Instanzenzug:
Gründe
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin zu 1. (Klägerin zu 1.) ist eine KG. Die Klägerin und Beschwerdeführerin zu 2. (Klägerin zu 2.) ist die Witwe des 1981 verstorbenen Kommanditisten WL. Dieser hatte aufgrund einer zwischen den Gesellschaftern geschlossenen Vereinbarung jährlich umsatzabhängige „Lizenzgebühren” von der Klägerin zu 1. bezogen. Sämtliche Forderungen des WL sind in Erfüllung eines Vermächtnisses auf die Klägerin zu 2. übergegangen.
Zwischen der Klägerin zu 2. und der Klägerin zu 1. entstand Streit darüber, ob die Klägerin zu 1. die „Lizenzgebühren” nach dem Tode des WL an sie weiterzahlen müsse. 1985 einigten sich die Parteien vor dem Oberlandesgericht vergleichsweise auf eine Einmalzahlung. Damit sollten sämtliche Ansprüche aus dem Sachverhalt „Lizenzgebührenanspruch” abgegolten sein. Die Klägerin zu 1. bildete wegen des Prozessrisikos eine Rückstellung, die sie nach dem Abschluss des Vergleichs für 1984 entsprechend erhöhte.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—), rechnete der Klägerin zu 2. im Feststellungsbescheid für 1984 eine Sonderbetriebseinnahme in gleicher Höhe zu. Der dagegen gerichteten Klage gab das Finanzgericht (FG) überwiegend statt. Es entschied, die Sonderbetriebseinnahme entfalle nur in Höhe von X DM auf das Jahr 1984. In welcher Höhe sie auf das Jahr 1985 entfalle, müsse offen bleiben, da das Gericht den Feststellungsbescheid für 1985 nicht verbösern dürfe.
Streitig ist, ob das FA den Feststellungsbescheid der Klägerin zu 1. für 1985 zu Recht nach § 174 Abs. 3 oder Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) geändert und den nach dem Urteil des FG nicht auf das Jahr 1984 entfallenden Teilbetrag der Vergleichssumme 1985 erfasst hat.
Dies hat das FG im Ausgangsverfahren bejaht. Das FA sei grundsätzlich befugt gewesen, den Feststellungsbescheid für 1985 nach § 174 AO 1977 zu ändern. Dem stehe die Rechtskraft des ersten Urteils nicht entgegen. Zwar sei der Bescheid bereits im ersten Prozess Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung gewesen. Das Gericht habe sich jedoch wegen des Verböserungsverbots an einer Entscheidung für das Jahr 1985 gehindert gesehen. Es habe somit keine abschließende Entscheidung über die Höhe des laufenden Gewinns für 1985 und dessen Verteilung auf die Gesellschafter getroffen. Das Urteil entfalte insoweit keine Bindungswirkung. Das FA habe auch die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen. Auf die Einwände der Klägerinnen, wonach die Sonderbetriebseinnahme —entgegen dem ersten Urteil— bereits 1984 hätte erfasst werden müssen, komme es nicht an. Entscheidend sei die Sach- und Rechtslage, wie sie sich aufgrund des rechtskräftigen ersten Urteils darstelle. Unter Heranziehung der Entscheidungsgründe des ersten Urteils ergebe sich, dass das FG mit Bindungswirkung auch entschieden habe, dass der nicht auf das Jahr 1984 entfallende Teilbetrag der Vergleichssumme 1985 zu erfassen sei. Darüber könne abweichend nicht mehr entschieden werden.
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Der Senat lässt offen, ob die Vorentscheidung —im Hinblick auf die zu Recht als widersprüchlich gerügten tragenden Erwägungen zur Bindungswirkung des im ersten Verfahren ergangenen Urteils— an einem so schweren rechtlichen Fehler leidet, dass dieser Umstand bereits für sich geeignet wäre, die Zulassung der Revision zu rechtfertigen. Wegen eines schwerwiegenden rechtlichen Fehlers ist die Revision nach zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zumindest dann zuzulassen, wenn das Urteil objektiv willkürlich erscheint (vgl. hierzu BFH-Beschlüsse vom IV B 85/02, BFHE 203, 404, BStBl II 2004, 25; vom X B 68/03, BFH/NV 2004, 1112; vom VII B 110/03, BFH/NV 2004, 1310; vom XI B 193/03, BFH/NV 2005, 1098; vom II B 27/04, BFH/NV 2005, 913; vom VIII B 191/03, BFH/NV 2005, 1318).
2. Im Streitfall kommt hinzu, dass es das FG unter Hinweis auf die Rechtskraft der ersten Entscheidung zu Unrecht abgelehnt hat, sich mit den materiellen Einwendungen der Klägerinnen gegen die Richtigkeit des geänderten Feststellungsbescheids für 1985 zu befassen. Die erste Entscheidung des FG entfaltet insoweit keine Bindungswirkung. Das FG hat deshalb unter Verstoß gegen § 110 FGO sein Entscheidungsprogramm unzutreffend bestimmt. Hält sich ein Gericht zu Unrecht an die Rechtskraft einer früheren Entscheidung gebunden und unterlässt es deshalb insoweit eine eigene Sachprüfung, liegt darin ein wesentlicher Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (vgl. , BSGE 8, 284; , BGHZ 27, 249; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 80; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Rz. 241; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Tz. 99). Der Verfahrensmangel ist auch schlüssig gerügt worden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).
