Themenbezogene Widmungsbeschränkung einer kommunalen öffentlichen Einrichtung
Leitsatz
Die Beschränkung des Widmungsumfangs einer kommunalen öffentlichen Einrichtung, die deren Nutzung allein aufgrund der Befassung mit einem bestimmten Thema ausschließt, verletzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit.
Gesetze: Art 1 Abs 3 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 5 Abs 1 GG, Art 5 Abs 2 GG, Art 8 Abs 1 GG, Art 28 Abs 1 S 1 GG, Art 28 Abs 2 S 1 GG, § 86 Abs 1 VwGO, § 108 Abs 1 S 1 VwGO
Instanzenzug: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Az: 4 B 19.1358 Urteilvorgehend Az: M 7 K 18.3672 Urteil
Tatbestand
1Der Kläger begehrt die Zulassung zu einer öffentlichen Einrichtung der Beklagten für eine Diskussionsveranstaltung, die einen von deren Stadtrat am gefassten Beschluss zum Gegenstand haben soll. Dieser Beschluss hat u.a. folgenden Inhalt:
"3. Für Raumvergaben bzw. Vermietung oder Zuschüsse wird Folgendes festgelegt
a) Organisationen und Personen, die Veranstaltungen in städtischen Einrichtungen durchführen wollen, welche sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben, werden von der Raumüberlassung bzw. Vermietung von Räumlichkeiten ausgeschlossen. Dies gilt entsprechend auch für die Zuschussvergabe.
b) Organisationen und Personen (Rednerinnen und Redner, Künstlerinnen und Künstler, Veranstalterinnen und Veranstalter), die sich in der Vergangenheit positiv zur BDS-Kampagne geäußert haben oder diese unterstützen, können nur dann durch die Überlassung bzw. Vermietung von Räumlichkeiten für Veranstaltungen unterstützt werden, sofern diese sich nicht mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben. Dies gilt entsprechend auch für die Zuschussvergabe."
2Im April 2018 bat der Kläger das Stadtmuseum der Beklagten um Überlassung eines Saales für eine Diskussionsveranstaltung zum Thema "Wie sehr schränkt M. die Meinungsfreiheit ein? - Der Stadtratsbeschluss vom und seine Folgen". Das Stadtmuseum lehnte die Vermietung seiner Räumlichkeiten für die geplante Veranstaltung unter Hinweis auf den Beschluss des Stadtrats ab.
3Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger im M. Stadtmuseum, hilfsweise in einem anderen städtischen Raum, einen Saal für die geplante Diskussionsveranstaltung zu vermieten, abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat der Kläger seinen Hilfsantrag präzisiert und neben dem Stadtmuseum sieben weitere städtische Veranstaltungsorte konkret benannt, darunter den Bürgersaal F. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger für die geplante Diskussionsveranstaltung den Zugang zum Bürgersaal F. im Rahmen der verfügbaren Kapazitäten durch Einwirkung auf den Trägerverein Bürgersaal F. e.V. zu verschaffen; im Übrigen hat er die Berufung zurückgewiesen. Allein der Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beklagten zum Abschluss eines Mietvertrages für den Bürgersaal F. sei zulässig und begründet. Bei der genannten Veranstaltungsstätte handele es sich um eine öffentliche Einrichtung im Sinne des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung - BayGO). Deren Widmungszweck umfasse auch privat organisierte Veranstaltungen zu kommunalpolitischen Themen. Da die Beklagte den laufenden Betrieb der Einrichtung und die Entscheidung über die Nutzungsvergabe dem Trägerverein Bürgersaal F. e.V. überlassen habe, wandele sich der kommunalrechtliche Zulassungsanspruch in einen Verschaffungsanspruch, den die beklagte Kommune durch Einwirkung auf den Trägerverein zu erfüllen habe.
