Änderung eines Steuerbescheids nach § 174 Abs. 4 AO trotz Festsetzungsverjährung
Gesetze: AO § 174 Abs. 4
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betrieb ein Reisebüro als Einzelunternehmerin, das sie Ende 1988 aufgab. Mit der Fluggesellschaft X hatte sie einen Agenturvertrag für Arbeitnehmer-Charterflüge abgeschlossen, den die Fluggesellschaft im Herbst 1988 kündigte. Der noch im Jahr 1988 wegen dieser Kündigung begonnene Zivilrechtsstreit endete nach Rücknahme der Revision durch die Fluggesellschaft im Jahr 1996. Dadurch wurde das Urteil des Oberlandesgerichts A, durch das die Fluggesellschaft zur Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von 142 000 DM nebst 10 % Zinsen verurteilt wurde, rechtskräftig.
In ihrer am beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) eingereichten Steuererklärung für das Jahr 1996 erklärte die Klägerin einen Gewinn aus Gewerbebetrieb in Höhe von 153 448,27 DM, den sie wie folgt ermittelt hatte:
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Entschädigung Fluggesellschaft | 142 000,00 DM |
zuzügl. Zinsen hierzu | 73 023,01 DM |
abzügl. Aufrechnungsforderung | 10 056,02 DM |
abzügl. Prozessführungskosten | 52 586,12 DM |
zuzügl. Erstattungsanspruch | 1 067,40 DM |
Saldo | 153 448,27 DM |
Das FA erließ unter dem einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des Gewinns für 1996, den die Klägerin nach eigenen Angaben nicht erhalten hat. Daraufhin erließ das FA mit Datum vom erneut einen Feststellungsbescheid für 1996, der jedoch an die Anschrift des Nebenwohnsitzes des Ehemannes der Klägerin adressiert worden war und den die Klägerin nach ihren Angaben ebenfalls nicht erhalten hat (Zustellung durch Niederlegung). Schließlich erließ das FA unter dem einen weiteren Feststellungsbescheid für 1996, dem es einen Gewinn in Höhe von 153 448 DM zugrunde legte. In diesem Bescheid, der dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin förmlich zugestellt worden ist, war die Entschädigungszahlung der Fluggesellschaft erklärungsgemäß erfasst.
Gegen den Bescheid vom legte die Klägerin Einspruch ein, den sie damit begründete, dass die Entschädigung nach § 34 Abs. 2 und 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als begünstigter sonstiger Gewinn einzustufen sei. Mit Schreiben vom teilte das FA der Klägerin unter Hinweis auf die Entscheidung des (BFHE 174, 140, BStBl II 1994, 564) mit, dass die ausgeurteilte Entschädigung im Jahr 1988 und die ausgeurteilten Zinsen im Jahr des Zuflusses, also in 1996, zu berücksichtigen seien.
Mit Datum vom erging für das Jahr 1996 ein geänderter Gewinnfeststellungsbescheid über 55 136 DM. Hierzu korrespondierend erließ das FA zeitgleich einen geänderten Bescheid über die gesonderte Feststellung des Gewinns für das Jahr 1988. Eine Rechtsgrundlage für diese Änderung war zunächst nicht angegeben worden. Hierbei legte das FA den mit ursprünglichem Gewinnfeststellungsbescheid für 1988 vom festgestellten Verlust von 128 162 DM sowie die Entschädigungszahlung von 142 000 DM zugrunde und ermittelte so einen Gewinn in Höhe von 13 838 DM. Gleichzeitig stellte das FA fest, dass es sich bei der Entschädigung in Höhe von 142 000 DM um einen Veräußerungsgewinn handele.
Im Einspruchsverfahren teilte das FA der Klägerin mit, die Änderung des Feststellungsbescheids für 1988 sei nach § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO 1977) erfolgt, da aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts (zutreffendes Jahr der Erfassung der Schadensersatzzahlung) ein „Steuerbescheid” ergangen sei (Feststellungsbescheid für 1996), der aufgrund eines Rechtsbehelfs zu Gunsten der Klägerin geändert worden sei. Der Ablauf der Feststellungsfrist sei unbeachtlich, da die steuerlichen Folgen innerhalb eines Jahres nach Änderung des fehlerhaften Bescheids gezogen worden seien.
Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage mit in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 86 veröffentlichtem Urteil statt. Die Änderung des Feststellungsbescheids 1988 durch den Bescheid vom habe nicht auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 gestützt werden können; dem stehe der Eintritt der Feststellungsverjährung entgegen.
Mit der Revision rügt das FA einen Verstoß des FG gegen materielles Recht.
Das FA beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Sachantrag gestellt.
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Das FA konnte den angefochtenen Gewinnfeststellungsbescheid für 1988 vom auf § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 stützen.
Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO 1977 können dann, wenn aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert worden ist, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Nach Satz 3 ist der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden. War die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen, als der später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid erlassen wurde, gilt dies nur, wenn der Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt wurde, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei und sich diese Annahme als unrichtig herausstellte (§ 174 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 174 Abs. 3 Satz 1 AO 1977).
Diese Regelungen gelten gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 für Feststellungsbescheide entsprechend.
§ 174 Abs. 4 AO 1977 eröffnet u.a. die Möglichkeit, Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt, die zunächst nicht im „richtigen” Bescheid, sondern in einem anderen Verfahren gezogen worden sind, durch Erlass eines richtigen Bescheids nachzuholen (, BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867, m.w.N.). § 174 Abs. 4 AO 1977 erfasst somit auch die Fälle, in denen die Finanzbehörde darüber irrt, in welchem Jahr die steuerrechtlichen Folgerungen aus einem bestimmten Sachverhalt zu ziehen sind. Irrig ist die Beurteilung eines Sachverhalts, wenn sie sich nachträglich als unrichtig erweist (vgl. BFH-Beschlüsse vom I R 150/94, BFHE 180, 8, BStBl II 1996, 417; vom VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Ob der Fehler im tatsächlichen oder rechtlichen Bereich anzusiedeln ist, ist unerheblich (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 174 AO 1977 Anm. 39).
2. Nach den für den erkennenden Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) waren am die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO 1977 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 für die Änderung des Gewinnfeststellungsbescheids für das Jahr 1988 erfüllt.
a) Das FA hatte die Schadensersatzleistung im Gewinnfeststellungsbescheid für das Jahr 1996 vom berücksichtigt. Diesem Bescheid lag die Rechtsauffassung zugrunde, nicht nur die ausgeurteilten Zinsen, sondern auch die Entschädigung sei im Jahr des Zuflusses zu berücksichtigen. Auf den Einspruch der Klägerin hat das FA erkannt, dass die Schadensersatzforderung bereits im Streitjahr 1988 zu erfassen ist (BFH-Urteil in BFHE 174, 140, BStBl II 1994, 564). Es hat am den Gewinnfeststellungsbescheid vom geändert und im Bescheid für 1988 vom die sich aus dem Sachverhalt ergebenden richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen.
Der Änderung des Gewinnfeststellungsbescheids 1988 nach § 174 Abs. 4 AO 1977 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 steht nicht entgegen, dass die Klägerin mit ihrem Einspruch lediglich die Anwendung des begünstigten Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 2 und 3 EStG auf die Entschädigungszahlung (im Jahr 1996) erstrebt hat. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH genügt, dass die vom FA auf den Einspruch der Klägerin hin vorgenommene Richtigstellung (hier: Erfassung der streitigen Entschädigung nicht im Veranlagungszeitraum 1996, sondern im Jahr 1988) letztlich auf den Einspruch der Klägerin zurückzuführen ist, also nicht (allein) auf der Initiative des FA beruhte (vgl. z.B. BFH-Entscheidungen vom V B 148/87, BFH/NV 1990, 341; vom IV R 25/88, BFHE 159, 37, BStBl II 1990, 373; vom IV R 17/02, BFH/NV 2005, 1444).
b) Der Änderung des Gewinnfeststellungsbescheids für 1988 nach § 174 Abs. 4 AO 1977 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 stand auch nicht der Ablauf der Feststellungsfrist entgegen.
