Nach Schätzung abgegebene Steuererklärung als Einspruch
Leitsatz
Geht in einem Schätzungsfall nach Erlass des Steuerbescheides beim FA innerhalb der Einspruchsfrist die Steuererklärung ohne weitere Erklärung ein, so ist dies im Zweifel als Einlegung eines Einspruchs gegen den Schätzungsbescheid - und nicht als (bloßer) Antrag auf schlichte Änderung des Schätzungsbescheides - zu werten.
Gesetze: AO 1977 § 149AO 1977 § 162AO 1977 § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 aAO 1977 § 347
Instanzenzug: Hessisches FG (Verfahrensverlauf),
Tatbestand
I.
Nachdem die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) trotz mehrfacher Aufforderung keine Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 1998 (Streitjahr) abgegeben hatte, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Umsatzsteuer 1998 durch Bescheid vom auf 284 710 DM und setzte gleichzeitig einen Verspätungszuschlag in Höhe von 5 000 DM fest. In den ,,Erläuterungen'' zu diesem Bescheid heißt es u. a. ,,Reichen Sie bitte Ihre Steuererklärung/Steueranmeldung unverzüglich nach, denn die Schätzung befreit Sie nicht von Ihrer Erklärungs-/Anmeldungspflicht.'' In der Rechtsbehelfsbelehrung wurde darauf hingewiesen, dass die Festsetzung der Umsatzsteuer und des Verspätungszuschlags mit dem Einspruch angefochten werden könne.
Am reichte die Klägerin ohne weitere Erklärung die Umsatzsteuer-Jahreserklärung 1998 ein, mit der sie einen Überschuss zu ihren Gunsten in Höhe von 20 750 DM geltend machte.
Das FA sah in der Einreichung der Umsatzsteuererklärung einen Antrag auf schlichte Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a der Abgabenordnung (AO 1977) und bat die Klägerin mit Schreiben vom unter dem Betreff ,,Ihr Änderungsantrag vom '' u. a. um die Aufschlüsselung der in einer Anlage zur Umsatzsteuer-Erklärung angegebenen sonstigen Erträge; außerdem teilte das FA der Klägerin mit, es beabsichtige, die geltend gemachten Vorsteuerbeträge um 20 % zu kürzen, und bat sie, die Anlage UR nachzureichen. Hierfür setzte das FA eine Frist bis zum .
Nachdem die Klägerin hierauf nicht geantwortet hatte, erließ das FA unter dem einen Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1998, in dem es unter Erhöhung der erklärten steuerpflichtigen Umsätze und Kürzung der geltend gemachten Vorsteuerbeträge die Umsatzsteuer auf 84 280 DM und den Verspätungszuschlag auf 4 210 DM herabsetzte. In den Erläuterungen teilte das FA mit: ,,Hiermit erledigt sich Ihr Änderungsantrag vom . Die Abweichungen von den erklärten Angaben wurden Ihnen am mitgeteilt. Auf meine Anfrage haben Sie nicht reagiert. Der bisher festgesetzte Verspätungszuschlag wurde herabgesetzt. Dieser Bescheid ändert den Bescheid vom .''
Gegen diesen Bescheid vom legte die Klägerin am Einspruch ein und fügte eine berichtigte Umsatzsteuererklärung für 1998 bei, aus der sich ein Überschuss zu ihren Gunsten in Höhe von 34 385,50 DM ergab.
Diesen Einspruch verwarf das FA mit Einspruchsentscheidung vom als unzulässig, weil der Umsatzsteuerbescheid für 1998 am zur Post gegeben worden sei und damit gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 am (Freitag) als bekannt gegeben gelte, so dass der erst am beim FA eingegangene Einspruch verspätet sei.
Mit ihrer daraufhin erhobenen Klage trug die Klägerin vor, die Abgabe der Umsatzsteuererklärung 1998 am sei als Einspruch zu werten, zumal sie erst seit dem steuerlich beraten werde. Das FA habe diesem Einspruch durch den Bescheid vom nur zum Teil abgeholfen, so dass dieser Bescheid gemäß § 365 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 Gegenstand des noch nicht abgeschlossenen Rechtsbehelfsverfahrens geworden sei. Solange das FA über den ursprünglichen Einspruch vom noch nicht förmlich entschieden habe, könne der Teilabhilfebescheid vom , der an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes vom getreten sei, nicht bestandskräftig werden.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte zur Begründung im Wesentlichen aus:
Das FA habe den Einspruch der Klägerin vom durch Einspruchsentscheidung vom zutreffend wegen Versäumung der einmonatigen Einspruchsfrist als unzulässig verworfen. Ein bislang nicht beschiedener außergerichtlicher Rechtsbehelf der Klägerin vom liege nicht vor. Denn die - ohne weitere Erklärung erfolgte - Einreichung der Umsatzsteuererklärung 1998 auf den Schätzungsbescheid des FA am stelle keinen Einspruch dar, sondern lediglich einen Antrag auf schlichte Änderung i. S. von § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977.
Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 62 abgedruckt.
Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, das FG sei bei der Abgrenzung, ob mit der von ihr (der Klägerin) innerhalb der Einspruchsfrist eingereichten Umsatzsteuererklärung lediglich ein Antrag auf sog. schlichte Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 oder der förmliche Rechtsbehelf des Einspruchs nach § 347 AO 1977 eingelegt worden sei, durch fehlerhafte Auslegung zu einem unzutreffenden Ergebnis gelangt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung des FA vom aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Gründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Geht in einem Schätzungsfall nach Ergehen des Schätzungsbescheides - innerhalb der Einspruchsfrist beim FA die Steuererklärung ohne weitere Erklärung ein, ist dies - entgegen der Auffassung des FG - als Einspruch gegen den Schätzungsbescheid - und nicht als (bloßer) Antrag auf schlichte Änderung des Schätzungsbescheides nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 - zu werten.
