BSG Beschluss v. - B 9 V 2/22 B

(Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Impfschadensrecht - Kann-Versorgung nach § 61 S 2 IfSG - weiterhin bestehende Ungewissheit über die Ursache in der medizinischen Wissenschaft - voranschreitender wissenschaftlicher Diskurs - zwischenzeitlich gebildete allgemeine Überzeugung - Darlegungsanforderungen)

Gesetze: § 61 S 2 IfSG, § 2 VersMedV, Anlage Teil C Nr 4 VersMedV, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG

Instanzenzug: Az: S 9 VJ 1/08 Urteilvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 15 VJ 4/13 Urteil

Gründe

1I. In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit hat das einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenversorgung wegen gesundheitlicher Schädigung infolge dreier in den Jahren 2004 und 2005 erfolgter Impfungen gegen Hepatitis A und Hepatitis B mit dem Impfstoff "Twinrix" verneint.

2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt und mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet.

3II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung genügt nicht der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form. Die Klägerin hat den von ihr ausschließlich geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht in der danach vorgeschriebenen Weise dargelegt.

4Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sogenannte Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB - juris RdNr 14; - juris RdNr 6).

6Hierzu erläutert sie, der angestrebten Revisionsentscheidung käme insbesondere vor dem Hintergrund der millionenfach verabreichten Covid-19-Impfungen Breitenwirkung zu. Die Rechtsfragen seien auch klärungsfähig. Sie bezögen sich auf revisibles Recht, das Urteil des LSG enthalte die notwendigen Feststellungen und die Fragen seien entscheidungserheblich. Dem vorangestellt ist eine neunseitige zusammenfassende Schilderung des dem angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens.

7Es kann dahinstehen, ob die Klägerin damit eine oder mehrere hinreichend konkrete Rechtsfragen zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht aufgeworfen und in den weiteren Ausführungen den vom Revisionsgericht erwarteten klärenden Schritt ausreichend konkret dargelegt oder ob sie vielmehr im Kern insgesamt oder zum Teil Fragen zur Rechtsanwendung im Einzelfall gestellt hat. Jedenfalls hat sie - die Qualität als Rechtsfrage jeweils unterstellt - die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit dieser Fragen nicht den nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG diesbezüglich geltenden Anforderungen genügend aufgezeigt.

8Die von der Klägerin formulierten Fragen beziehen sich, wie sich auch aufgrund der vorausgehenden Darstellung des Verfahrensgangs noch hinreichend deutlich ergibt, auf die Voraussetzungen der sogenannten Kann-Versorgung nach § 61 Satz 2 IfSG. Damit hätte es der Klägerin zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit oblegen, die hierzu bereits ergangene Rechtsprechung des BSG darauf zu untersuchen, ob diese ggf ausreichende Hinweise für die Beantwortung der von ihr formulierten und als klärungsbedürftig angesehenen Fragen enthält. Denn auch wenn das BSG eine Frage noch nicht ausdrücklich entschieden hat, so ist eine Rechtsfrage doch auch dann als höchstrichterlich geklärt anzusehen, wenn schon eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte auch zur Beurteilung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (stRspr; zB - juris RdNr 9; - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 - juris RdNr 7). Entgegen diesen Anforderungen fehlen in der Beschwerdebegründung konkrete Ausführungen zur einschlägigen - vom LSG zT auch zitierten - Rechtsprechung des BSG.

