BFH Beschluss v. - I B 64/21

Anwendbarkeit von § 68 FGO auf Feststellungsklage

Leitsatz

NV: § 68 FGO ist auch im Falle einer Klage anwendbar, die auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts aufgrund nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe gerichtet ist, wenn die Behörde den Verwaltungsakt während des Verfahrens erneut bekannt gibt (Bestätigung des , BFH/NV 1999, 1117).

Gesetze: FGO § 41; FGO § 68;

Instanzenzug:

Tatbestand

I.

1 Die Klägerin und Beschwerdeführerin zu 1. (Klägerin) ist eine im Dezember 2008 gegründete GbR, deren Zweck u.a. der Handel mit Gold und Edelmetallen, insbesondere über die Beteiligung an in Großbritannien ansässigen Gesellschaften, war. Sie hatte im Streitjahr (2008) 17 natürliche Personen als Gesellschafter (Beigeladene und Beschwerdeführer zu 2. bis 18. —Beigeladene—). Gegenüber dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) benannte die Klägerin die Beigeladenen zu 8. und zu 7. als ihre Vertreter. Der Rechtsanwaltskanzlei X in Y, der u.a. der Beigeladene zu 7. angehört, erteilte die Klägerin Empfangsvollmacht.

2 Mit Feststellungserklärung vom Juni 2009 beantragte die Klägerin für das Streitjahr die Feststellung von nach dem mit Großbritannien bestehenden Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung steuerfreien, dem sog. negativen Progressionsvorbehalt nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unterliegenden Einkünften in Höhe von ./. ... €.

3 Das FA lehnte dies zunächst ab und erließ im April 2010 einen Feststellungsbescheid, durch den „nach Anwendung des § 15b EStG anzusetzende steuerpflichtige“ Einkünfte aus Gewerbebetrieb mit 0 € festgestellt wurden. Im September 2010 änderte das FA den Feststellungsbescheid nach Rücksprache mit der Oberfinanzdirektion unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ab und stellte für das Streitjahr Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 0 € fest, die in Höhe von ... € dem negativen Progressionsvorbehalt unterlägen.

4 Mit Bescheid vom änderte das FA den Bescheid erneut und stellte die dem negativen Progressionsvorbehalt unterliegenden Einkünfte der Klägerin mit 0 € fest. Der Änderungsbescheid vom war an die Kanzlei X „für ...“ (Klägerin) adressiert. Er enthält den Zusatz: „Der Bescheid ergeht an Sie als Empfangsbevollmächtigten mit Wirkung für und gegen alle Feststellungsbeteiligten.“ Nachfolgend sind in dem Bescheid alle 17 Gesellschafter mit einem auf sie entfallenden Anteil an den festgestellten Einkünften in Höhe von jeweils 0 € namentlich aufgeführt. Gegen diesen Bescheid legte die Kanzlei X im Namen der Klägerin, unterzeichnet vom Beigeladenen zu 7., Einspruch ein, über den noch nicht entschieden ist.

5 Die Klägerin begehrt mit der Klage primär die Feststellung der Nichtigkeit des Änderungsbescheids vom . Es handele sich um einen negativen Feststellungsbescheid, der allen Gesellschaftern hätte bekanntgegeben werden müssen. Daran fehle es hier, weil die Kanzlei X nicht für die Gesellschafter empfangsbevollmächtigt gewesen sei. Der Bekanntgabemangel sei wegen zwischenzeitlichen Ablaufs der Feststellungsfrist (am ) nicht mehr heilbar. Hilfsweise möchte die Klägerin festgestellt wissen, dass der Änderungsbescheid nicht gegenüber jedem einzelnen Gesellschafter bekanntgegeben worden und daher unwirksam sei.

6 Im Hauptantrag hatte die Klage keinen Erfolg; das entschieden, dass der Bescheid vom nicht nichtig sei. Festgestellt hat das FG jedoch auf den Hilfsantrag, dass der Bescheid mit Ausnahme des Beigeladenen zu 7. allen übrigen Feststellungsbeteiligten (Beigeladenen) gegenüber nicht wirksam bekannt gegeben worden und diesen gegenüber unwirksam sei. Im Übrigen hat das FG die Klage abgewiesen. Das FG-Urteil wurde den Verfahrensbeteiligten —mit Ausnahme des Beigeladenen zu 14.— zwischen dem 10.08. und dem zugestellt; dem Beigeladenen zu 14. wurde es erst am zugestellt.

