Beweiswürdigung in Strafsachen: Verwertbarkeit visueller Eindrücke des Gesamtverhaltens von Angeklagten und Zeugen
Gesetze: § 55 StPO, § 261 StPO, § 267 StPO
Instanzenzug: Az: 100 Js 40760/16 - 1 Ksnachgehend Az: 5 StR 175/20 Beschluss
Tenor
Die Revisionen der Angeklagten gegen das werden als unbegründet verworfen, diejenige des Angeklagten M. mit der Maßgabe, dass das Urteil dahin ergänzt wird, dass die in Österreich erlittene Auslieferungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet wird; im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils anhand der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat zu den erhobenen Verfahrensrügen:
1. Die Bedenken der Revision des Angeklagten S. gegen die Verwertung des von einer Privatperson spontan aufgenommenen Tatvideos wegen angeblicher Verstöße gegen Jugend- und Datenschutzrecht, Urheber- und allgemeines Persönlichkeitsrecht teilt der Senat nicht. Selbst wenn – was indes vorliegend fernliegt – die Aufnahmen von einem Privaten rechtswidrig erfolgt wären, stünde dies ihrer Verwertbarkeit im vorliegenden Strafverfahren wegen Mordes nicht entgegen (vgl. zum Ausnahmecharakter von Beweisverwertungsverboten und der gebotenen Abwägung nur , NStZ 2019, 227; BVerfGE 130, 1; zur Verwertbarkeit von Dashcam-Aufnahmen im Zivilprozess auch , BGHZ 218, 348; jeweils mwN).
2. Die Rügen, das Gericht habe gegen § 261 StPO und den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, indem es das äußere Erscheinungsbild der nach § 55 StPO die Aussage verweigernden Zeugen verwertet hat, ohne die Angeklagten darauf hinzuweisen, sind jedenfalls unbegründet.
Das Tatgericht darf und muss bei der Überzeugungsbildung nach § 261 StPO alles verwerten, was Gegenstand der Hauptverhandlung ist. Hierzu gehören auch äußere Erscheinung, Mimik, Gestik, Auftreten und Sprachverhalten von Angeklagten, Zeugen und Mitangeklagten (vgl. KK-StPO/Ott, 8. Aufl. 2019, § 261 Rn. 39 f.; SSW-StPO/Schluckebier, 4. Aufl., § 261 Rn. 7; LR-StPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 16, 89, jeweils mwN). Dies gilt gleichermaßen, wenn ein Angeklagter oder Zeuge die Aussage oder das Zeugnis berechtigt verweigert (vgl. , GA 1965, 108 für § 52 StPO; Sander, aaO Rn. 16; aufgrund unzutreffender redaktioneller Leitsatzbildung missverständlich rezipiert dagegen in StV 1993, 458). Ein solcher Vorgang ist, soweit sich die wahrgenommenen Umstände offen darbieten, kein Teil einer verfahrensrechtlichen Inaugenscheinnahme (vgl. ; Ott, aaO Rn. 40; vgl. auch , aaO; abweichend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 86 Rn. 14 mwN für den Fall der Einlassungs- oder Aussageverweigerung; anders bei Zuhörern, vgl. , NStZ 1995, 609).
Verwertet das Gericht solche für jeden Verfahrensbeteiligten sichtbaren visuellen Eindrücke nach § 261 StPO, muss es die Verfahrensbeteiligten nicht ausdrücklich darauf hinweisen (vgl. auch , NStZ 2019, 297, 300). Denn das Tatgericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, sich zum Inhalt oder Ergebnis von Beweiserhebungen ausdrücklich zu erklären (vgl. , BGHSt 43, 212).
Cirener
Berger
Mosbacher
Resch
von Häfen
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:180820B5STR175.20.0
Fundstelle(n):
OAAAH-95500