Abs. 2 ZPO). Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen hat es selbst dann nachzugehen, wenn es sie unabhängig vom Parteivortrag aufgrund lediglich gerichtskundiger Tatsachen gewonnen hat (BGHZ 158, 269, 279; vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 100); damit kann und muß das Berufungsgericht erst recht konkrete Anhaltspunkte berücksichtigen, die ihre Grundlage im erstinstanzlichen Vorbringen der Parteien haben, auch wenn sie nicht zum Gegenstand einer Berufungsrüge gemacht worden sind (BGHZ aaO; vgl. auch Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, aaO, § 529 Rdnr. 12). Daraus folgt, daß das Berufungsgericht von Amts wegen den gesamten Prozeßstoff der ersten Instanz - unter Einbeziehung des Ergebnisses einer Beweisaufnahme - auf Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellung zu überprüfen hat.
Im übrigen hatte im vorliegenden Fall die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung - entgegen der Auffassung der Revision - durchaus konkrete Einwände gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts vorgebracht, die Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung begründeten.
3. Weiter rügt die Revision, daß die erneute Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts verfahrensfehlerhaft gewesen sei, weil das Berufungsgericht die Voraussetzungen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO im vorliegenden Fall zu Unrecht bejaht habe; konkrete Anhaltspunkte im Sinne dieser Vorschrift hätten nicht bestanden. Auch damit hat die Revision keinen Erfolg.
Hinsichtlich des Umfangs der revisionsrechtlichen Überprüfung der Voraussetzungen für eine erneute Tatsachenfeststellung in der Berufungsinstanz ist zu differenzieren. Die Revision kann zwar darauf gestützt werden, daß das Berufungsgericht die Voraussetzungen für eine erneute Tatsachenfeststellung nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu Unrecht verneint hat, wenn die angefochtene Entscheidung auf diesem Fehler beruht (vgl. und VI ZR 230/03, jeweils zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, NJW 2004, 2825 und 2828). Für den umgekehrten Fall, in dem das Berufungsgericht die Voraussetzungen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu Unrecht bejaht haben soll, gilt dies dagegen nicht.
§ 529 Abs. 1 ZPO dient der Konzentration der Tatsachenfeststellung in der ersten Instanz (Zöller/Gummer/Heßler, aaO, § 529 Rdnr. 15). Dieser Zweck ist nicht mehr zu erreichen, wenn das Berufungsgericht selbst eine erneute Tatsachenfeststellung durchgeführt (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) oder wenn es neues Vorbringen zugelassen hat (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 531 Abs. 2 ZPO). In diesen Fällen sind die vom Berufungsgericht festgestellten oder berücksichtigten neuen Tatsachen dem weiteren Verfahren unabhängig davon zugrunde zu legen, ob das Berufungsgericht die für die erneute Tatsachenfeststellung oder für die Zulassung neuen Vorbringens geltenden Voraussetzungen beachtet hat (zu letzterem bereits , NJW 2004, 1458; vgl. auch Zöller/Gummer/Heßler, aaO m.w.Nachw.). Denn § 529 ZPO verfolgt nicht den Zweck, vor der Feststellung der materiellen Wahrheit zu schützen (Zöller/Gummer/Heßler, aaO). Für Einschränkungen der Tatsachenfeststellung in der Berufungsinstanz, die zwangsläufig nachteilig für das Bemühen um eine materiell gerechte Entscheidung sind (vgl. BVerfGE 55, 72, 94), gibt es keine Rechtfertigung, wenn das mit der Einschränkung verfolgte prozeßökonomische Ziel nicht mehr zu erreichen ist ( aaO unter II 4 b). Im Revisionsverfahren ist deshalb - nach erneuter Tatsachenfeststellung in der Berufungsinstanz - nicht zu überprüfen, ob das Berufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu Recht angenommen hat. Insoweit gilt nichts anderes als für zugelassenen neuen Tatsachenvortrag, hinsichtlich dessen im Revisionsverfahren ebenfalls nicht zu prüfen ist, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO beachtet hat ( aaO).
4. Vergeblich wendet sich die Revision schließlich auch gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung. Diese ist vom Revisionsgericht aufgrund seiner Bindung an die Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts (§ 559 Abs. 2 ZPO) nach ständiger Rechtsprechung nur eingeschränkt daraufhin zu überprüfen, ob der Tatrichter sich mit dem Prozeßstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, seine Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (vgl. , NJW 1999, 3481, 3482 unter II 2). Derartige Rechtsverstöße vermag die Revision nicht aufzuzeigen. Insbesondere trifft es nicht zu, daß das Berufungsgericht den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags des Beklagten und die Aussagen der Zeugen hierzu nicht hinreichend zur Kenntnis genommen und dadurch die Grundrechte des Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf ein objektiv willkürfreies Verfahren (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt hat. Die ausführliche Beweiswürdigung des Berufungsgerichts stützt sich auf sachlich begründete Erwägungen, die einen Rechtsfehler nicht aufweisen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BB 2005 S. 1077 Nr. 20
WM 2005 S. 1625 Nr. 34
RAAAC-04404
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: ja; BGHR: ja