BGH Urteil v. - KZR 69/18

Kartellschadensersatz: Anscheinsbeweis und tatsächliche Vermutung für die Schadensentstehung bei einem Schienenkartell

Gesetze: § 1 GWB 2005, § 33 Abs 3 S 1 GWB 2005

Instanzenzug: Az: 29 U 2644/17 Kart Urteilvorgehend LG München I Az: 37 O 3331/15

Tatbestand

1Die Klägerin, ein kommunales Versorgungs- und Dienstleistungsunternehmen der Stadt München nimmt die Beklagte auf Ersatz kartellbedingten Schadens in Anspruch.

2Zwischen den Jahren 2002 und 2011 erteilte die Klägerin der Beklagten Aufträge für die Lieferung von Materialien für den Gleisoberbau. Dabei handelte es sich um vier reine Weichenprojekte und mit den Vorhaben "Romanplatz" (Auftragserteilung am ) und "Gleisdreieck Nordbad" (Auftragserteilung am ) um zwei "weichenlastige" Projekte. Sämtlichen Aufträgen lagen die Allgemeinen Einkaufsbedingungen der Klägerin für Lieferungen und Leistungen (AEBL) und/oder die Zusätzlichen Vertragsbedingungen der Landeshauptstadt München zur Verdingungsordnung für Leistungen (ZV-VOL) zugrunde, die jeweils folgende Regelung enthielten:

"Wird nach [Auftrags- bzw. Zuschlagserteilung] offenbar, dass das zugrundeliegende Angebot [nachweislich] durch Preisabsprache zustande kam oder dass der [Auftragnehmer bzw. Bieter] in anderer Weise den Wettbewerb eingeschränkt hatte, so hat der Auftragnehmer als Schadensersatz 5 v.H. der Auftragssumme an die [Klägerin bzw. Stadt] zu zahlen, es sei denn, dass eine andere Schadenshöhe nachgewiesen wird. Dies gilt auch, wenn der Vertrag gekündigt oder bereits erfüllt ist."

3Mit Bescheiden vom verhängte das Bundeskartellamt unter anderem gegen die Streithelferinnen zu 2 bis 4 und die Fehlings Narosch Gleistechnik und Entsorgungs GmbH jeweils ein Bußgeld wegen Beteiligung an dem Kartell der "Schienenfreunde". Die Beklagte beteiligte sich an den Absprachen im Marktsegment "Weichen". Gegen sie erging am ein Bußgeldbescheid, welcher nicht in Bestandskraft erwachsen ist.

4Die Klägerin macht geltend, sie habe aufgrund des Kartells überhöhte Preise zahlen müssen. Sie hat ursprünglich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Schadensersatz in einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Höhe, mindestens jedoch 454.038,43 € nebst Zinsen, zu zahlen. Das Landgericht hat - unter Abweisung der Klage im Übrigen - durch Teilend- und Grundurteil den Klageantrag mit Ausnahme der Ansprüche, die sich auf das Vorhaben "Gleisdreieck Nordbad" beziehen, für gerechtfertigt angesehen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht die Klage auch in Bezug auf den abgewiesenen Anspruch für gerechtfertigt erklärt. Die Berufungen der Streithelferinnen zu 1 und 2, die sich allein gegen den Ausspruch zu dem auf das Bauvorhaben "Romanplatz" bezogenen Anspruch gerichtet haben, hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr auf Klagabweisung gerichtetes Begehren im Hinblick auf die beiden im Berufungsrechtszug nur noch in Streit stehenden Beschaffungsvorgänge weiter.

Gründe

5I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

6Der Klägerin stehe im Hinblick auf das Bauvorhaben "Romanplatz" ein Schadensersatzanspruch dem Grunde nach zu. Für die Kartellbetroffenheit streite ein Anscheinsbeweis, den die Beklagte nicht erschüttert habe. Zudem sei der Klägerin ein Schaden entstanden. Auch den insoweit zugrunde zu legenden Anscheinsbeweis habe die Beklagte nicht erschüttert. Ein Schadensersatzanspruch stehe der Klägerin auch im Hinblick auf das Bauvorhaben "Gleisdreieck Nordbad" zu. Auch wenn Mitarbeiter der Beklagten nicht an Absprachen bezüglich dieses Projekts beteiligt gewesen seien, sei es kartellbefangen gewesen, weil sich die Streithelferin zu 3 und die voestalpine Klöckner aufgrund der Absprachen und "Buchungen" für andere Projekte nicht ernsthaft um dieses Projekt bemüht hätten. Insoweit sei der Klägerin - wie sich unter Würdigung aller Umstände nach § 287 Abs. 1 ZPO feststellen lasse - auch ein Schaden entstanden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass das zweitgünstigste Angebot der voestalpine Klöckner kartellbedingt überhöht gewesen sei, wie aus einem zugunsten der Klägerin streitenden Anscheinsbeweis folge, den die Beklagte nicht erschüttert habe. Da das Angebot der Beklagten nur geringfügig günstiger gewesen sei als das der voestalpine Klöckner, bestehe eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass auch das Angebot der Beklagten über dem Angebotspreis gelegen habe, der ohne die Kartellabsprache abgeben worden wäre. Nach zehnjähriger Dauer des Kartells sei ein kartellbedingter Preisaufschlag von mehr als 5 Prozent wahrscheinlich, so dass die Differenz von 4,7 Prozent zwischen dem Angebot der Beklagten und den - nach erstem Anschein - kartellbedingt erhöhten Angeboten auf einen vom Kartell beeinflussten Preis schließen lasse. Zudem habe die Beklagte als Kartellbeteiligte von den erzielbaren Preisen und den vorangegangenen Preisabsprachen Kenntnis gehabt und sich jedenfalls an diesem Preisniveau orientiert. Die Beklagte hafte für den eingetretenen Schaden auch dann, wenn sie von den anderen Kartellbeteiligten über die Aufteilung der drei Münchner Projekte nicht informiert worden sein sollte. Da sie in der Vergangenheit an Kartellabsprachen über lange Jahre beteiligt gewesen sei, habe sie an der preissteigernden Wirkung des Kartells mitgewirkt und hafte für die dadurch verursachten Schäden unabhängig von der Mitwirkung an einer Einzelabsprache.

