BGH Beschluss v. - 1 StR 399/11

Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt: Vorliegen eines sozialversicherungs- und lohnsteuerpflichtigen Arbeitsverhältnisses; unionsrechtskonforme Auslegung im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit

Gesetze: § 14 Abs 1 Nr 1 StGB, § 266a StGB, Art 49 AEUV

Instanzenzug: LG Landshut Az: 3 KLs 54 Js 1101/08 Urteilnachgehend Az: 1 StR 399/11 Beschluss

Gründe

1Das Landgericht hat die Angeklagten wegen „gemeinschaftlichen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 13 tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit einem gemeinschaftlichen Verstoß gegen § 11 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes“ verurteilt, den Angeklagten R.        zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, den Angeklagten S.    zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten.

2Die auf die (für beide Angeklagten identisch) näher ausgeführten Sachrügen gestützten Revisionen sind unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

31. Nach den Feststellungen waren die Angeklagten geschäftsführende Gesellschafter der von ihnen im Januar 2007 gegründeten Ra.                                 GmbH (nachfolgend: Ra.   GmbH). Die Gesellschaft war im Rahmen ihres Geschäftsgegenstands im Wesentlichen als Subunternehmer auf Baustellen für andere Firmen tätig.

4Zur Erfüllung der aus den Subunternehmer-Verträgen folgenden Verpflichtungen bediente sich die Ra.   GmbH ungarischer Facharbeiter.

5Diese hatten auf die Initiative der Zeugen L.   , Sa.  und P.     , die zuvor als Bauleiter ungarischer Werkvertragsfirmen in Deutschland tätig waren, im März, April und Juni 2007 drei Gesellschaften des bürgerlichen Rechts (BGB-Gesellschaften) gegründet, die jeweils in D.      ansässig waren. Hintergrund der Gesellschaftsgründungen war, dass nach Erweiterung der Europäischen Union durch den Beitrittsvertrag vom (ABl. 2003, L 236/33 und C 227 E) die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Staatsangehörigen der Beitrittsstaaten, zu denen auch Ungarn zählte, bis zum beschränkt war, nicht aber die Niederlassungsfreiheit.

6Die in der Folge von der Ra.   GmbH mit den vorgenannten BGB-Gesellschaften geschlossenen Werkverträge nahmen hinsichtlich der von diesen zu erbringenden Leistungen auf ein Leistungsverzeichnis Bezug und nannten den Leistungsort. Darüber hinaus wurden die Leistungen nicht näher konkretisiert.

7Die Werkverträge wurden tatsächlich nicht ausgeführt. Die ungarischen Staatsangehörigen erbrachten ihre Leistungen nicht auf deren Grundlage, sondern auf der Grundlage der von den Angeklagten erteilten Arbeitsaufträge und anhand der ihnen von den Angeklagten überlassenen Pläne. Die Durchführung der Arbeiten organisierten die Zeugen L.   , Sa.  und P.     . Die „Gesellschafter“ wurden monatlich mit einem Stundenlohn zwischen sieben und zehn Euro entlohnt, wofür monatliche Stundenaufzeichnungen angefertigt wurden. Demgegenüber erfolgte keine Abrechnung anhand der Leistungsverzeichnisse oder aufgrund eines Aufmaßes. Der Charakter der Zahlungen der Ra.   GmbH an die BGB-Gesellschaften wurde dadurch verschleiert, dass die Angeklagten Vorschussrechnungen der BGB-Gesellschaften an die Ra.   GmbH erstellten.

8Auch im Übrigen wurden die Buchhaltung und der Schriftverkehr der BGB-Gesellschaften durch die Angeklagten veranlasst. Hierfür verwahrte der Angeklagte R.      sämtliche Geschäftsunterlagen aller drei BGB-Gesell-schaften, die Firmenstempel und die Bankunterlagen der Gesellschaften einschließlich der PIN der Bankkarten. Auf einem Notebook des Angeklagten R.      fanden sich Mustervorlagen sowohl für interne Vorgänge der BGB-Gesellschaften (z.B. Kündigungen, Vollmachten u.a.) als auch für deren externe geschäftliche Korrespondenz (Gewerbeanmeldungen, Rechnungen u.a.).

9Die BGB-Gesellschaften waren allein für die Ra.   GmbH tätig. Um diesen Umstand zu verschleiern, schalteten die Angeklagten teilweise eine andere Firma (F.    Metallgestaltung) als Auftraggeber der BGB-Gesellschaften zwischen. Tatsächlich wurden gegenüber dieser zwischengeschalteten Firma keine Leistungen erbracht. Diese erstellte lediglich „sog. Abdeckrechnungen“, wofür der Firmeninhaber als Honorar ca. fünf bis zehn Prozent des fingierten Auftragsvolumens erhielt.