a) Das FG hat im ersten Verfahren nicht darüber entschieden, ob und in welcher Höhe ein Teilbetrag der Vergleichszahlung auf das Jahr 1985 entfällt. Das ergibt die Auslegung des Urteils aus dem ersten Verfahren.
aa) Allerdings hat das FG die Klage, soweit sie sich auch gegen den Feststellungsbescheid für 1985 richtete, nach dem Tenor des Urteils als unbegründet abgewiesen, obwohl die dortige Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung für das Streitjahr 1985 ausdrücklich keinen Antrag gestellt hatte. Es kann dahinstehen, ob die Klage insoweit unzulässig war. Zwar hätte das FG ein Sachurteil dann nicht erlassen dürfen. Für den Umfang der materiellen Rechtskraft kommt es jedoch nur darauf an, worüber das Gericht tatsächlich entschieden hat. Das gilt auch dann, wenn das Gericht seine Entscheidungskompetenz überschreitet (vgl. , Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1999, 287; Lange in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, a.a.O., § 110 FGO Rz. 55 a.E.).
bb) Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich aber, dass es das FG abgelehnt hat, eine Entscheidung für das Streitjahr 1985 zu treffen.
Das FG hat im ersten Urteil entschieden, dass es sich bei der im Mai 1985 vereinbarten Vergleichszahlung in voller Höhe um eine Sondervergütung handelt. Es hat ferner entschieden, dass die Sondervergütung nicht im Jahr ihres Zuflusses, sondern in den Jahren zu versteuern ist, auf die sie entfällt. Es hat dazu ausgeführt, die Sondervergütung entfalle auf die Jahre 1981 bis 1985. Sie entfalle in Höhe von jeweils Y DM auf die Jahre 1981 und 1982 und in Höhe von jeweils X DM auf die Jahre 1983 und 1984. Die Jahre 1981 und 1982 waren allerdings nicht im Streit.
Für 1985 hat das FG eine Änderung des Feststellungsbescheids zu Lasten der Klägerin zu 1. unter Hinweis auf das Verböserungsverbot abgelehnt. Es hat dazu ausdrücklich klargestellt: „Auf die Höhe des Betrages für das Jahr 1985 braucht nicht näher eingegangen zu werden, weil dies nicht entscheidungserheblich ist”. Daraus ergibt sich, dass das FG darüber, ob und ggf. in welcher Höhe ein Teilbetrag der Vergleichssumme auf das Jahr 1985 entfällt, tatsächlich keine Entscheidung getroffen hat. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob das FG zu Recht davon abgesehen hat, den Feststellungsbescheid für 1985 zu Lasten der Klägerin zu 1. zu ändern.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus einer Gesamtbetrachtung der Erwägungen des Gerichts, wonach die Vergleichssumme insgesamt auf die Jahre 1981 bis 1985 zu verteilen sei und dass Teilbeträge von insgesamt (2 Y + 2 X) DM auf die Jahre 1981 bis 1984 entfielen. Daraus lässt sich zwar folgern, dass nach der Auffassung des FG der restliche Teilbetrag auf das Jahr 1985 entfallen sollte. Diese Auffassung nimmt jedoch nicht an der Rechtskraft des Urteils teil.
b) Unabhängig davon, ob das FG bei dieser Sachlage den Feststellungsbescheid für 1985 im ersten Urteil „modifiziert” hat (vgl. , BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867), war das FA im Streitfall —mangels entgegenstehender Rechtskraft— jedenfalls befugt, in einem Folgebescheid gemäß § 174 Abs. 4 AO 1977 erneut darüber zu entscheiden, ob und ggf. in welcher Höhe ein Teilbetrag der Vergleichssumme auf das Jahr 1985 entfiel (vgl. , BFHE 192, 207, BStBl II 2001, 89, mit Anm. Kempermann, Deutsches Steuerrecht 2000, 1826). Von einer —ggf. nur angemaßten— Entscheidungskompetenz hatte das FG im Streitfall trotz Abweisung der Klage als unbegründet jedenfalls keinen Gebrauch gemacht. Insoweit ist der Ausgangsentscheidung beizutreten.
c) Aus der ursprünglich irrigen Beurteilung des Sachverhalts durfte das FA gemäß § 174 Abs. 4 AO 1977 aber nur die materiell richtigen Folgerungen ziehen. An die Rechtsauffassung des FG war es nicht gebunden (vgl. , BFHE 173, 285, BStBl II 1994, 385). Das FA durfte und musste die streitigen Fragen also für das Streitjahr 1985 erneut prüfen und entscheiden.
Ohne Erfolg beruft sich das FA demgegenüber auf den Gesichtspunkt der Teilbestandskraft. Teilbestandskraft kann nur eintreten, wenn ein Feststellungsbescheid hinsichtlich isoliert anfechtbarer Besteuerungsgrundlagen nicht angegriffen worden ist. Davon kann im Streitfall keine Rede sein.
3. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor. Der Senat macht von der Zurückverweisung gemäß § 116 Abs. 6 FGO Gebrauch, um dem FG die Möglichkeit zu geben, die Einwände der Klägerinnen zu prüfen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 87 Nr. 1
XAAAB-70226