4Der Verschaffungsanspruch scheitere nicht an dem Beschluss des Stadtrats der Beklagten. Dieser verletze das Grundrecht der Meinungsfreiheit und den Gleichbehandlungsgrundsatz und sei daher unwirksam. Der Stadtratsbeschluss schränke den Widmungsumfang städtischer Räumlichkeiten ein, indem er Veranstaltungen, die sich mit der gegen den Staat Israel gerichteten BDS-Kampagne befassten, von der Nutzung generell ausschließe. Der damit verbundene Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit sei nicht gerechtfertigt. Der widmungsbeschränkende Stadtratsbeschluss stelle kein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG dar, weil er keine Rechtsnormqualität besitze. Darüber hinaus lasse sich auch nicht feststellen, dass der generelle Ausschluss von Veranstaltungen zur BDS-Kampagne dem Schutz eines unabhängig von bestimmten Meinungsinhalten zu schützenden Rechtsguts diene. Dass die Durchführung von Diskussionsveranstaltungen zu diesem Thema regelmäßig mit der Gefahr der Begehung strafbarer Handlungen verbunden wäre, sei nicht erkennbar. Auch könne im Zusammenhang mit der BDS-Kampagne von einer sich abzeichnenden konkreten Rechtsgutgefährdung, die eine staatliche Schutzpflicht auslösen würde, nach den gegenwärtig erkennbaren Umständen nicht gesprochen werden. Unabhängig davon verstoße der Stadtratsbeschluss gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
5Die Beklagte trägt zur Begründung der Revision vor, das Berufungsurteil verletze § 86 VwGO und dehne den Schutzbereich der Meinungsfreiheit unzulässig zu Lasten des kommunalen Selbstverwaltungsrechts aus. Es ordne den Stadtratsbeschluss unzutreffend als zielgerichteten regulativen Eingriff in das Grundrecht der Meinungsfreiheit ein. Die Beklagte entnehme Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eine sie treffende Schutzpflicht, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nicht zu fördern. Sie wolle Veranstaltungen zu der von ihr für antisemitisch gehaltenen BDS-Kampagne keine Bühne durch Überlassung städtischer Räume geben. Der Stadtratsbeschluss verstoße auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, denn die darin getroffene Regelung der Widmung sei nicht willkürlich.
6Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom zu ändern und die Berufung insgesamt zurückzuweisen.
7Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8Er verteidigt das Berufungsurteil und macht darüber hinaus geltend, der Stadtratsbeschluss verstoße auch gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und verletze das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot.
Gründe
9Die Revision hat keinen Erfolg. Das Berufungsurteil verletzt kein Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
101. Zutreffend hat das Berufungsgericht den vom Kläger im Laufe des Berufungsverfahrens nachträglich präzisierten Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beklagten zum Abschluss eines Mietvertrages für den Bürgersaal F. als Klageänderung eingeordnet, die sich gemäß § 91 Abs. 1 Alt. 2 VwGO als sachdienlich erweist. Das Rechtsschutzbedürfnis für die geänderte Klage ist nicht dadurch entfallen, dass bereits im Juni 2019 von anderen Organisatoren eine thematisch vergleichbare Veranstaltung in einer privat betriebenen Räumlichkeit durchgeführt worden ist. Die Klage erweist sich für den Kläger nicht als nutzlos, weil sein Klagebegehren erkennbar darauf gerichtet ist, eine von ihm veranstaltete Diskussion über den Stadtratsbeschluss in städtischen Räumen stattfinden zu lassen.
112. Das Berufungsurteil leidet nicht unter dem gerügten Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO. Mit dem Vortrag, das Berufungsgericht habe ohne entsprechende Sachaufklärung das Ergebnis seines Urteils, die Beklagte wolle die Meinungsfreiheit des Klägers zielgerichtet beschränken, als Sachverhalt unterstellt, hat die Beklagte einen solchen Verstoß nicht prozessordnungsgemäß dargetan. Dazu wäre die Darlegung erforderlich gewesen, welche Aufklärungsmaßnahmen sich dem Berufungsgericht auch ohne förmlichen Beweisantrag hätten aufdrängen müssen, welches Ergebnis sie gehabt hätten und inwieweit dies zu einer für die Beklagte günstigeren Entscheidung hätte führen können (stRspr, vgl. nur 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Daran fehlt es hier. Die sinngemäße Rüge, das angegriffene Urteil verletze den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO), weil es der Beklagten die Absicht zur gezielten Beschränkung der Meinungsfreiheit unterstelle, ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat keine unzulässige Tatsachenfeststellung "ins Blaue hinein" getroffen, sondern das Regelungsziel durch eine Auslegung des Stadtratsbeschlusses entsprechend §§ 133 und 157 BGB ermittelt. Sie ist dem materiellen Recht zuzuordnen und kann nicht mit Verfahrensrügen angegriffen werden.
123. Das Berufungsurteil verletzt kein materielles revisibles Recht. Der Verwaltungsgerichtshof hat dem Kläger revisionsrechtlich fehlerfrei einen Anspruch auf Zugang zum Bürgersaal F. zugesprochen. Seine Annahme, der Stadtratsbeschluss stehe diesem Anspruch nicht entgegen, weil die darin vorgenommene Widmungsbeschränkung das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) verletze, ist nicht zu beanstanden.
13a) Gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung - BayGO) sind alle Gemeindeangehörigen nach den bestehenden allgemeinen Vorschriften berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen. Da die Vorschrift zum irrevisiblen Recht gehört, hat das Revisionsgericht nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO von der vorinstanzlichen Auslegung und Anwendung der Vorschrift auszugehen und nur deren Vereinbarkeit mit revisiblem Recht zu beurteilen. Die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung und Anwendung des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 BayGO steht mit diesem Recht im Einklang.
14Danach begründet die Bestimmung einen Anspruch auf die Nutzung öffentlicher Einrichtungen im Rahmen des Widmungszwecks und der Kapazität der Einrichtung. Wird die öffentliche Einrichtung - wie hier - von einem privaten Trägerverein betrieben, der über die Nutzungsvergabe entscheidet, wandelt sich der kommunalrechtliche Zulassungsanspruch in einen Verschaffungsanspruch, den die Kommune durch Einwirken auf den Trägerverein zu erfüllen hat (vgl. auch 7 B 184.88 - Buchholz 415.1 AllgKommR Nr. 91 S. 47 f.). Auf dieser Grundlage hat das Berufungsgericht einen Verschaffungsanspruch des Klägers nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 BayGO revisionsrechtlich fehlerfrei bejaht. Nach den bindenden Feststellungen des Berufungsurteils handelt es sich bei dem Bürgersaal F. um eine öffentliche Einrichtung im Sinne des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 BayGO, deren Widmungszweck auch privat organisierte Veranstaltungen zu kommunalpolitischen Themen umfasst.
15b) Die Annahme des Berufungsgerichts, der Verschaffungsanspruch des Klägers scheitere nicht an dem Stadtratsbeschluss, weil die dadurch vorgenommene Einschränkung des Nutzungsrechts öffentlicher Einrichtungen das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) verletze, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
16aa) Das Berufungsgericht hat den Stadtratsbeschluss als eine nachträgliche Beschränkung des Widmungsumfangs öffentlicher Einrichtungen der Beklagten verstanden. Es ist davon ausgegangen, dass der Beschluss die Zulassung zu solchen Einrichtungen für Veranstaltungen ausschließt, die sich mit der BDS-Kampagne oder deren Themen befassen. Dieses Verständnis des Stadtratsbeschlusses verletzt keine revisiblen Auslegungsgrundsätze (§§ 133 und 157 BGB).
17bb) Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass die durch den Stadtratsbeschluss vorgenommene Widmungsbeschränkung kommunaler öffentlicher Einrichtungen das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) verletzt.
18(1) Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten. Meinungen sind durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage geprägt. Für sie ist das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens kennzeichnend. Insofern lassen sie sich auch nicht als wahr oder unwahr erweisen. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird. Die Bürger sind dabei rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Es vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien ( - BVerfGE 124, 300 <320>). Die Meinungsfreiheit ist nicht erst dann berührt, wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten selbst eingeschränkt oder untersagt wird. Es genügt, dass nachteilige Rechtsfolgen daran geknüpft werden (BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvR 126/85 - BVerfGE 86, 122 Rn. 20 und vom - 1 BvR 811/17 - juris Rn. 18).
19Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist von der Widmungseinschränkung des Stadtratsbeschlusses betroffen, weil der Ausschluss von der Nutzung öffentlicher Einrichtungen der Beklagten an absehbare Meinungsäußerungen zur BDS-Kampagne gleich welcher Richtung anknüpft. Der Stadtratsbeschluss unterbindet Meinungsäußerungen zur BDS-Kampagne zwar nicht unmittelbar. Er greift jedoch mittelbar in die Meinungsfreiheit ein, weil er mit dem Ausschluss von der Benutzung öffentlicher Einrichtungen eine nachteilige Rechtsfolge an die zu erwartende Kundgabe von Meinungen zur BDS-Kampagne oder zu deren Inhalten, Zielen oder Themen knüpft und damit eine meinungsbildende Auseinandersetzung zu diesem Thema behindert.
