Verständigung im Strafverfahren: Vorliegen eines mitteilungspflichtigen Verständigungsgesprächs
Gesetze: § 243 Abs 4 S 2 StPO, § 257b StPO, § 257c StPO
Instanzenzug: LG Traunstein Az: 260 Js 46971/16 - 2 KLs
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 144 Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt; zudem hat es gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe der ersparten Sozialversicherungsbeiträge mit einem Betrag von 960.638,87 € angeordnet. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
21. Der Beanstandung, mit der der Angeklagte die unterbliebene Bekanntgabe eines außerhalb der Hauptverhandlung geführten Verständigungsgesprächs geltend macht (§§ 257c, 243 Abs. 4 Satz 2 StPO), liegt folgendes Geschehen zugrunde:
3a) Wiederholt regte die Verteidigung eine Verfahrensverständigung an und wollte in diesem Zusammenhang wissen, wie sich ein Geständnis des Angeklagten auswirken würde. Am führte einer der Verteidiger mit dem Vorsitzenden hierüber ein Telefonat. In der Verhandlung vom nahm der Vorsitzende auf dieses Telefonat Bezug; in einer Verhandlungsunterbrechung sprachen die Verfahrensbeteiligten über die Voraussetzungen und Auswirkungen eines "überschießenden" Geständnisses des Angeklagten, mit welchem er gewissermaßen als "Kronzeuge" die Inhaber von sogenannten Serviceunternehmen, von denen er für seine Einzelfirma Scheinrechnungen gegen Entgelt erworben hatte, belasten wollte. Der Vorsitzende äußerte, eine Strafe unter Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung käme allenfalls dann in Frage, wenn die Angaben des Angeklagten derart Substanz hätten, dass sie die Strukturen und Hintergründe der Servicegesellschaften erheblich aufklären würden. Stünden indes der Strafverfolgung der Hintermänner Verjährungshindernisse entgegen, sei ein Geständnis nicht viel wert und eine Bewährung nicht möglich.
4b) Über dieses Gespräch berichtete der Vorsitzende nicht in der Hauptverhandlung. Eine Verständigung wurde nicht erzielt; der Angeklagte machte weiterhin keine Angaben zur Sache.
52. Auf dieser Tatsachengrundlage beanstandet der Beschwerdeführer zu Recht, dass der Vorsitzende seiner Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 2, 1 StPO nicht genügt habe.
6a) Die Verfahrensrüge ist zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
7aa) Sämtliche Gespräche, in denen eine Verständigung erörtert worden ist, sind mitteilungspflichtig. Zum Darlegen eines Verfahrensverstoßes gegen die Mitteilungspflicht reicht es daher grundsätzlich aus, den Inhalt einer bestimmten, gegebenenfalls qualitativ neuen angestrebten Verständigung vorzutragen. Andere Gespräche, auch sonstige zur Verfahrensförderung geeignete Erörterungen (§ 257b StPO) sind damit regelmäßig nicht zum Gegenstand der Verfahrensrüge zu machen ( Rn. 9).
8bb) Die Verfahrensrüge ist auch nicht etwa deswegen unzulässig, weil der Vortrag die Anwesenheit des Angeklagten beim Gespräch am verschwiegen hätte. Denn dies ist gerade nicht erwiesen (siehe nachfolgend unter c) aa)).
9b) Durch das Unterlassen einer Mitteilung über die Erörterung am hat der Vorsitzende gegen § 243 Abs. 4 Satz 2, 1 StPO verstoßen.
10aa) Nach dieser Vorschrift ist über Erörterungen zu berichten, die außerhalb einer laufenden Hauptverhandlung geführt worden sind und deren Gegenstand die "Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist". Der Umstand und der Inhalt des Verständigungsgesprächs sind damit auch dann mitzuteilen, wenn die Bemühungen erfolglos geblieben sind (st. Rspr.; Rn. 45; Beschluss vom – 2 StR 262/20 Rn. 6; je mwN). Von einem solchen Bemühen um Verständigung ist auszugehen, sobald bei den Gesprächen ausdrücklich oder konkludent Fragen des prozessualen Verhaltens in Verbindung zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 2/19 Rn. 10 und vom – 3 StR 216/16, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilungspflicht 10 Rn. 12; je mwN).
