Grundsatz der steuerlichen Neutralität: Anwendungsbereich des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems schließt illegale Dienstleistungen ein (Vermietung von Plätzen für den Verkauf von Betäubungsmitteln)
Leitsatz
[1] 1 Grundsätzlich finden die Gesetze zur Änderung einer gesetzlichen Bestimmung, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts Anwendung, der unter der Geltung des alten Rechts entstanden ist. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes gehört zwar zu den Grundprinzipien der Gemeinschaft, darf jedoch nicht soweit ausgedehnt werden, daß er die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Folgen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der früheren Regelung entstanden ist, schlechthin ausschließt.
2 Aus der Gegenüberstellung der Bestimmungen des Artikels 10 Absätze 2 und 3 der Richtlinie 93/98 zur Harmonisierung der Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter Schutzrechte folgt, daß die Richtlinie die Möglichkeit eines Wiederauflebens der Rechte, die nach den vor Umsetzung der Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften erloschen waren, unbeschadet der vor diesem Zeitpunkt abgeschlossenen Verwertungshandlungen vorgesehen, es dabei aber den Mitgliedstaaten überlassen hat, Maßnahmen zum Schutz der erworbenen Rechte Dritter zu erlassen. Die Mitgliedstaaten sind zum Erlaß solcher Maßnahmen zwar verpflichtet, deren Ausgestaltung liegt aber in ihrem Ermessen, sofern dadurch die Anwendung der neuen Schutzfristen zu dem in der Richtlinie vorgesehenen Zeitpunkt nicht generell verhindert wird.
Artikel 10 Absatz 3 dieser Richtlinie steht somit einer nationalen Vorschrift nicht entgegen, die für einen begrenzten Zeitraum die Verbreitung von Tonträgern durch Personen gestattet, die diese Tonträger vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vervielfältigen und in den Verkehr bringen konnten, weil die Rechte daran unter der Geltung des früheren Rechts erloschen waren. Zum einen genügen solche Rechtsvorschriften der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zum Schutz erworbener Rechte Dritter zu erlassen, und zum anderen entsprechen solche Rechtsvorschriften durch die Beschränkung des Schutzes der erworbenen Rechte Dritter bezüglich der Verbreitung von Tonträgern dem Erfordernis der Begrenzung einer derartigen Vorschrift, die nur vorübergehend gelten kann, damit nicht das Hauptziel der Richtlinie, die Anwendung der neuen Schutzdauer des Urheberrechts und verwandter Rechte zu dem in der Richtlinie vorgesehenen Zeitpunkt, verhindert wird.
Artikel 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist so auszulegen, daß die Vermietung eines mit Zustimmung des Erbringers der Dienstleistung für den Verkauf von Betäubungsmitteln benutzten Platzes in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.
Denn diese Vermietung stellt grundsätzlich eine wirtschaftliche Betätigung dar, und der Umstand, daß die an dem vermieteten Platz durchgeführten Tätigkeiten strafbar sein können, was die Vermietung rechtswidrig machen kann, ändert nichts am wirtschaftlichen Charakter dieser Vermietung und hindert nicht das Vorhandensein eines Wettbewerbs in diesem Sektor, und zwar auch nicht eines solchen zwischen legalen und illegalen Tätigkeiten, so daß der Grundsatz der steuerlichen Neutralität des Mehrwertsteuersystems verletzt würde, wenn die Vermietung nicht steuerbar wäre.
Gesetze: Richtlinie 93/98 Art. 10 Abs. 2; Richtlinie 93/98 Art. 10 Abs. 3; Richtlinie 77/388 Art. 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der Auslegung von Artikel 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit der Coffeeshop "Siberië" vof (im folgenden: Klägerin) gegen die niederländische Steuerverwaltung, bei dem es um einen Umsatzsteuernacherhebungsbescheid für die Jahre 1990 bis 1993 geht.
3 Artikel 2 der Sechsten Richtlinie lautet:
"Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
2. die Einfuhr von Gegenständen."
4 Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie lautet:
"Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis."
5 Die Klägerin betreibt in Amsterdam einen "Coffeeshop", d. h. ein Lokal, in dem weiche Drogen verkauft und konsumiert werden. In dem von dem Nacherhebungsbescheid erfassten Zeitraum stellte sie in ihrem Lokal einem Dritten (im folgenden: Hausdealer) einen Tisch zur Verfügung, an dem dieser jedem Interessierten Cannabisprodukte verkaufte. Die Klägerin hatte von dieser Tätigkeit Kenntnis.
6 Die finanzielle Gegenleistung des Hausdealers für die Zurverfügungstellung des Tisches ist in den Geschäftsbüchern der Klägerin unter der Bezeichnung "tafelhuur" (Tischmiete) verbucht.
7 Nachdem die Klägerin auf diese Miete keine Mehrwertsteuer entrichtet hatte, übersandte die Steuerverwaltung ihr gemäß der Wet op de omzetbelasting 1968 (Mehrwertsteuergesetz 1968) einen Nacherhebungsbescheid für die Zeit vom bis zum 31. Dezember 1993.