9Zu den kausalitätsbezogenen Voraussetzungen der Kann-Versorgung hat das BSG bereits entschieden, dass für deren Gewährung nicht nur ein zeitlicher Zusammenhang bestehen darf, sondern nach einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Lehrmeinung Erkenntnisse vorliegen müssen, die für einen generellen, in der Regel durch statistische Erhebungen untermauerten Zusammenhang zwischen besonderen körperlichen Belastungen und der festgestellten Erkrankung sprechen. Es darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit des Zusammenhangs bestehen, sondern vielmehr eine "gute Möglichkeit", die sich in der wissenschaftlichen Medizin nur noch nicht so zur allgemeinen Lehrmeinung verdichtet hat, dass von gesicherten Erkenntnissen gesprochen werden kann ( - SozR 3-3200 § 81 Nr 13 - juris RdNr 14). Bereits davor hat das BSG betont, dass die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs nicht ausreicht. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs vertritt. Wird eine solche Meinung überhaupt nicht vertreten, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein ( 9/9a RV 41/92 - BSGE 73, 190 = SozR 3-3200 § 81 Nr 9 - juris RdNr 19). In diesem Zusammenhang wäre von der Klägerin auch auf die den Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung bildenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) in den seit der Erstimpfung im Jahr 2004 anzuwendenden Fassungen und auf die seit 2009 unmittelbar geltenden, in Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) einzugehen gewesen. Sowohl die AHP (Nr 39) als auch die VMG (Teil C Nr 4) enthalten ausführliche Regelungen zu den Voraussetzungen der Kann-Versorgung und des hierbei maßgeblichen Beweismaßstabs. Solche Ausführungen fehlen in der Beschwerdebegründung vollständig.

10Zudem zeigt die Beschwerdebegründung die Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) der Fragen nicht auf. Nach § 61 Satz 2 IfSG kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde ein Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wenn die zur Anerkennung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. In Bezug hierauf musste mit der Beschwerdebegründung nicht nur dargelegt werden, dass es medizinische Lehrmeinungen gibt, nach denen die bei der Klägerin festgestellten Gesundheitsschäden Folgen des angeschuldigten Ereignisses, hier der Impfungen mit "Twinrix", sein können (vgl - juris RdNr 8). Vielmehr ist, sofern diese Meinungen bereits breit diskutiert wurden, auch darzutun, dass diese nicht einer zwischenzeitlich gebildeten allgemeinen wissenschaftlichen Überzeugung widersprechen (vgl zur Maßgeblichkeit des Erkenntnisstands im Zeitpunkt der Entscheidung - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 42). In dem die Klägerin auf die sich aus ihrer Verfahrensschilderung ergebenden, in eine solche Richtung weisenden Gesichtspunkte nicht eingeht, wird von ihr die erforderliche Ungewissheit im Sinne des Gesetzes nicht ausreichend aufgezeigt.

11Die Entscheidungserheblichkeit der formulierten Fragen wird darüber hinaus deshalb nicht dargetan, weil die Beschwerdebegründung keinerlei Ausführungen zu den konkreten Feststellungen des LSG in Bezug auf die weiteren Voraussetzungen eines Versorgungsanspruchs nach § 60 Abs 1 Satz 1 iVm § 61 Satz 2 IfSG enthält. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die eingangs der Beschwerdebegründung geschilderten Impfungen in den Jahren 2004 und 2005 durch das LSG als schädigendes Ereignis festgestellt worden sind, ist den Ausführungen der Klägerin nicht zu entnehmen, ob und welche Primärschädigung (Impfkomplikation) das LSG seinem Urteil zugrunde gelegt hat. Unkonkret bleibt zudem die Schilderung der vom LSG in Betracht gezogenen Sekundärschäden (Impfschäden). Schließlich fehlen auch Ausführungen zu der Frage, ob bezüglich dieser Sekundärschäden die nach § 61 Satz 2 IfGS erforderliche Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde vorliegt. Hierfür hätte - unabhängig von der Frage ihrer weiteren Anwendbarkeit (vgl - SozR 4-3851 § 60 Nr 4 RdNr 41) - zumindest ein Abgleich mit der in Nr 39 Abs 7 AHP 2008 veröffentlichten Liste der Krankheiten erfolgen müssen, für die eine solche Zustimmung bereits allgemein erteilt worden ist.

12Dass die Klägerin die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BH - juris RdNr 11; - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).

13Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

14Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

15Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.Kaltenstein                Röhl                Ch. Mecke

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:070722BB9V222B0

Fundstelle(n):
FAAAJ-22447