11Ein bloßes Rechtsgespräch über die (vorläufige) Einschätzung der Sach-, Beweis- und Rechtslage (vgl. § 257b StPO) oder ein allgemeiner Hinweis etwa auf die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses zielt solange nicht auf eine einvernehmliche und damit mitteilungspflichtige Verfahrenserledigung ab, als das Gericht nicht eine "Gegenleistung" für eine vom Angeklagten angebotene "Leistung" in Aussicht stellt (BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 2/19 Rn. 11 f., 14 und vom – 5 StR 9/15 Rn. 15 f.). Es genügt indes, wenn die Erörterungen von den Verfahrensbeteiligten als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können; im Zweifel wird über das Gespräch zu berichten sein (BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 343/18 Rn. 12 und vom – 1 StR 564/17 Rn. 7; je mwN).
12bb) An diesen Grundsätzen gemessen haben die Verfahrensbeteiligten am ein mitteilungspflichtiges Verständigungsgespräch geführt.
13(1) Der ausreichend präzise Sachvortrag des Angeklagten wird durch die dienstliche Stellungnahme der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft bestätigt. Zwar meint der Vorsitzende, er habe von vornherein klargestellt, dass vor dem Einstieg in ein Verständigungsgespräch erst hätte geklärt werden müssen, ob die Angaben des Angeklagten überhaupt zur Überführung der Inhaber der Servicegesellschaften in unverjährtem Zeitraum hätten beitragen können; er habe daher allenfalls ein Rechtsgespräch geführt, das er ergebnislos beendet habe. Dem ist nicht zu entnehmen, dass das Gericht das erneute Ansinnen der Verteidigung, mittels eines Geständnisses eine Strafe zu erreichen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden sollte, strikt zurückgewiesen hätte. Gerade ein solches Begehren war Anlass für das erneute Gespräch. Nicht nur die "finalen", also zielführenden Erörterungen unterliegen der Mitteilungspflicht, sondern auch gegebenenfalls erste Vorgespräche (vgl. , BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilung 4 Rn. 14 f.). Möglichen Unklarheiten zwischen den Verfahrensbeteiligten soll durch eine genaue Dokumentation der Erörterungen und deren anschließende Bekanntmachung in öffentlicher Hauptverhandlung begegnet werden.
14(2) Schließlich unterscheidet sich der Versuch der Verteidigung, dem Gericht ein "überschießendes" Geständnis anzutragen, von den bisherigen Bemühungen, mittels eines sich nur auf die Anklage beziehenden Geständnisses eine Strafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden soll, zu erzielen. Das Eingehen des Gerichts auf diesen Versuch hat eine neue Mitteilungspflicht ausgelöst, weil sich damit "Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung ergeben haben" (§ 243 Abs. 4 Satz 2, 1 StPO) und auch gegenüber vorangegangenen Erörterungen (vgl. dazu Rn. 47 f. mwN).
15c) Es ist nicht auszuschließen, dass das angefochtene Urteil insgesamt auf der unterlassenen Mitteilung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO), auch wenn der Schuldspruch für sich genommen auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung (sichergestellten "Schattenbuchhaltung"; Feststellungen zu den Serviceunternehmen) gründet.
16aa) Durch die dienstlichen Stellungnahmen der Berufsrichter ist der Vortrag des Beschwerdeführers, er sei beim Gespräch am nicht dabei gewesen, nicht widerlegt. Hierfür fehlt ein belastbares Indiz; auch die Gegenerklärung der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft hilft insoweit nicht bei der Aufklärung.
17Ohnehin trägt die Mitteilungspflicht nicht nur dem Umstand Rechnung, einen abwesenden Angeklagten zu informieren, sondern will auch über die Verfahrenstransparenz und damit einhergehende -kontrolle durch die Öffentlichkeit den Angeklagten vor einer "unfairen" Abrede schützen ( Rn. 45 mwN).
18bb) Der Verstoß ist auch nicht etwa als gering zu werten. Denn die Mitteilung ist gänzlich unterblieben (vgl. Rn. 16).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:160621B1STR92.21.0
Fundstelle(n):
YAAAH-92692