102. Diese Feststellungen tragen die Wertung des Landgerichts, dass die Werkverträge zwischen der Ra.   GmbH und den BGB-Gesellschaften lediglich zum Schein geschlossen wurden und die Ra.   GmbH, als deren vertretungsberechtigtes Organ die Angeklagten handelten (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB), Arbeitgeber der „Gesellschafter“ war. Für die Beurteilung, ob ein sozialversicherungs- und lohnsteuerpflichtiges Arbeitsverhältnis vorliegt, sind allein die tatsächlichen Gegebenheiten maßgeblich, nicht eine zur Verschleierung gewählte Rechtsform. Dementsprechend können die Vertragsparteien die sich aus einem Arbeitsverhältnis ergebenden Beitragspflichten nicht durch eine abweichende vertragliche Gestaltung beseitigen (st. Rspr.; vgl. zuletzt mwN).

113. Diesem Ergebnis stehen auch keine Rechtsakte der Europäischen Union (Art. 288 AEUV) entgegen, insbesondere ist die in Art. 49 AEUV garantierte Niederlassungsfreiheit entgegen der Auffassung der Revision nicht berührt.

12Art. 49 AEUV garantiert die Möglichkeit für einen Gemeinschaftsangehörigen, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der selbstständigen Tätigkeiten gefördert wird (, Kommission/Republik Österreich). Die Niederlassungsfreiheit umfasst insbesondere die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten (vgl. Forsthoff in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 43. Auflage 2011, AEUV Art. 49 Rn. 16), wobei das Merkmal der Selbstständigkeit maßgeblich für die Abgrenzung von den abhängigen Beschäftigungen ist (vgl. Forsthoff, aaO, Rn. 51).

13Die danach vorzunehmende Abgrenzung erfolgt insoweit (auch) nach der Rechtsprechung des EuGH anhand objektiver Kriterien, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält ( 66/85, Lawrie-Blum; Urteil vom - C-268/99, Jany; Urteil vom - C-107/94, Asscher). Die Antwort auf die Frage, ob ein solches Arbeitsverhältnis gegeben ist, hängt dabei von der Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände ab, die die Beziehungen zwischen den Parteien charakterisieren, wie etwa die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens, die freie Gestaltung der Arbeitszeit und der freie Einsatz eigener Hilfskräfte ( - 3/87, Agegate).

14Auch nach diesen gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben, die im Übrigen auch im Wesentlichen mit denen des deutschen Rechts übereinstimmen, steht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen außer Frage, dass es sich bei den fraglichen Rechtsbeziehungen zwischen der Ra.   GmbH und den BGB-Gesellschaftern um Arbeitsverhältnisse handelte, für die allein die im Tatzeitraum nach Maßgabe des Beitrittsvertrags vom beschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt (vgl. insoweit auch den Schlussantrag des Generalanwalts Maduro vom in der Rechtssache C-161/07, Kommission/Republik Österreich Rn. 35).

154. Vor diesem Hintergrund ist der Senat nicht gehalten, dem Antrag der Revision zu folgen, nach Maßgabe von Art. 267 AEUV ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Dieses wäre nur geboten, wenn über die Auslegung der Verträge der Europäischen Union oder der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union zu entscheiden ist, wobei grundsätzlich sämtliche Rechtssätze des Unionsrechts Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein können (Calliess/Ruffert, EUV/AEUV 4. Aufl., AEUV Art. 267 Rn. 8 ff.).

16Sind demgegenüber - wie hier - die im konkreten Fall maßgeblichen Rechtssätze des Unionsrechts durch den EuGH eindeutig und zweifelsfrei ausgelegt und beschränkt sich die Anwendung des ausgelegten Rechts auf den konkret zur Entscheidung stehenden Einzelfall, ist diese Rechtsanwendung ebenso wie die Feststellung und tatsächliche Bewertung der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Tatsachen allein Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte ( 222/78, ICAP; Urteil vom - C-297/88, C-197/89, Dzodi; Urteil vom - C-342/97, Lloyd; Urteil vom - C-87/97, Consorzio per la tutela del fromaggio Gorgonzola).

175. Auch im Übrigen hat die auf Grund der Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils keine den Angeklagten belastenden Rechtsfehler ergeben. Dies gilt auch für die Entscheidung des Landgerichts, die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafen nicht zur Bewährung auszusetzen.

18Die Strafkammer hat eine umfassende Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit der Angeklagten einschließlich deren Nachtatverhalten vorgenommen und das ihr insoweit zukommende Ermessen, dessen Ausübung das Revisionsgericht im Zweifel bis zur Grenze des Vertretbaren zu respektieren hat (st. Rspr.; vgl. , NJW 1995, 1038), pflichtgemäß ausgeübt. Rechtsfehler zeigen die Revisionen in diesem Zusammenhang nicht auf.

196. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten R.      gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung im angefochtenen Urteil ist als unbegründet zu verwerfen, da die Entscheidung der Rechtslage entspricht.

Nack                               Wahl                                  Graf

                  Jäger                                 Sander

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Fundstelle(n):
ZAAAI-08569