BGH Beschluss v. - StB 12/22

Strafverfahren: Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers; Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts

Gesetze: § 142 Abs 7 S 1 StPO, § 144 Abs 1 StPO, § 304 Abs 4 S 2 Halbs 2 Nr 1 StPO

Gründe

I.

11. Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart führt gegen den Angeklagten und eine Mitangeklagte ein Strafverfahren, das den Vorwurf zum Gegenstand hat, der Angeklagte habe sich wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in neun Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und in sieben weiteren Fällen jeweils in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Bereitstellungsverbot der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 139 vom , S. 9) veröffentlichten unmittelbar geltenden Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom , die der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient, gemäß § 89a Abs. 1 und 2a, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 52, 53 StGB, § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Variante 8 AWG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 vom und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 632/2013 der Kommission der Europäischen Union vom (ABl. L 179 vom , S. 85) strafbar gemacht. Die Hauptverhandlung hat am begonnen und dauert an.

2Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, er habe sich im Zeitraum von Anfang 2020 bis zu seiner Festnahme am in der Bundesrepublik Deutschland als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" (IS) beteiligt, wobei er in der Zeit vom bis zum in sieben Fällen - teilweise unter Mitwirkung der Mitangeklagten - bei Sympathisanten der Vereinigung für den IS gesammelte Gelder an in Syrien und dem Libanon befindliche IS-Mitglieder transferierte. Die Gelder sollten dazu dienen, IS-Mitgliedern, die sich in Syrien oder dem Libanon in Flüchtlingslagern oder in Gewahrsam befanden, insbesondere aus dem Ausland zum IS gereisten Frauen von IS-Kämpfern, eine Rückkehr zum IS und einen erneuten Anschluss an die Vereinigung zu ermöglichen. Darüber hinaus habe der Angeklagte es am unternommen, aus Deutschland über die Schweiz in den Sudan auszureisen, um sich dort einem IS-Verband anzuschließen und zunächst vom IS militärisch unterweisen zu lassen sowie danach, abhängig von weiteren Weisungen der Vereinigung, dem IS in Afrika oder in Syrien als Kämpfer zu dienen.

32. Der Vorsitzende des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart hat bereits mit Beschluss vom einen Antrag, dem Angeklagten gemäß § 144 Abs. 1 StPO einen zweiten Pflichtverteidiger zusätzlich beizuordnen, abgelehnt. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Angeklagten vom hat der verworfen (StB 5/22).

43. Am hat der Vorsitzende des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart auch einen weiteren Antrag auf Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers für den Angeklagten abgelehnt und zur Begründung erneut ausgeführt, die Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO lägen nicht vor. Das Verfahren sei weder besonders umfangreich noch besonders schwierig. Zudem sei keine Verfahrensdauer absehbar, die eine Mitwirkung eines zweiten Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung erforderlich erscheinen lasse.

5Gegen diesen Beschluss wendet sich der Pflichtverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Dr. K.    aus F.    , mit der sofortigen Beschwerde vom . Der Generalbundesanwalt hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen. Mit Schreiben an den Senat vom hat der Pflichtverteidiger ergänzend vorgetragen.

II.

6Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 144 Abs. 1, § 142 Abs. 7 Satz 1, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, § 311 StPO statthaft (vgl. BGH, Beschlüsse vom - StB 5/22, juris Rn. 7; vom - StB 23/20, NJW 2020, 3736 Rn. 7 [insoweit in BGHSt 65, 129 nicht abgedruckt]) und auch im Übrigen zulässig.

71. Dem Gesamtzusammenhang der Beschwerdeschrift lässt sich hinreichend entnehmen, dass das Rechtsmittel vom Pflichtverteidiger für den - allein beschwerdeberechtigten - Angeklagten eingelegt worden ist und damit eine Beschwerde des Angeklagten darstellt (vgl. insofern , juris Rn. 8).

82. Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch den Vorsitzenden des erkennenden Gerichts keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat (BGH, Beschlüsse vom - StB 5/22, juris Rn. 18; vom - StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 17 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 144 Rn. 12). Daher ist die vorliegende Beschwerde gegen den Beschluss des Vorsitzenden des 6. Strafsenats des nicht dadurch prozessual überholt und erledigt, dass der Senat mit Beschluss vom eine sofortige Beschwerde gegen eine frühere Entscheidung des Vorsitzenden, dem Angeklagten keinen zusätzlichen Pflichtverteidiger zu bestellen, als unbegründet verworfen hat.

III.

9Das Rechtsmittel hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

101. a) Nach der Vorschrift des § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger "bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich" bestellt werden, "wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist". Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist somit nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grundsätzlich zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGH, Beschlüsse vom - StB 5/22, juris Rn. 13; vom - StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 13).

11Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür - etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache - ein "unabweisbares Bedürfnis" besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.

12Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom - StB 5/22, juris Rn. 16; vom - StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 14 mwN; s. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 49 f.).

13b) Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt - wie bereits ausgeführt - dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter überdies ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht erfordert, kann das Beschwerdegericht daher nur beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen.

142. Hieran gemessen ist der angefochtene Beschluss vom auch unter Berücksichtigung des ergänzenden Vorbringens des Pflichtverteidigers des Angeklagten in seinem Schriftsatz vom nicht zu beanstanden. Der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart hat die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers damit begründet, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO lägen nicht vor. Mit dieser Beurteilung hat er die Grenzen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums nicht überschritten.

15a) Der Senat nimmt insofern Bezug auf seinen Beschluss vom , mit dem er eine sofortige Beschwerde gegen eine vorangegangene Entscheidung des Oberlandesgerichtsvorsitzenden vom , dem Angeklagten keinen zweiten Pflichtverteidiger zusätzlich zu bestellen, verworfen hat (, juris). Da die neuerliche Entscheidung des Vorsitzenden vom auf die identischen Erwägungen gestützt ist wie sein vorangegangener Beschluss vom , gelten die Gründe des Senatsbeschlusses vom fort.

16b) Zwar hat der Generalbundesanwalt, wie das Oberlandesgericht Stuttgart in seinem Übersendungsschreiben vom im Einzelnen dargelegt hat, während laufender Hauptverhandlung weiteres umfangreiches Beweismaterial vorgelegt, darunter Vermerke zu Auswertungen eines bei der Mitangeklagten sichergestellten Smartphones und einen USB-Stick mit Datensätzen, die den im Verfahren erstellten polizeilichen Auswertevermerken zu Grunde liegen. Entgegen dem insbesondere hierauf abhebenden Beschwerdevorbringen erweist sich die Beurteilung des Oberlandesgerichtsvorsitzenden, der Aktenbestand sei nicht besonders umfangreich, auch unter Berücksichtigung dieses weiteren Verfahrensstoffes als vertretbar. Ein "unabweisbares Bedürfnis" für die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers resultiert auch nicht aus dem Gesamtumfang des gegenwärtig vorliegenden Aktenbestandes. Ein solches läge nur vor, wenn der Verfahrensstoff nunmehr als so außergewöhnlich umfangreich zu beurteilen wäre, dass er überhaupt nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit beherrscht werden könnte, und anderenfalls eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung eines ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens bestünde. Dies ist indes nicht der Fall. Insofern ist auch zu berücksichtigen, dass der Vorsitzende des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart ausweislich seines Schreibens vom die Hauptverhandlung unterbrochen hat, um den Verfahrensbeteiligten eine Sichtung und Durchdringung des hinzugekommenen Beweismaterials zu ermöglichen.

173. Nach alledem ist die sofortige Beschwerde des Angeklagten mit der Kostenfolge des § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO als unbegründet zu verwerfen.

Schäfer                      Paul                     Kreicker

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:050522BSTB12.22.0

Fundstelle(n):
QAAAJ-16857