8 Auf den Einspruch der Klägerin gegen den Bescheid der Steuerverwaltung entschied der Gerechtshof Amsterdam, daß die Vermietung des Tisches an den Hausdealer eine strafbare Beteiligung am Delikt des Handels mit weichen Drogen darstelle und daher nicht der Mehrwertsteuer unterliege. Der Umstand, daß diese Straftat in den Niederlanden nicht systematisch verfolgt werde, könne diese Beurteilung nicht ändern, die im übrigen dem Urteil vom in der Rechtssache 289/86 (Happy Family, Slg. 1988, 3655) entspreche, in dem der Gerichtshof für Recht erkannt habe, daß die Lieferung von Betäubungsmitteln nicht der Mehrwertsteuer unterliege, da diese Erzeugnisse insoweit besondere Merkmale aufwiesen, als sie schon nach ihrem Wesen in allen Mitgliedstaaten einem vollständigen Verkehrsverbot unterlägen.
9 Die niederländische Steuerverwaltung legte gegen das Urteil des Gerechtshof Kassationsbeschwerde ein; zur Begründung machte sie im Kern geltend, die Zurverfügungstellung eines Platzes für den Verkauf weicher Drogen unterliege weder nach niederländischem Recht noch nach einer internationalen Regelung einem absoluten gesetzlichen Verbot und müsse von der eigentlichen Lieferung von Drogen unterschieden werden. Die Entscheidung des Gerichtshofes im Urteil Happy Family sei daher auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
10 Der mit dem Rechtsmittel befasste Hoge Raad wirft die Frage nach der Übertragbarkeit des Urteils Happy Family auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles auf. Die Verschaffung einer Möglichkeit zum Inverkehrbringen von Drogen werde vom niederländischen Strafrecht als Beteiligung erfasst, was im übrigen mit dem am in New York unterzeichneten und von allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ratifizierten Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe im Einklang stehe.
11 Diese strafrechtliche Einstufung verhindere jedoch nicht, daß die Zurverfügungstellung einer Verkaufsstätte als solche eine Dienstleistung im Sinne der gemeinschaftlichen Mehrwertsteuerregelung darstelle und daher in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie nach Artikel 2 falle.
12 Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tätigkeit eine Dienstleistung im Sinne der Mehrwertsteuerregelung darstelle, sei fraglich, ob das Urteil Happy Family auch auf die Zurverfügungstellung einer Verkaufsstätte für Cannabiserzeugnisse übertragbar sei, so daß eine Besteuerung ausgeschlossen wäre. Bei Bejahung dieser Frage würde der Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie erheblich eingeschränkt, zumal sich im übrigen in bestimmten Mitgliedstaaten seit dem Urteil Happy Family die Auffassungen zur Rechtswidrigkeit des Inverkehrbringens weicher Drogen in eine liberalere Richtung entwickelt hätten, so daß sich die Frage stelle, ob diese Rechtsprechung aufrechterhalten werden könne.
13 Daher hat der Hoge Raad das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Artikel 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, daß derjenige, der gegen Vergütung einem anderen Gelegenheit zum Handel mit Cannabisprodukten bietet, nicht umsatzsteuerpflichtig ist?
14 Vorab ist darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Grundsatz der steuerlichen Neutralität bei der Erhebung der Mehrwertsteuer tatsächlich eine allgemeine Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Geschäften verbietet. Dies gilt jedoch nicht für die Lieferung von Erzeugnissen wie Betäubungsmitteln, die insoweit besondere Merkmale aufweisen, als sie - mit Ausnahme eines streng überwachten Vertriebes zur Verwendung für medizinische und wissenschaftliche Zwecke - schon nach ihrem Wesen in allen Mitgliedstaaten einem vollständigen Verkehrsverbot unterliegen. In einer derartigen besonderen Situation, in der zwischen einem legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor jeder Wettbewerb ausgeschlossen ist, kann der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht berührt sein, wenn der fragliche Vorgang nicht steuerbar ist (vgl. insbesondere Urteile Happy Family, Randnr. 20, und vom in der Rechtssache 269/86, Mol, Slg. 1988, 3627, Randnr. 18).
15 Nach Ansicht der Klägerin sind diese Urteile auf das Ausgangsverfahren in vollem Umfang übertragbar, so daß die Miete für die Zurverfügungstellung des Tisches nicht mit Mehrwertsteuer belegt werden könne. Werde einem Hausdealer ein Tisch zur Verfügung gestellt und würden die Gäste des Cafés davon unterrichtet, so sei dies als vorsätzliche Beteiligung am Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln zu betrachten und stelle zweifellos eine Straftat dar, die ebenso behandelt werden müsse wie die eigentliche Lieferung von Betäubungsmitteln.
