BAG Urteil v. - 5 AZR 61/11

(Umfang des Forderungsübergangs nach § 115 Abs 1 SGB 10 bei Leistungen nach dem SGB 2 - Bedarfsgemeinschaft)

Leitsatz

Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II an den nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner des Hilfebedürftigen sowie an dessen unverheiratete Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, gelten gemäß § 34a SGB II aF, § 34b SGB II als Aufwendungen für den Hilfebedürftigen selbst und führen zu einem erweiterten Übergang seines Vergütungsanspruchs nach § 115 SGB X.

Gesetze: § 11b SGB 2, § 115 Abs 1 SGB 10, § 34b SGB 2, § 34a SGB 2 vom

Instanzenzug: Az: 14 Ca 124/08 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg Az: 5 Sa 54/10 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche.

2Der Kläger war bei der G (im Folgenden: Schuldnerin) bis zum zuletzt zu einem Bruttomonatsgehalt von 2.019,94 Euro beschäftigt. Am wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt.

3Die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung und Grundsicherung S (im Folgenden: ARGE) bewilligte dem Kläger und seiner Ehefrau als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft für die Zeit ab Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Vertreterin der Bedarfsgemeinschaft und Zahlungsempfängerin war die Ehefrau des Klägers. Der dem Bescheid beigefügte Berechnungsbogen verteilte die monatlichen Regelleistungen jeweils hälftig auf die Eheleute. Für die Zeit vom 12. August bis zum bezog der Kläger Insolvenzgeld.

4Der Gehaltsanspruch des Klägers für den Zeitraum vom bis zum belief sich auf 7.339,12 Euro brutto. Diesen Anspruch erfüllte der Beklagte zunächst nicht. Der Kläger und seine Ehefrau erhielten weiterhin Leistungen der ARGE nach dem SGB II. Dem Aufforderungsschreiben der ARGE vom , ihr den an den Kläger und seine Ehefrau geleisteten Betrag von 4.183,98 Euro zu erstatten, kam der Beklagte nach. An den Kläger zahlte er restliche Vergütung iHv. 1.657,96 Euro netto aus.

5Der Kläger fordert Nachzahlung seines Arbeitsentgelts in Höhe der seiner Ehefrau geleisteten Grundsicherung.

Er hat zuletzt beantragt,

7Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Der Kläger sei zurzeit der Abführung der Vergütungsteile an die ARGE nicht mehr Anspruchsinhaber gewesen. Sein Vergütungsanspruch sei auch in Höhe der an seine Ehefrau gewährten Sozialleistungen auf die ARGE übergegangen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Mit der Revision begehrt der Beklagte die Zurückweisung der Berufung des Klägers.

Gründe

9Die Revision des Beklagten ist begründet. Der Kläger kann vom Beklagten keine Vergütung für die Zeit vom bis zum mehr verlangen, soweit die ARGE wegen des Ausbleibens der Vergütung im Klagezeitraum Sozialleistungen an die Ehefrau des Klägers erbracht hat. Insoweit ist sein Anspruch auf die ARGE übergegangen. Aufgrund der bisherigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann der Senat jedoch nicht über den Umfang des Anspruchsübergangs entscheiden. Das führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

10I. Der Vergütungsanspruch des Klägers ist in Höhe von 7.339,12 Euro brutto für die Zeit vom bis zum entstanden. Der Senat kann aber nicht entscheiden, in welcher Höhe der Anspruch auf die ARGE übergegangen ist.

111. Gemäß § 115 SGB X ist der Anspruch grundsätzlich in Höhe der an den Kläger persönlich erbrachten Sozialleistungen übergegangen. Der Beklagte hat an den Kläger zunächst kein Arbeitsentgelt gezahlt. Dieser Ausfall war für die Hilfebedürftigkeit, die ihrerseits nach § 7 Abs. 1 Ziffer 3 SGB II Voraussetzung für Leistungen der Grundsicherung ist, ursächlich (zum Erfordernis der Kausalität, vgl.  - BAGE 73, 186;  -).

122. Soweit der Leistungsträger an die Ehefrau des Klägers wegen des Entgeltausfalls im Klagezeitraum Leistungen erbracht hat, kann der Entgeltanspruch des Klägers gemäß § 115 SGB X iVm. § 34a SGB II (heute § 34b SGB II) gleichfalls auf die ARGE übergegangen sein.

13a) Nach dem zum Ausgleichsanspruch zwischen Sozialleistungsträgern aus § 104 SGB X entwickelten Prinzip der Personenidentität (vgl.  - SozR 3-1300 § 104 Nr. 3; - B 11 AL 24/10 R - Rn. 18 ff., SozR 4-1300 § 107 Nr. 4) muss der Berechtigte für beide in Anspruchskonkurrenz stehenden Ansprüche Gläubiger sein. Der Anspruchsübergang nach § 115 SGB X setzt damit grundsätzlich voraus, dass es sich bei dem Bezieher der Sozialleistung und dem Arbeitnehmer um ein und dieselbe Person handelt. Diese Personenidentität fehlt, wenn Leistungen an andere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft geflossen sind. Bei einer Bedarfsgemeinschaft erhalten neben dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auch die mit ihm in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen Leistungen nach dem SGB II. Dabei gilt gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig, wenn in der Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist. Das SGB II kennt demzufolge keinen Anspruch der Bedarfsgemeinschaft, sondern ihrer Mitglieder ( B 7b AS 8/06 R - Rn. 12 mwN, BSGE 97, 217).

14b) Die Leistungen an bestimmte andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft „gelten“ jedoch gemäß § 34a SGB II (zeitlicher Anwendungsbereich vom bis zum ; seit § 34b SGB II) als Aufwendungen des Leistungsträgers für den Arbeitnehmer. Damit geht dessen Entgeltanspruch nach § 115 SGB X auch im Hinblick auf diese Aufwendungen auf die ARGE über.

15aa) Im Bereich des SGB II wird der Grundsatz der Personenidentität kraft der in § 34a SGB II (heute § 34b SGB II) geregelten Fiktion durchbrochen (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf in BT-Drucks. 16/1410, S. 27). Bestimmt sich das Recht des Trägers der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Ersatz seiner Aufwendungen von einem anderen zu verlangen, gegen den der Leistungsberechtigte einen Anspruch hat, nach sonstigen gesetzlichen Vorschriften, die dem § 33 SGB II vorgehen, gelten als Aufwendungen hiernach auch solche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die an den nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartner des Hilfebedürftigen sowie an dessen unverheiratete Kinder, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erbracht werden. Leistungen an diese Personen gelten damit als Aufwendungen im Sinne aller dem § 33 SGB II vorgehenden „Ersatzansprüche“. Zu diesen gehört auch der Anspruchsübergang nach § 115 SGB X.

16Die in § 34a SGB II (heute § 34b SGB II) normierte Durchbrechung des Grundsatzes der Personenidentität dient dem Zweck, den Nachrang der staatlichen Fürsorgeleistung nach dem SGB II zu gewährleisten (vgl.  - Rn. 19 ff., SozR 4-1300 § 107 Nr. 4;  -; Arbeitsgericht Würzburg - 6 Ca 1084/09 -; Grote-Seifert in Schlegel/Voelzke SGB II 2. Aufl. § 34a Rn. 4, 11; Fügemann in Hauck/Noftz SGB II Stand Februar 2012 § 34a Rn. 4 ff.; Nehls in Hauck/Noftz SGB X § 115 Rn. 10; Link in Eicher/Spellbrink 2. Aufl. SGB II § 34a Rn. 14, 19; Sauer in Sauer SGB II 2011 § 34b Rn. 2a, b, 7; Cantzler in Löns/Herold-Tews SGB II 3. Aufl. § 34b Rn. 2, 3, 4; Schwitzky in Münder LPK-SGB II 4. Aufl. § 34a Rn. 3; Maul-Sartori BB 2010, 3021, 3023; ders. jurisPR-ArbR 29/2011 Anm. 3).

17bb) Der Anspruchsübergang bei Arbeitsentgeltansprüchen nach § 115 SGB X geht der allgemeinen Vorschrift des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB II vor (§ 33 Abs. 5 SGB II). Die Erweiterung des Anspruchsübergangs gemäß den § 34a SGB II (heute § 34b SGB II) kommt somit bei Arbeitsentgeltansprüchen zum Tragen.

18cc) Inhaltlich erfasst der Anspruchsübergang ausschließlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, dh. die pauschalen Regelleistungen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (Regelbedarf zuzüglich möglicher Mehrbedarfe einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung).

19dd) Der Kläger hatte gegen den Beklagten Anspruch auf Arbeitsentgelt und die ARGE erbrachte an die nicht getrennt lebende Ehefrau des Klägers Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

203. Ein Anspruchsübergang nach § 115 SGB X setzt weiter voraus, dass der Sozialleistungsträger berechtigterweise mit eigenen Leistungen eingetreten ist, weil der Arbeitgeber unberechtigterweise seiner Leistungspflicht nicht nachgekommen ist (Kausalität). Zweck der Vorschrift ist es, dem Sozialleistungsträger die Leistungen zurückzuerstatten, die nicht angefallen wären, wenn der Arbeitgeber seiner Leistungspflicht rechtzeitig nachgekommen wäre.

21a) Die dafür notwendige zeitliche Kongruenz (vgl.  - BAGE 73, 186; Bieresborn in von Wulffen SGB X 7. Aufl. § 115 Rn. 4) ist gegeben. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Ehefrau des Klägers im Klagezeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten.

22b) Wie bei den Leistungen an den Arbeitnehmer selbst geht der Vergütungsanspruch gemäß § 115 SGB X iVm. § 34a SGB II (heute § 34b SGB II) nur in Höhe der Aufwendungen für Grundsicherungsleistungen über, die dem Leistungsträger gerade wegen des Verdienstausfalls entstanden sind ( - BAGE 73, 186;  -).

23aa) Die Kausalität ist bei Leistungen an die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich gegeben, wenn das Arbeitsentgelt eines Mitglieds ausfällt. Nach § 9 Abs. 2 SGB II ist bei der Feststellung der Hilfebedürftigkeit eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft nämlich das Einkommen bestimmter anderer der Gemeinschaft angehörender Personen zu berücksichtigen. Hierzu gehören zunächst der Partner, also nach der Begriffsbestimmung in § 7 Abs. 3 Ziffer 3 SGB II der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte, Lebenspartner oder ehe- bzw. partnerschaftsähnliche Lebensgefährte. Bei der Feststellung der Bedürftigkeit eines unverheirateten Kindes, das mit den Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, ist auch Einkommen der Eltern oder des Partners eines Elternteils zu berücksichtigen. Hierdurch wird die Hilfebedürftigkeit aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft fingiert, selbst wenn das individuelle Einkommen eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft seinen eigenen Bedarf übersteigt.

24bb) Soweit Sozialleistungen selbst dann gewährt werden müssen, wenn der Arbeitgeber seiner Vergütungspflicht rechtzeitig und vollständig nachkommt, findet ein Anspruchsübergang nicht statt.

25Die Höhe des Anspruchsübergangs hängt deshalb zunächst davon ab, in welchem Umfang Einkommen des Arbeitnehmers nicht auf die gewährten Sozialleistungen anzurechnen ist. Kausal für den Bezug von Arbeitslosengeld II und damit übergangsbegründend kann nur solches Arbeitseinkommen sein, das im Falle pünktlicher Zahlung auf die SGB II-Leistungen Anrechnung gefunden hätte. Beträge, die auch bei rechtzeitiger Leistung des Arbeitgebers vom Einkommen des Arbeitnehmers hätten abgesetzt werden müssen, stehen einem Anspruchsübergang in dieser Höhe entgegen. Die Absetzungsbeträge nach § 30 SGB II idF bis (heute § 11b SGB II) - insbesondere die Arbeitnehmer-Freibeträge - verringern deshalb den auf den Leistungsträger übergehenden Entgeltteil ( -; Kater in Kassler Kommentar Sozialversicherungsrecht Stand Dezember 2011 Band 2 § 115 SGB X Rn. 31d; Maul-Sartori BB 2010, 3021, 3024). Andernfalls würde der mit dem Arbeitnehmerfreibetrag bezweckte Erwerbsanreiz (vgl. BT-Drucks.15/1516 S. 59) unterlaufen. Von welchem Nettoerwerbseinkommen und welchen Absetzungsbeträgen die ARGE im Klagezeitraum ausgegangen ist, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt. Insbesondere hat das Landesarbeitsgericht nicht geklärt, ob die ARGE nicht auch dann (ergänzende) Leistungen hätte erbringen müssen, wenn der Beklagte die Vergütung rechtzeitig und vollständig an den Kläger gezahlt hätte. Diese Feststellungen wird das Landesarbeitsgericht nachzuholen haben.

II. Sollte nach den noch zu treffenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts unter Berücksichtigung der vom Beklagten tatsächlich erbrachten Zahlungen überhaupt noch ein Differenzvergütungsanspruch des Klägers bestehen, ist zu beachten, dass der Kläger Zinsen auf die verspätet erfüllten Vergütungsteile nur bis zum Eingang der Sozialleistungen und der weiteren Zahlungen verlangen kann (vgl.  - Rn. 16, AP BGB § 310 Nr. 13 = EzA BGB 2002 § 310 Nr. 10; - 5 AZR 429/07 - Rn. 15 f., BAGE 126, 198).

Fundstelle(n):
UAAAI-19643