BGH Beschluss v. - StB 11/22

Fortdauer der Untersuchungshaft vor der Revisionsentscheidung: Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und von Fluchtgefahr; Beschleunigungspflicht für das Strafverfahren

Gesetze: § 112 Abs 1 S 1 StPO, § 112 Abs 2 Nr 2 StPO, § 268b StPO, § 304 Abs 4 S 2 Halbs 2 Nr 1 StPO, Art 5 Abs 3 MRK, Art 2 GG, Art 20 GG

Gründe

I.

1Die Angeklagte befindet sich seit dem in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des . Der nach Beginn der Hauptverhandlung erlassene Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr wegen des Vorwurfs gestützt, die Angeklagte habe sich vom bis Mai 2015 wegen Unterstützung der terroristischen Vereinigung im Ausland "Islamischer Staat (im Irak und in Großsyrien)" (IS) in zehn Fällen strafbar gemacht, dabei in einzelnen Fällen in Tateinheit mit verschiedenen Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz als Mitglied einer Bande und in einem Fall überdies in Tateinheit mit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Der Senat hat mit Beschluss vom (StB 49/20) eine Haftbeschwerde der Angeklagten verworfen. Das Oberlandesgericht hat sie am wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland in neun Fällen, davon in sieben Fällen in Tateinheit mit bandenmäßiger Zuwiderhandlung gegen ein Bereitstellungsverbot und in einem dieser Fälle mit Terrorismusfinanzierung sowie mit drei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen der bandenmäßigen verbotswidrigen Ausfuhr von Gütern, wobei es in einem dieser Fälle beim Versuch geblieben ist, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es beschlossen, dass die Untersuchungshaft der Angeklagten "nach Maßgabe ihrer heutigen Verurteilung" fortzudauern habe.

2Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Angeklagten, deren Revision gegen das Urteil beim Senat noch anhängig ist. Die Angeklagte hält den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft für nicht mehr verhältnismäßig, da ihre Verteidigung dadurch "nahezu unmöglich" gemacht werde, dass sie nur über eine Postkontrolle Kontakt zur Verteidigerin halten könne und ihr "durch die Arrestierung sämtlicher Vermögenswerte" kein finanzieller Spielraum für die Beauftragung eines Wahlverteidigers bleibe. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde durch näher begründeten Beschluss nicht abgeholfen.

II.

3Die gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO zulässige Beschwerde ist unbegründet.

41. Gegen die Angeklagte besteht weiterhin der dringende Verdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO, sie habe zwischen Oktober 2013 und Mai 2015 ihre sich zunächst in Syrien aufhaltenden, dem IS angehörenden Söhne durch die arbeitsteilige Mitwirkung an der Beschaffung von Waffenzubehör sowie Ausrüstungsgegenständen für islamistische Kämpfer und durch den - teils versuchten - Transport zu den Söhnen unterstützt. Zudem habe sie ihnen Geldbeträge zukommen lassen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl, den Beschluss des Senats vom und die Urteilsgründe verwiesen.

5Der dringende Verdacht wird durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - StB 20/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 4; vom - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 mwN). Soweit die Angeklagte sich dagegen unter Bezugnahme auf das in der Hauptverhandlung gehaltene Plädoyer ihrer Verteidigerin wendet, ergibt sich namentlich in Bezug auf ihren Vorsatz nichts anderes. Es ist danach nicht ersichtlich, dass die vom Tatgericht vorgenommene Beweiswürdigung einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht standhalten kann (vgl. näher , NStZ 2006, 297 mwN).

6Da sich nach den vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen jedenfalls mehrere bandenmäßige Embargoverstöße nach § 17 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 AWG, § 74 Abs. 2 Nr. 3, § 80 Nr. 1 AWV i.V.m. Teil I Abschnitt A Nr. 0001d der Ausfuhrliste (Fassung vom ), Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 in der zur Tatzeit geltenden Fassung, Art. 2 Abs. 1 des Gemeinsamen Standpunkts des Rates Nr. 2002/402/GASP; § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 7 Nr. 2 AWG, Art. 2 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 in der zur Tatzeit geltenden Fassung und Unterstützungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1, § 129b Abs. 1 StGB ergeben, bedürfen die Verwirklichung zusätzlicher Tatbestände und die konkurrenzrechtliche Einordnung hier für die Entscheidung über die Haftbeschwerde weiter keiner abschließenden Erörterung (vgl. näher bereits , juris Rn. 15 ff.). Die von der Beschwerdeführerin vertretene Ansicht, bei den Taten handele es sich teilweise um sozialadäquate zulässige Unterstützungen ihrer Söhne, trifft nicht zu.

72. Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) liegt vor. Insofern haben sich ebenfalls keine maßgeblichen Änderungen seit dem Beschluss des Senats vom ergeben.

8Der bestehende Fluchtanreiz wird nicht dadurch wesentlich herabgesetzt, dass sich die Angeklagte inzwischen seit über einem Jahr und drei Monaten in Untersuchungshaft befindet. Angesichts der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten droht, eingedenk der noch ausstehenden Rechtskraft und einer etwaigen Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB, ein erheblicher Strafvollzug.

9Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits im vorangegangenen Senatsbeschluss dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO). Auch der in der Beschwerdebegründung erwogene Einsatz technischer Überwachungsmittel (sogenannte elektronische Fußfessel) ist hier nicht erfolgversprechend, da er den mit einer Flucht einhergehenden Verstoß gegen Anweisungen belegen, aber nicht unterbinden kann.

103. Der fortdauernde Vollzug der Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

11Zwar setzt die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt, dass mit der Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache und an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen (vgl. , juris Rn. 20 mwN). Allerdings ist diesen Erfordernissen genügt. Das Oberlandesgericht hat insbesondere die Hauptverhandlung zügig - mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche - zu Ende geführt und das Urteil zudem deutlich vor Ablauf der Frist gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht. Das Revisionsverfahren weist bisher gleichfalls keine Verzögerungen auf.

12Mit Blick auf die in der Beschwerdeschrift und der weiteren Stellungnahme genannten Gesichtspunkte ist die Untersuchungshaft ebenfalls nicht unverhältnismäßig. Die mit dieser einhergehenden Einschränkungen der Inhaftierten, namentlich längere Postlaufzeiten wegen Überwachungsmaßnahmen nach § 148 Abs. 2 Satz 1, § 148a StPO und die Unmöglichkeit, sich in Freiheit um den Verkauf von Immobilieneigentum zu kümmern, ergeben sich aus der Natur der Sache. Im Übrigen ist das Recht der - durch zwei Pflichtverteidiger verteidigten -Angeklagten auf effektive Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK) durch den Vollzug der Untersuchungshaft nicht berührt. Die von der Angeklagten als ungerechtfertigt angesehene Vollziehung des Vermögensarrestes, mit der sich das Oberlandesgericht in einem Beschluss vom eingehend befasst hat, steht mit der Untersuchungshaft nicht in Zusammenhang und hat nicht deren Unverhältnismäßigkeit zur Folge.

Schäfer                    Wimmer                    Anstötz

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:060422BSTB11.22.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-15430