7 Nach Erlass des FG-Urteils —mit Aufgabe zur Post am — hat das inzwischen für die Klägerin örtlich zuständige Finanzamt Z die Einzelbekanntgabe des Feststellungsbescheids vom an die Beigeladenen —mit Ausnahme des Beigeladenen zu 7.— nachgeholt.

8 Die Klägerin und die Beigeladenen beantragen mit ihrer Beschwerde, die Revision gegen das FG-Urteil zuzulassen.

9 Das FA hält die Nichtzulassungsbeschwerde für „zumindest unbegründet"; einen förmlichen Antrag stellt es nicht.

Gründe

II.

10 Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

11 1. Das FG hat über die Nichtigkeit des Feststellungsbescheids vom bzw. über die Wirksamkeit der Bekanntgabe des Bescheids ausschließlich anhand des im Dezember 2013 an die Kanzlei X adressierten Bescheids entschieden und nicht auch anhand der noch während des Klageverfahrens an die Beigeladenen (mit Ausnahme des Beigeladenen zu 7.) vorgenommenen und gemäß § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Einzelbekanntgaben an die Beigeladenen. Darin liegt ein —für das FG nicht erkennbarer— wesentlicher Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.

12 a) Wird der angefochtene Verwaltungsakt nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung geändert oder ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens (§ 68 Satz 1 FGO). § 68 FGO ist auch in der vorliegenden Konstellation einer auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts aufgrund nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe gerichteten Klage anwendbar, wenn die Behörde den Bescheid während des Verfahrens erneut bekannt gibt (vgl. , BFH/NV 1999, 1117).

13 b) § 68 FGO ist im Streitfall unmittelbar anzuwenden, weil das Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision, in dem § 68 FGO grundsätzlich analog anzuwenden ist (z.B. , BFH/NV 2014, 711, m.w.N.), zum Zeitpunkt der erneuten Bekanntgabe noch nicht eingeleitet und der Rechtsstreit folglich noch bei der ersten Instanz anhängig war. Dass das FG selbst bei Kenntnis über die erneute Bekanntgabe das bereits verkündete und damit bindende Urteil nicht mehr an die geänderte Lage hätte anpassen dürfen, ändert an der Geltung des § 68 FGO nichts (Senatsbeschluss vom  - I B 61/16, BFH/NV 2018, 210).

14 2. Soweit in der Rechtsprechung des BFH davon ausgegangen wird, dass das Übersehen, das Nichtberücksichtigen oder, wie im Streitfall, das nach Urteilsverkündung eingetretene Nicht-Mehr-Berücksichtigen-Dürfen der Änderung des Verfahrensgegenstands ausnahmsweise unbeachtlich ist, wenn der Änderungsbescheid keinen neuen Streitpunkt geschaffen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom  - II B 70/03, BFHE 203, 174, BStBl II 2003, 944; vom  - II B 43/09, BFH/NV 2009, 2012; Senatsbeschluss vom  - I B 161/07, BFH/NV 2008, 2053), liegt diese Voraussetzung hier nicht vor. Denn die erneute Bekanntgabe des Bescheids ist ein neues Sachverhaltselement, das unmittelbar den Streitgegenstand betrifft. Bei der erneuten Befassung mit der Sache erhält die Vorinstanz außerdem Gelegenheit, sich nochmals mit der Frage zu befassen, ob im Dezember 2013 eine wirksame Einzelbekanntgabe des Feststellungsbescheids an den Beigeladenen zu 7. erfolgt sein kann, obwohl das FA seinerzeit eine Einzelbekanntgabe an die Gesellschafter der Klägerin offenbar nicht beabsichtigt hatte. In der Regel ist davon auszugehen, dass eine Behörde einen schriftlichen Bescheid nur der Person bekanntgeben will, an die sie den Bescheid sendet (Senatsurteil vom  - I R 383/83, BFH/NV 1988, 418).

15 3. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2022:B.240522.IB64.21.0

Fundstelle(n):
BFH/NV 2022 S. 1058 Nr. 10
XAAAJ-20205