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Grundlagen - Stand: 20.08.2021

Treu und Glauben - Verwirkung

Alexander v. Wedelstädt

I. Definition

Im Steuerrecht ist der Grundsatz von Treu und Glauben nicht allgemein geregelt. Gleichwohl ist anerkannt, dass der im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 242, 157 BGB) geregelte Grundsatz von Treu und Glauben auch im Steuerrecht gilt , und zwar sowohl für den Steuerpflichtigen wie für die Finanzbehörde. Er findet seinen Niederschlag auch in anderen Vorschriften der AO wie z.B. § 174 AO. Zur Frage des Vertrauensschutzes im Umsatzsteuerrecht wird auf die Ausführungen unter III. verwiesen.

II. Grundsatz von Treu und Glauben

1. Allgemein

Der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet es innerhalb eines bestehenden Steuerrechtsverhältnisses für Steuergläubiger wie Steuerpflichtigen gleichermaßen, dass jeder auf die Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren (nachhaltigen) Verhalten, auf das der andere vertraut und auf Grund dessen er disponiert hat, nicht in Widerspruch setzt. Dies gilt sowohl zu Gunsten des Steuerpflichtigen als auch zu Gunsten der Finanzbehörde. Dabei müssen sich beide Seiten grundsätzlich das Verhalten von in das Steuerrechtsverhältnis eingeschalteten Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen. Daraus dürfen sich aber keine Steuerrechtsfolgen ergeben, ohne dass der Sachverhalt vorliegt, an den das Gesetz diese Rechtsfolgen knüpft.

Der Grundsatz von Treu und Glauben bringt keine Steueransprüche und -schulden zum Entstehen oder Erlöschen, sondern kann allenfalls ein bestehendes konkretes Steuerrechtsverhältnis dahingehend modifizieren, dass eine Forderung nicht mehr geltend gemacht bzw. ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann.

Ist z.B. Festsetzungsverjährung eingetreten, darf die Geltung von Treu und Glauben nicht dazu führen, dass zu Lasten des Steuerpflichtigen ein erloschener Anspruch des FA aus dem Steuerschuldverhältnis wieder auflebt, unabhängig davon, ob dem Steuerpflichtigen der Eintritt der Verjährung vorwerfbar ist oder nicht.

Die Verdrängung gesetzten Rechts durch den Grundsatz von Treu und Glauben kann nur in besonders gelagerten Fällen in Betracht kommen, in denen das Vertrauen des Steuerpflichtigen in ein bestimmtes Verhalten der Verwaltung nach allgemeinem Rechtsgefühl in einem so hohen Maße schutzwürdig ist, dass demgegenüber die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zurücktreten müssen.

2. Voraussetzungen

Der Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht setzt voraus, dass zwischen der Finanzbehörde und dem Steuerpflichtigen ein konkretes Steuerrechtsverhältnis besteht, das Grundlage für die Vertrauenssituation ist, die für die Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben maßgebend ist. Nur die Beteiligten dieses Verhältnisses, also der einzelne Steuerpflichtige und die jeweils zuständige Finanzbehörde, sind durch die Grundsätze von Treu und Glauben gebunden, Dritte können sich nicht darauf berufen.

  • Daher bindet z.B. die dem Arbeitgeber erteilte Anrufungsauskunft das Finanzamt im Besteuerungsverfahren des Arbeitnehmers nicht.

  • Aus demselben Grund entfaltet ein vertrauensbildendes Verhalten zwischen dem Vater und dem Finanzamt auch nach Übergabe des Betriebs keine Wirkung zwischen Sohn und Finanzamt.

  • Zwischen einer GmbH, für die eine auch als Einzelunternehmer tätige Person als Geschäftsführer gehandelt hat, und dieser Person als Steuerpflichtiger besteht nicht die erforderliche Identität.

Innerhalb des konkreten Steuerrechtsverhältnisses muss einer der Beteiligten gegenüber dem anderen ein nachhaltiges Verhalten gezeigt haben, auf das der andere vertrauen und sein Verhalten entsprechend einrichten darf (Vertrauenstatbestand). Hierzu verlangt der Grundsatz von Treu und Glauben einen Vertrauenstatbestand, aufgrund dessen der Steuerpflichtige disponiert hat. Das gilt sowohl für das Verhalten des Steuerpflichtigen oder seines Erfüllungsgehilfen wie für das Verhalten der Finanzbehörde. Der Vertrauenstatbestand besteht in einer bestimmten Position oder einem bestimmten Verhalten des einen Teils, aufgrund dessen der andere Teil bei objektiver Beurteilung annehmen konnte, jener werde an seiner Position oder seinem Verhalten konsequent und dauerhaft festhalten. Die äußere Form des Verhaltens ist gleichgültig, jedes positive Tun - schriftlich wie mündlich - kann geeignet sein. Wenn Erklärungen oder Handlungen erwartet werden, kann auch deren Unterlassen einen Vertrauenstatbestand begründen; hier kommt es aber in besonderer Weise darauf an festzustellen, ob aus dem Schweigen auf ein nachhaltiges Verhalten geschlossen werden kann. Schweigen und Untätigkeit des Finanzamts begründen nämlich für sich keinen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand. Er endet, wenn der Steuerpflichtige mit der Änderung der bisherigen Rechtsauffassung rechnen muss oder ihm zumindest Zweifel kommen müssen.

Das FA verstößt daher gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, wenn es zunächst aufgrund einer einvernehmlichen Beendigung eines Finanzrechtsstreits den angefochtenen Steuerbescheid zwar aufhebt, im Anschluss daran aber erneut einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt erlässt: In diesem Fall liegt ein Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens („venire contra factum proprium”) vor.

Auf den Vertrauensschutz nach dem Grundsatz von Treu und Glauben kann sich nur berufen, wer seinerseits nicht treuwidrig handelt. Dies gilt für das Verhalten der Finanzverwaltung wie des Steuerpflichtigen.

Neben dem Vertrauenstatbestand erfordert der Grundsatz von Treu und Glauben weiter, dass das Verhalten der einen Seite zu der sog. Vertrauensfolge geführt hat. Das Verhalten des einen Teils muss für das Verhalten des anderen Teils dergestalt ursächlich sein, dass er im Vertrauen auf dieses Verhalten (Vertrauensbildung) als Vertrauensfolge wirtschaftliche Dispositionen vorgenommen hat (Vertrauensbetätigung), die sich nicht mehr rückgängig machen lassen oder deren Rückgängigmachung nicht zuzumuten ist.

  • Die wirtschaftlichen Dispositionen brauchen nicht „geschäftlicher” oder „vermögensrechtlicher” Art zu sein. Wirtschaftlich relevant sind auch allgemeine, nicht nur „vermögenswerte” Dispositionen. Eine wirtschaftliche Disposition liegt z.B. auch vor bei der Klagerücknahme, weil ein verfahrensrechtlicher Besitzstand aufgegeben wurde.

  • Die Disposition muss grundsätzlich vor Verwirklichung des steuerlichen Tatbestands getroffen worden sein.

  • Keine Disposition in diesem Sinne liegt jedoch vor, wenn der Steuerpflichtige infolge des Verhaltens der Finanzbehörde glaubt, keine Steuern zahlen zu müssen und das Geld ausgibt.

Das Finanzamt ist nach Treu und Glauben nicht gehindert, einen der geänderten Rechtslage entsprechenden erstmaligen Steuerbescheid zu erlassen, wenn sich die einer unverbindlichen Auskunft zugrunde liegende Rechtslage ändert, es sei denn, es hat anderweitig einen Vertrauenstatbestand geschaffen.

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