7II. Über die Revision ist durch Versäumnisurteil zu entscheiden, da die Klägerin in der mündlichen Verhandlung trotz rechtzeitiger Ladung zum Termin nicht vertreten war. Das Urteil beruht inhaltlich jedoch nicht auf der Säumnis, sondern auf einer Sachprüfung (vgl. , BGHZ 37, 79, 81 f.).

8Die Revision hat Erfolg. Das Berufungsurteil hält der revisionsrechtlichen Überprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch dem Grunde nach nicht bejaht werden.

91. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Klageantrag hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 ZPO. Dafür genügt, wie im Streitfall, die summenmäßige Bezifferung eines vom Kläger begehrten Mindestschadens, wenn der Kläger es in das Ermessen des Gerichts stellt, einen etwaigen darüber hinausgehenden Betrag zu bestimmen (vgl. , GRUR 2006, 219 Rn. 11 - Detektionseinrichtung II; , WuW 2020, 597 Rn. 17 - Schienenkartell IV).

102. Das Berufungsgericht ist in der Sache zutreffend davon ausgegangen, dass für die noch streitgegenständlichen Beschaffungsvorgänge, als Anspruchsgrundlage § 33 Abs. 3 Satz 1 GWB 2005 in Verbindung mit § 1 GWB in Betracht kommt (vgl. , BGHZ 224, 281 Rn. 18 - Schienenkartell II, mwN).

113. Mit Recht hat das Berufungsgericht einen schuldhaften Verstoß der Beklagten gegen § 1 GWB festgestellt und dabei angenommen, dass nach den Feststellungen des Bundeskartellamts im (nicht bestandskräftigen) Bußgeldbescheid, die die Beklagte zugestanden hat, sie und ihre Streithelferinnen über einen längeren Zeitraum an wettbewerbsbeschränkenden Absprachen beteiligt waren. Danach praktizierten Hersteller und Händler von Schienen, Weichen und Schwellen spätestens seit 2001 bis zur Aufdeckung des Kartells im Mai 2011 auf dem Privatmarkt in Deutschland Preis-, Quoten- und Kundenschutzabsprachen (näher BGHZ 224, 281 Rn. 21 - Schienenkartell II).

124. Das Berufungsgericht ist im Ergebnis auch mit Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen berechtigt ist.

13a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Voraussetzung des haftungsbegründenden Tatbestands eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs sowohl nach § 33 Satz 1 GWB 1999 als auch nach § 33 Abs. 3, Abs. 1 GWB 2005 ebenso wie nach § 823 Abs. 2 BGB, dass dem Anspruchsgegner ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten anzulasten ist, das - vermittelt durch den Abschluss von Umsatzgeschäften oder in anderer Weise - geeignet ist, einen Schaden des Anspruchstellers unmittelbar oder mittelbar zu begründen, wobei für die Feststellung dieser Voraussetzung der Maßstab des § 286 ZPO gilt. Angesichts der Besonderheiten des kartellrechtlichen Deliktstatbestands kommt es auf die Frage, ob sich die Kartellabsprache auf den in Rede stehenden Beschaffungsvorgang, auf den der Anspruchsteller sein Schadensersatzbegehren stützt, tatsächlich nachteilig ausgewirkt hat, nicht an und bedarf es auch nicht der Feststellung einer konkret-individuellen Betroffenheit (BGHZ 224, 281 Rn. 25 - Schienenkartell II; BGH, WuW 2020, 597 Rn. 25 - Schienenkartell IV; Urteil vom - KZR 4/19, WuW 2021, 37 Rn. 16 f. - Schienenkartell V).

14b) Wie das Berufungsgericht im Ergebnis mit Recht angenommen hat, sind die vorstehenden Voraussetzungen für die Annahme der Betroffenheit im Streitfall erfüllt, weil die Klägerin von am Kartell beteiligten Unternehmen Waren erworben hat, welche Gegenstand der Kartellabsprache waren. Die von der Revision hiergegen erhobenen Rügen bleiben ohne Erfolg. Es erscheint angesichts der Art und Weise des festgestellten Verstoßes möglich, dass der Klägerin ein kartellbedingter Schaden auch dann entstanden ist, wenn der Auftrag eine patentgeschützte Technologie der Beklagten betraf (BGH, WuW 2021, 37 Rn. 19 ff. - Schienenkartell V); im Übrigen hat das Berufungsgericht die Ausschreibungsunterlagen rechtsfehlerfrei dahin ausgelegt, dass eine patentgemäße Ausführung nicht zwingend erforderlich war.

155. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann jedoch nicht angenommen werden, dass der Klägerin aufgrund der Kartellabsprache zwischen den beteiligten Unternehmen - mit der für ein Zwischenurteil nach § 304 ZPO erforderlichen Wahrscheinlichkeit (, NZKart 2019, 101 Rn. 38 - Schienenkartell I; s.a. Urteil vom - KZR 63/18, juris Rn. 57 - Schienenkartell VI) - überhaupt ein Schaden entstanden ist.

16a) Die Annahme des Berufungsgerichts, es streite für die Klägerin ein von der Beklagten nicht erschütterter Anscheinsbeweis dafür, dass der im Fall des Vorhabens "Romanplatz" von der Beklagten geforderte Preis sowie derjenige, den die ebenfalls am Kartell beteiligten voestalpine Klöckner mit dem zweitgünstigsten Angebot aufgerufen habe, infolge des Kartells über dem Wettbewerbspreis gelegen habe, steht mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht in Einklang. Für die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises fehlt es - wie der Bundesgerichtshof nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat - bei einem Quoten- und Kundenschutzkartell, wie es hier in Rede steht, an der dafür erforderlichen Typizität des Geschehensablaufs (BGH, NZKart 2019, 101 Rn. 57 - Schienenkartell I; WuW 2020, 597 Rn. 28 - Schienenkartell IV). Danach streitet zwar zugunsten des Abnehmers eines an einer Kartellabsprache beteiligten Unternehmens eine auf der hohen Wahrscheinlichkeit eines solchen Geschehens beruhende tatsächliche Vermutung - im Sinne eines Erfahrungssatzes - grundsätzlich dafür, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten (, BGHSt 38, 186, 194; Beschluss vom - KRB 2/05, WuW/E DE-R 1567, 1569 - Berliner Transportbeton I; Beschluss vom - KRB 20/12, BGHSt 58, 158 Rn. 76 - Grauzementkartell I; , WRP 2018, 941 Rn. 35 - Grauzementkartell II; NZKart 2019, 101 Rn. 55 - Schienenkartell I; BGHZ 224, 281 Rn. 40 - Schienenkartell II). Die Berücksichtigung eines solchen Erfahrungssatzes führt aber nicht zu einer Umkehr der Beweislast. Vielmehr ist der einschlägige Erfahrungssatz im Rahmen der nach § 287 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Gesamtwürdigung sämtlicher für und gegen die Schadensentstehung sprechenden Indiztatsachen zu berücksichtigen (näher BGHZ 224, 281 Rn. 36 - Schienenkartell II; BGH, WuW 2021, 37 Rn. 26 f. - Schienenkartell V).

17b) Die danach erforderliche Gesamtwürdigung sämtlicher für und gegen die Entstehung eines Schadens sprechenden Indizien hat das Berufungsgericht nicht vorgenommen. Auch wenn es sich bei der Feststellung eines kartellbedingten Schadens im Hinblick auf das Vorhaben "Gleisdreieck Nord" auf eine Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls stützt, liegt diesen Erwägungen die nach den vorstehenden Ausführungen verfahrensfehlerhafte Annahme zugrunde, es spreche ein Anscheinsbeweis dafür, dass das im Rahmen dieser Ausschreibung zweitgünstigste und nicht zum Zuge gekommene Angebot der voestalpine Klöckner kartellbedingt überhöht gewesen sei.

18III. Da sich das Urteil des Berufungsgerichts nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO), ist es aufzuheben (§ 562 ZPO). Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil er der vom Tatrichter vorzunehmenden Würdigung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls nicht vorgreifen kann. Die Sache ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

19IV. Bei der erneuten Prüfung, ob der Klägerin die geltend gemachten Schadensersatzansprüche zustehen, wird das Berufungsgericht die vertraglich vereinbarte Schadenspauschalierung in den Blick zu nehmen (vgl. , juris Rn. 17 ff. - Schienenkartell VI) sowie die Anforderungen an die Tatsachenfeststellung und an die Berücksichtigung der Vorteilsausgleichung zu beachten haben, wie sie der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu entnehmen sind (BGHZ 224, 281 Rn. 34 ff. - Schienenkartell II; BGH, WuW 2020, 597 Rn. 43 ff. - Schienenkartell IV; WuW 2021, 37 Rn. 43 ff. - Schienenkartell V).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:130421UKZR69.18.0

Fundstelle(n):
MAAAH-87324