1. Ein Steuerbescheid darf, soweit er nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO 1977 in der im Streitjahr 1998 geltenden Fassung, wenn er andere Steuern als Zölle oder Verbrauchsteuern betrifft, nur aufgehoben oder geändert werden, soweit der Steuerpflichtige zustimmt oder seinem Antrag der Sache nach entsprochen wird; dies gilt jedoch zugunsten des Steuerpflichtigen nur, soweit er vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist zugestimmt oder den Antrag gestellt hat. Zudem ist gegen einen Steuerbescheid gemäß § 347 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 als Rechtsbehelf der Einspruch statthaft.
2. Ein Steuerpflichtiger, der die Änderung eines ihm zugegangenen und ihn beschwerenden Steuerbescheides erreichen will, hat hierfür nach seiner Wahl zwei Möglichkeiten: Er kann Einspruch einlegen (§ 347 Abs. 1 Satz 1 AO 1977); er kann aber auch nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO 1977 den sog. ,,schlichten Antrag'' stellen, den Bescheid aufzuheben oder in bestimmter Weise zu ändern.
Der Einspruch unterscheidet sich von einem Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO 1977 in folgenden Punkten (vgl. Anwendungserlass zur Abgabenordnung 1977 - AEAO -, Vor § 347, BStBl I 1998, 630, 789):
- er hindert den Eintritt der formellen und materiellen Bestandskraft,
- er kann zur Verböserung führen (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO 1977); der Verböserungsgefahr kann der Steuerpflichtige aber durch rechtzeitige Rücknahme des Einspruchs entgehen;
- er ermöglicht die Aussetzung der Vollziehung.
3. Ob ein Einspruch oder ein schlichter Änderungsantrag gewollt ist, muss ggf. durch Auslegung geklärt werden. In Zweifelsfällen ist ein Einspruch anzunehmen, da er die Rechte des Steuerpflichtigen umfassender wahrt als ein Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO 1977 (vgl. AEAO, BStBl I 1998, 630, 790). Im Schrifttum ist jedoch streitig, ob dies auch gilt, wenn nach einem Schätzungsbescheid innerhalb der Einspruchsfrist kommentarlos die Steuererklärung eingereicht wird (dafür z. B. Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 172 Rz. 34; wohl auch Büchter-Hole, Entscheidungen der Finanzgerichte 2002, 63 f.; a. A. von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 172 AO 1977 Rz. 135; Kruse/Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 172 AO 1977, Rz. 34).
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist das Schreiben eines Steuerpflichtigen an das FA, die zunächst geschätzten Einkünfte in einem Steuerbescheid entsprechend der nachträglich eingereichten Steuererklärung herabzusetzen, regelmäßig als Einspruch aufzufassen (vgl. , BFHE 88, 314, BStBl III 1967, 382).
b) Auch verfassungsrechtlich gebietet die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren. Durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften darf der Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts nicht unzumutbar verkürzt werden (vgl. , Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 2003, 74, m. w. N.). Lässt deshalb die Äußerung eines Steuerpflichtigen ungewiss, ob er ein Rechtsmittel einlegen will, so ist im Allgemeinen die Erklärung als Rechtsmittel zu betrachten, um zugunsten des Steuerpflichtigen den Eintritt der Rechtskraft aufzuhalten.
c) Diesem Auslegungsergebnis stehen die (BFHE 157, 305, BStBl II 1989, 848) und vom V R 2/87 BFH/NV 1992, 44) nicht entgegen, weil sie einen anderen Sachverhalt betreffen.
Nach diesen Urteilen kann in einem Schätzungsfall nach Ergehen der Einspruchsentscheidung die innerhalb der Klagefrist bei dem FA ohne weitere Erklärung eingereichte Steuererklärung nicht als Erhebung einer schriftlichen Klage beurteilt werden.
Die Ausführungen in diesen Urteilen beziehen sich ausschließlich auf die Frage, ob in der Einreichung einer Steuererklärung eine Klageerhebung gesehen werden kann. Sie sind - entgegen der Auffassung des FG - nicht auf den vorliegenden Streitfall zu übertragen, in dem es um die Frage geht, ob eine innerhalb der Einspruchsfrist eingereichte Steuererklärung als Einspruch oder als Antrag auf schlichte Änderung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO 1977 zu beurteilen ist.
4. Da mithin die von der Klägerin nach dem Erlass des Umsatzsteuer-Schätzungsbescheides 1998 vom innerhalb der Einspruchsfrist am eingereichte Umsatzsteuererklärung 1998 als Einspruch anzusehen ist, wurde der Änderungsbescheid des FA vom gemäß § 365 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 Gegenstand des Einspruchsverfahrens.
Das FA hätte über diesen Einspruch vom entscheiden müssen. Dies ist nicht geschehen und muss nachgeholt werden.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BStBl 2003 II Seite 505
BB 2003 S. 1217 Nr. 23
BFH/NV 2003 S. 958
BFH/NV 2003 S. 958 Nr. 7
BFHE S. 416 Nr. 201
BStBl II 2003 S. 505 Nr. 10
DB 2003 S. 1258 Nr. 23
DStRE 2003 S. 882 Nr. 14
INF 2003 S. 481 Nr. 13
KÖSDI 2003 S. 13758 Nr. 6
UR 2003 S. 604 Nr. 12
AAAAA-89546