BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 1610/03

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 1 Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1

Instanzenzug: LG Hamburg 609 Vollz 152/00

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Untätigkeit des Landgerichts Hamburg in einem Verfahren auf dem Gebiet des Strafvollzugs.

I.

Der Beschwerdeführer verbüßt eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt der Freien und Hansestadt Hamburg.

1. Am beantragte der Beschwerdeführer bei der Justizvollzugsanstalt, ihm zur Aufnahme eines Studiums an der Fernuniversität Hagen einen sogenannten Schülerstatus (Genehmigung der Teilnahme an der beruflichen Weiterbildung oder Ausbildung) gemäß § 37 Abs. 3 StVollzG zu gewähren.

Dies lehnte die Justizvollzugsanstalt durch Bescheid vom mit der Begründung ab, dass der Beschwerdeführer für ein solches Studium einen Computerarbeitsplatz nutzen müsse, derzeit jedoch kein solcher Arbeitsplatz frei sei. Außerdem sei die Kostenfrage ungeklärt. Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch des Beschwerdeführers wies die Justizvollzugsanstalt am zurück. Hiergegen stellte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 StVollzG.

Diesen lehnte das als unbegründet ab. Auf die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers nach § 116 StVollzG hob das Hanseatische Oberlandesgericht die Entscheidung des auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück.

2. Am vermerkte die damals zuständige Richterin beim Landgericht, sie sehe sich wegen starker Belastung und anderweitiger Hauptverhandlungstätigkeit nicht in der Lage, in der Sache eine Entscheidung zu treffen. Mit Schreiben vom stellte der Beschwerdeführer Sachstandsanfrage. Am teilte ihm ein Richter, der zwischenzeitlich zuständig geworden war, mit, dass ein abermaliger Wechsel in der Person des Berichterstatters unmittelbar bevorstehe. Dieser Richter schied am aus der Strafvollstreckungskammer aus. Jedenfalls am hatte das Präsidium noch keine Entscheidung über eine Nachfolge getroffen. Mit Schreiben vom mahnte der Beschwerdeführer erneut eine Entscheidung an.

3. Am legte der Beschwerdeführer beim Landgericht Hamburg Untätigkeitsbeschwerde ein. Eine Weiterleitung des Schriftsatzes an das für die Entscheidung zuständige Hanseatische Oberlandesgericht wurde vom Landgericht nicht veranlasst. Mit Schreiben vom stellte der Beschwerdeführer Sachstandsanfrage zum Oberlandesgericht. Auch dieses leitete das Landgericht nicht an das Oberlandesgericht weiter. Am ließ der Beschwerdeführer eine erneute Sachstandsanfrage über den Rechtsantragsdienst des Amtsgerichts Hamburg direkt dem Oberlandesgericht zuleiten. Daraufhin forderte der Vorsitzende des zuständigen Senats des Oberlandesgerichts die Akten am vom Landgericht an. Da eine Übersendung der Akten nicht erfolgte, wiederholte der Vorsitzende am seine Aufforderung. Auch diese blieb ohne Erfolg. Am stellte der Beschwerdeführer erneut Sachstandsanfrage an das Oberlandesgericht. Erst auf die dritte Aufforderung des übersandte das Landgericht die Verfahrensakten, allerdings ohne Stellungnahme. Diese gab der zuständige Richter erst auf erneute Bitte des Senats am ab. Mit Beschluss vom stellte das Oberlandesgericht die Rechtswidrigkeit der Untätigkeit des Landgerichts Hamburg fest.

Ungeachtet dessen traf das Landgericht keine Entscheidung in der Sache.

II.

1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 sowie seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 3 Abs. 1 GG. Er beantragt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Untätigkeit des Landgerichts nach dem aufhebenden . Der Beschwerdeführer macht geltend, das Landgericht habe auch nach dem ihm günstigen willkürlich nicht in der Sache entschieden. Darüber hinaus beanstandet er als Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG, dass es keinen wirksamen Rechtsschutz gegen eine derartige richterliche Untätigkeit durch ein Fachgericht gebe. Das Oberlandesgericht habe weder die Verpflichtung des Landgerichts aussprechen können, in dem Verfahren zu entscheiden noch sei es dem Oberlandesgericht möglich gewesen, das Verfahren an sich zu ziehen und selbst zu entscheiden.

Er fordere deshalb, dass es von Verfassungs wegen ermöglicht werde, das übergeordnete Fachgericht mit Entscheidungsmacht auszustatten, gegen ein willkürlich untätiges Untergericht vorgehen und selbst entscheiden zu können.