Der Feststellungsbescheid für das Jahr 1988 wurde innerhalb eines Jahres nach Änderung des Feststellungsbescheids für 1996 geändert. Beide Bescheide datieren vom . § 174 Abs. 4 Satz 4 AO 1977 greift entgegen der Auffassung des FG nicht ein. Die Feststellungsfrist für den Gewinnfeststellungsbescheid 1988 war am , dem Zeitpunkt, in dem der später geänderte Feststellungsbescheid für 1996 erlassen wurde, noch nicht abgelaufen. Im Jahr 2000 hätte der Feststellungsbescheid für 1988 nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 geändert werden können. Die Feststellungsfrist bezüglich des Veranlagungszeitraums 1988 begann nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis (hier: die Entschädigungsleistung durch die Fluggesellschaft) eingetreten ist. Die Feststellungsfrist begann daher mit Ablauf des Jahres 1996 zu laufen. Feststellungsverjährung trat für den Feststellungsbescheid 1988 mit Ablauf des Jahres 2000 und damit nach Erlass des Feststellungsbescheids für 1996 vom ein. Dass das FA im Streitfall den Feststellungsbescheid für 1988 am nicht mehr nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977, sondern nur nach § 174 Abs. 4 AO 1977 ändern konnte, ändert hieran nichts. Entscheidend ist allein, dass im Zeitpunkt des Erlasses des Gewinnfeststellungsbescheids für 1996 am die Feststellungsfrist für den Gewinnfeststellungsbescheid für 1988 noch nicht abgelaufen war.
Dieses Ergebnis folgt nicht nur aus dem eindeutigen Wortlaut des § 174 Abs. 4 Satz 4 AO 1977, sondern auch aus dem Sinn und Zweck der Änderungsnorm. § 174 Abs. 4 AO 1977 soll sicherstellen, dass die Finanzbehörde die richtige Entscheidung später so durchsetzen kann, wie dies im Zeitpunkt der fehlerhaften Entscheidung möglich gewesen wäre (vgl. Frotscher in Schwarz, Abgabenordnung, § 174 Rz. 74). Dagegen soll die Regelung der Finanzverwaltung später keine Änderungsmöglichkeit eröffnen, die sie schon im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen und später geänderten oder aufgehobenen Verwaltungsakts wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist bzw. Feststellungsfrist nicht gehabt hätte (Frotscher in Schwarz, a.a.O.).
3. Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist und sich seine Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend darstellt (§ 126 Abs. 4 FGO), war diese aufzuheben. Die nicht spruchreife Sache wird an die Vorinstanz zurückverwiesen. Das FG hat —aus seiner Sicht zu Recht— keine ausreichenden Feststellungen zur Höhe der im Gewinnfeststellungsbescheid für das Jahr 1988 zu berücksichtigenden Betriebsaufgabekosten getroffen. Für die noch durchzuführende Sachaufklärung und die rechtliche Beurteilung weist der Senat auf Folgendes hin:
Das FG wird zu prüfen haben, in welcher Höhe die im Jahr 1996 entstandenen Prozesskosten und etwaigen weiteren Betriebsausgaben durch die Entschädigungszahlung als solche in Höhe von 142 000 DM und nicht durch die zu nachträglichen Betriebseinnahmen führenden Zinsen auf diese Entschädigung veranlasst sind. Die durch diese Entschädigungszahlung veranlassten Prozesskosten und etwaigen sonstigen Betriebsausgaben wird es als Betriebsaufgabekosten im Gewinnfeststellungsbescheid für das Jahr 1988 zu berücksichtigen haben. Das FA kann ggf. den Gewinnfeststellungsbescheid für das Jahr 1996 nach § 174 Abs. 4 AO 1977 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ändern.
Soweit Aufwendungen der Jahre 1989 bis 1995 durch die ausgeurteilte Entschädigungsleistung veranlasst sind, dürfte einer weiteren Änderung des Gewinnfeststellungsbescheids 1988 auf der Grundlage des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 der Eintritt der Feststellungsverjährung entgegenstehen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1751 Nr. 10
HFR 2005 S. 1049 Nr. 11
DAAAB-58606