20(2) Dieser Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt. Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet die Meinungsfreiheit ihre Grenzen in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Darunter sind Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten und sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Dieses Rechtsgut muss in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann. Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ein Gesetz ein allgemeines ist, ist zunächst die Frage, ob eine Norm an Meinungsinhalte anknüpft. Erfasst sie das fragliche Verhalten völlig unabhängig von dem Inhalt einer Meinungsäußerung, bestehen hinsichtlich der Allgemeinheit keine Zweifel. Knüpft sie demgegenüber an den Inhalt einer Meinungsäußerung an, kommt es darauf an, ob die Norm dem Schutz eines auch sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts dient. Ist dies der Fall, ist in der Regel zu vermuten, dass das Gesetz nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet ist, sondern meinungsneutral allgemein auf die Abwehr von Rechtsgutverletzungen zielt. Insoweit nimmt nicht schon jede Anknüpfung an den Inhalt von Meinungen als solche einem Gesetz den Charakter als allgemeines Gesetz. Vielmehr sind auch inhaltsanknüpfende Normen dann als allgemeine Gesetze zu beurteilen, wenn sie erkennbar auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter und nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet sind ( - BVerfGE 124, 300 <321 f.>). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 5 Abs. 1 und 2 GG die Freiheit der Meinung als Geistesfreiheit unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit oder Gefährlichkeit gewährleistet. Er erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen. Dies ist der Fall, wenn sie den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvR 2150/08 - BVerfGE 124, 300 <335>, vom - 1 BvR 673/18 - juris Rn. 24 und vom - 1 BvR 479/20 - juris Rn. 14).
21Danach stellt der Stadtratsbeschluss kein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG dar. Ihm fehlt schon die hierfür erforderliche Rechtssatzqualität. Zudem trifft er keine allgemeine Regelung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG. Er ist nicht meinungsneutral, sondern richtet sich gegen jedwede Meinung zum Thema BDS-Kampagne und schließt damit alle Meinungsäußerungen zu einem bestimmten Thema aus. Der Grundrechtseingriff ist auch nicht gerechtfertigt, weil er dem Schutz eines auch sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts diente. Nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts bestehen keine Anhaltspunkte, dass die Durchführung von Diskussionsveranstaltungen, die sich mit der BDS-Kampagne befassen, regelmäßig mit der Gefahr strafbarer Handlungen, etwa von Äußerungsdelikten nach § 130 oder § 185 StGB, verbunden wäre. Solches hat auch die Beklagte nicht geltend gemacht. Ebenso wenig liegen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts gegenwärtig Anhaltspunkte vor, dass die im Bundesgebiet entfalteten Aktivitäten der auf den Staat Israel zielenden Boykottbewegung eine die Friedlichkeitsgrenze überschreitende gezielte Stimmungsmache gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland oder gar ein Aufstacheln zum Hass gegen diese Personengruppe umfassen könnten. An diese tatsächlichen Feststellungen ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, weil sie von der Revisionsführerin nicht mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffen wurden.
22cc) Soweit der Kläger einen Verstoß gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) geltend macht, tritt dieses Grundrecht hinter das speziellere Grundrecht der Meinungsfreiheit zurück. Der Stadtratsbeschluss unterbindet die Nutzung öffentlicher Einrichtungen nicht für die Veranstaltungsform der Versammlung, sondern nur für solche Veranstaltungen, bei denen Meinungsäußerungen zum Thema der BDS-Kampagne zu erwarten sind. Damit richtet sich der Eingriff zuvörderst gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit.
23Eine etwaige Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) tritt ebenfalls hinter Art. 5 Abs. 1 GG zurück, weil sich die unterschiedliche Behandlung von Veranstaltungen, die sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, und sonstigen Veranstaltungen zu kommunalpolitischen Themen in der Differenzierung wegen zu erwartender Meinungsäußerungen erschöpft.
24Schließlich kommt eine Verletzung des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in Betracht. Das Grundgesetz garantiert das kommunale Selbstverwaltungsrecht nur im Rahmen der Gesetze und entlässt die Kommunen nicht aus der Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG).
25Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:200122U8C35.20.0
Fundstelle(n):
MAAAI-60571