2. Auf Anfrage des beim Landgericht Hamburg, ob mittlerweile eine Entscheidung ergangen sei, erfolgte keine Reaktion. Zweimaliger schriftlicher Aktenanforderung des Bundesverfassungsgerichts kam das Landgericht weder nach noch teilte es mit, aus welchen Gründen eine Aktenübersendung nicht möglich war. Erst nach mehrmaliger direkter telefonischer Aufforderung des zuständigen Richters wurden die Verfahrensakten dem Bundesverfassungsgericht zugeleitet. In der Zuleitungsverfügung vom vermerkte der zuständige Richter: "Die Sache ist mir leider außer Kontrolle geraten. Im letzten Jahr waren dann Gespräche zwischen der Justizvollzugsanstalt und dem Beschwerdeführer mit dem Ziel einer außergerichtlichen Einigung der anhängigen Vollzugsverfahren in Gang gekommen, die auch bei etwa 50 Verfahren zum Erfolg geführt haben. Das vorliegende Verfahren gehört, wie die Justizvollzugsanstalt mir nun bestätigte, leider nicht dazu."

3. Der Präses der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg teilte mit, von einer Stellungnahme abzusehen und sich zum allgemeinen Verständnis den Hinweis zu erlauben, dass der Beschwerdeführer allein im Jahr seines gegenständlichen Antrags insgesamt 54 Vollzugsverfahren beim Landgericht Hamburg anhängig gemacht hat.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die Entscheidungskompetenz der Kammer ist gegeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung maßgebenden verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (s. unter B. I.).

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet, soweit sie sich gegen die Untätigkeit des Landgerichts richtet.

1. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt wird (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; 93, 1 <13>). Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; s. auch 93, 1 <13>). Entscheidend sind vor allem die Bedeutung der Sache, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit des Falles und das Verhalten der Beteiligten, insbesondere etwaige den Beteiligten selbst zuzurechnende Verzögerungen, sowie eine gerichtlich nicht zu beeinflussende Verzögerung durch die Tätigkeit von Sachverständigen oder sonstigen Dritten (vgl. BVerfGE 46, 17 <29>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des -, NVwZ 2004, S. 334 <335>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des -, NJW 1999, S. 2582 <2583>; vgl. auch EGMR, Urteil vom , Nr. 47169/99 - Voggenreiter/Deutschland, NJW 2005, S. 41 <43>). Dem Richter steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen er aufgrund eigener Gewichtung solcher Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann (vgl. auch BVerfGE 55, 349 <369>). Inwieweit dabei auch der Umstand, dass ein Kläger die Justiz durch eine Vielzahl von Anträgen in besonderem Maße beansprucht, Zurücksetzungen rechtfertigt, ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Jedenfalls besteht ein diesbezüglicher Gestaltungsspielraum des Richters nicht mehr, wenn ein übergeordnetes Gericht festgestellt hat, dass bereits die bisherige Untätigkeit in dem betreffenden Verfahren rechtswidrig war.

2. Nach diesem Maßstab hat das Landgericht Hamburg den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass auf den hin nicht alsbald eine Entscheidung getroffen wurde, liegen nicht vor. Die Dauer des Verfahrens ist durch Schwierigkeiten innerhalb des Gerichts bedingt. Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortlichkeitsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des - JURIS unter Bezugnahme auf BVerfGE 36, 264 <274 f.>). Der Staat muss alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des -, NVwZ 2004, S. 334 <335>).

II.

Soweit die Verfassungsbeschwerde sich dagegen wendet, dass auch im Falle festgestellter rechtswidriger Untätigkeit eines Gerichts das übergeordnete Gericht nicht die Möglichkeit hat, die festgestellte Rechtsverletzung zu beenden, indem es die Entscheidung an sich zieht, ist sie jedenfalls unbegründet.

Der Beschwerdeführer wendet sich insoweit der Sache nach gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers. Ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers kann jedenfalls dann bestehen, wenn der Beschwerdeführer sich auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen bestimmt (vgl. BVerfGE 56, 54 <70>; Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts - Vorprüfungsausschuss - vom - 1 BvR 920/83 -, NJW 1983, S. 2931 <2932>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des -, NJW 1996, S. 651 <652>).

Die in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte staatliche Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schließt auch Verpflichtungen des Gesetzgebers ein; dieser muss die für einen effektiven Rechtsschutz notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen bereitstellen (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 97, 298 <315>). Die gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems ist damit aber nicht im Einzelnen vorgegeben. Sie muss und kann auch nicht so beschaffen sein, dass jedes Fehlerrisiko ausgeschlossen ist.

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers wird durch die beharrliche Untätigkeit des Landgerichts Hamburg im vorliegenden konkreten Fall nicht belegt, dass bereits die gesetzlichen Rahmenbedingungen den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht entsprechen. Verletzt ein Gericht durch Untätigkeit seine Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes, so bestehen neben der in vielen Fällen eröffneten Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit der Untätigkeit durch ein übergeordnetes Fachgericht feststellen zu lassen, weitere Möglichkeiten, auf ein pflichtgemäßes Verhalten der Justiz hinzuwirken.

Neben der möglichen zivilrechtlichen Haftung eröffnet das Richterdienstrecht entsprechende Wege.

Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

C.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

Fundstelle(n):
NJW 2005 S. 3488 Nr. 48
QAAAB-86736