16 Nach Ansicht der niederländischen Regierung und der Kommission muß die in Rede stehende Tätigkeit der Mehrwertsteuer unterliegen. Es sei nämlich zwischen der eigentlichen Lieferung von Drogen und den Handlungen im Zusammenhang mit dieser Lieferung zu unterscheiden. So sei die Vermietung eine Handlung, die als solche und für sich genommen nicht verboten sei. Es gebe auch einen legalen Markt, der im Wettbewerb mit einem illegalen Markt stehe. Daher unterliege eine solche Leistung der Mehrwertsteuer, wie der Gerichtshof im Zusammenhang mit der nichtgenehmigten Ausfuhr von Computersystemen (Urteil vom in der Rechtssache C-111/92, Lange, Slg. 1993, I-4677), der Lieferung von nachgeahmten Parfümeriewaren (Urteil vom in der Rechtssache C-3/97, Goodwin und Unstead, Slg. 1998, I-3257) und der Veranstaltung unerlaubter Glücksspiele (Urteil vom in der Rechtssache C-283/95, Fischer, Slg. 1998, I-3369) mit der Begründung entschieden habe, daß es sich nicht um Waren oder Dienstleistungen handle, die vom regulären Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen seien oder die sich in einer Situation befänden, in der jeder Wettbewerb zwischen einem legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor ausgeschlossen sei.
17 Falls der Gerichtshof die in Rede stehende Tätigkeit dennoch der gleichen Regelung unterwerfen wolle wie die eigentliche Lieferung von Betäubungsmitteln, müsse die erhebliche Fortentwicklung der Haltung der niederländischen Behörden gegenüber dem Gebrauch weicher Drogen in den letzten Jahren berücksichtigt werden. Zwar sei der Verkauf weicher Drogen in Coffeeshops nach niederländischem Strafrecht immer noch eine Straftat, doch sehe eine "Richtlinie" des Kollegiums der niederländischen Staatsanwälte die Möglichkeit vor, diese Tätigkeit in Coffeeshops, die bestimmte Voraussetzungen erfüllten, zu dulden, wenn es eine entsprechende örtliche Abstimmung zwischen der Gemeindeverwaltung, der Polizei und der Staatsanwaltschaft gebe. Daher bestehe kein vollständiges Verbot des Inverkehrbringens weicher Drogen mehr, das eine Ausnahme vom Grundsatz der steuerlichen Neutralität rechtfertigen könnte.
18 Ferner macht die Kommission geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes müsse für die Anwendung des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems eine wirtschaftliche Betätigung an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität beurteilt werden (Urteile vom in der Rechtssache 235/85, Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 1471, Randnr. 8, und vom in der Rechtssache C-260/95, DFDS, Slg. 1997, I-1005, Randnr. 23).
19 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die im vorliegenden Fall möglicherweise steuerbare Tätigkeit nicht der Verkauf von Betäubungsmitteln, sondern eine Dienstleistung ist, die in der Zurverfügungstellung eines Platzes besteht, an dem der Verkauf solcher Erzeugnisse mit dem Einverständnis des Erbringers der Dienstleistung betrieben wird. Die im Urteil Happy Family angestellten Erwägungen sind somit nicht unmittelbar auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache übertragbar.
20 Daher ist zu prüfen, ob eine Erstreckung dieser Erwägungen auf Tätigkeiten, die in irgendeiner Weise mit dem Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln im Zusammenhang stehen, geboten ist.
21 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes verbietet, wie in Randnummer 14 ausgeführt worden ist, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität bei der Erhebung der Mehrwertsteuer eine allgemeine Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Geschäften. Somit führt die Einstufung eines Verhaltens als strafbar nicht ohne weiteres dazu, daß der fragliche Vorgang nicht steuerbar ist; vielmehr ist dies nur in spezifischen Situationen der Fall, in denen wegen der besonderen Eigenschaften bestimmter Waren oder bestimmter Dienstleistungen jeder Wettbewerb zwischen einem legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor ausgeschlossen ist.
22 Im vorliegenden Fall liegt jedoch keine solche besondere Situation vor, denn die Vermietung eines Platzes zur Durchführung gewerblicher Tätigkeiten stellt grundsätzlich eine wirtschaftliche Betätigung dar und fällt somit in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie. Der Umstand, daß die an dem vermieteten Platz durchgeführten Tätigkeiten strafbar sein können, was die Vermietung rechtswidrig machen kann, ändert nichts am wirtschaftlichen Charakter dieser Vermietung und hindert nicht das Vorhandensein eines Wettbewerbs in diesem Sektor, und zwar auch nicht eines solchen zwischen legalen und illegalen Tätigkeiten. Daraus ergibt sich, daß der Grundsatz der steuerlichen Neutralität des Mehrwertsteuersystems verletzt würde, wenn die Vermietung nicht steuerbar wäre.
23 Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß Artikel 2 der Sechsten Richtlinie so auszulegen ist, daß die Vermietung eines für den Verkauf von Betäubungsmitteln benutzten Platzes unter Voraussetzungen, wie sie im Ausgangsverfahren vorliegen, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.
Kostenentscheidung:
Kosten
24 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
RAAAB-72600
1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg