BVerwG Beschluss v. - 6 AV 1/21, 6 AV 2/21

Keine Bindungswirkung durch willkürlichen Verweisungsbeschluss

Leitsatz

1. Bei einem rechtswegübergreifenden negativen Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der ordentlichen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist für die Bestimmung des zuständigen Gerichts in analoger Anwendung des § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO derjenige oberste Gerichtshof des Bundes zuständig, der einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung).

2. Auch ein unanfechtbarer, fehlerhafter Verweisungsbeschluss an ein Gericht einer anderen Gerichtsbarkeit ist gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Das gilt nur dann nicht, wenn die Entscheidung ausnahmsweise schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist, d.h. nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.

3. Die Verweisung eines beim Amtsgericht/Familiengericht angeregten, auf Maßnahmen gegen eine Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB abzielenden Amtsverfahrens an ein Verwaltungsgericht ist verfahrensfehlerhaft und löst wegen des dadurch auftretenden unauflösbaren Widerspruchs mit Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung keine Bindungswirkung aus.

Gesetze: § 1666 Abs 1 BGB, § 1666 Abs 4 BGB, § 23 FamFG, § 24 FamFG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 17a GVG, § 40 Abs 1 S 1 VwGO, § 53 Abs 1 Nr 5 VwGO, § 53 Abs 3 S 1 VwGO

Instanzenzug: Az: 5 L 339/21 Beschlussvorgehend Az: 5 L 340/21 Beschluss

Gründe

I

1Die Antragsteller, vertreten durch ihre Eltern, haben bei dem Amtsgericht Tecklenburg die Einleitung eines "Kinderschutzverfahrens gem. § 1666 Abs. 1 und 4 BGB" zur Beendigung der nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls angeregt, die sich u.a. aufgrund schulinterner Anordnungen zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes sowie zur Einhaltung von Mindestabständen zu anderen Personen ergebe. Deren Aufhebung sowie zeitnahe familiengerichtliche Anordnungen gegenüber den Lehrkräften und der Schulleitung seien zur Abwehr von Schäden der Antragsteller dringend erforderlich.

2Das Amtsgericht/Familiengericht hat nach Anhörung der Antragsteller, die sich einer Verweisung widersetzt haben, mit Beschlüssen vom den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und die Rechtsstreitigkeiten an das Verwaltungsgericht Münster verwiesen. Denn die Antragsteller wendeten sich gegen hoheitliches Handeln und für solche Streitigkeiten sei ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Die Beschlüsse sind unanfechtbar.

3Das Verwaltungsgericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich für unzuständig halte und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Mit Beschlüssen vom hat es den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und das Bundesverwaltungsgericht zur Bestimmung der Zuständigkeit angerufen.

II

41. Das Bundesverwaltungsgericht ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Amtsgericht Tecklenburg und dem Verwaltungsgericht Münster berufen.

5Gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 VwGO wird ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit von dem Gericht entschieden, das den beteiligten Gerichten übergeordnet ist. Zwar ist diese Vorschrift auf den Kompetenzkonflikt zwischen einem Verwaltungsgericht und einem Amtsgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber - im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes - in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste Bundesgericht den negativen Kompetenzkonflikt zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird ( 6 AV 11.19 - NJW 2019, 2112; - NJW 2001, 3631 <3632>). Denn obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den bestrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. - MDR 2013, 1242 zu § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO). Eine solche Situation ist vorliegend gegeben. Sowohl das Amtsgericht Tecklenburg als auch das Verwaltungsgericht Münster haben entschieden, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei.

62. Für eine Entscheidung über die von den Antragstellern angeregten Maßnahmen gegenüber der Schule ist das Amtsgericht Tecklenburg/Familiengericht trotz der Verweisungsbeschlüsse vom zuständig geblieben. Denn die Antragsteller haben keinen kontradiktorischen Parteistreit um Unterlassungsansprüche gegen die Schule eingeleitet (2.1), so dass sich die Verweisungen des Amtsgerichts in so qualifizierter Weise als verfahrensfehlerhaft erweisen, dass sie keine Bindungswirkung zu äußern vermögen (2.2).

72.1 Die Auslegung der an das Amtsgericht/Familiengericht gerichteten Schreiben der Antragsteller vom führt zu dem Ergebnis, dass sie keine gegen die Schule gerichteten Unterlassungsansprüche in einem kontradiktorischen Parteistreit geltend machen wollen. Für solch ein gerichtliches Streitverfahren wäre der vom Amtsgericht auf § 17a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GVG gestützte Ausspruch der Unzulässigkeit des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten allerdings im Ergebnis nicht zu beanstanden. Denn über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden. Sie beträfen das Schulverhältnis als Rechtsverhältnis zwischen dem Schüler und einer öffentlichen, von einer Gebietskörperschaft getragenen Schule, deren Handeln in inneren Schulangelegenheiten einschließlich der Schulordnungsmaßnahmen nach nordrhein-westfälischem Landesrecht dem Land zugerechnet wird ( - NWVBl 2011, 270). Davon erfasst würden auch von der Schule angeordnete coronabedingte Schutzmaßnahmen ( - juris Rn. 8 ff.; OLG Naumburg, Beschluss vom - 1 UF 136/21 - juris Rn. 45 ff.).

8Das Begehren der Antragsteller in ihren Schreiben vom an das Amtsgericht/Familiengericht beschränkt sich jedoch ausdrücklich darauf, ein familiengerichtliches Einschreiten des Amtsgerichts/Familiengericht gegen die Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB anzustoßen. Demzufolge liegt kein verfahrenseröffnender Sachantrag als Verfahrens- oder Prozesshandlung vor, sondern lediglich eine an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG. Weder die Verfasser noch deren Kinder wurden dadurch zu Antragstellern im verfahrensrechtlichen Sinne (Ahn-Roth, in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 24 Rn. 3). Ein Prozess- oder Verfahrensrechtsverhältnis wurde durch diese Anregung nicht begründet.

92.2 Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Die Beschlüsse des sind unanfechtbar geworden. Die in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG angeordnete Bindungswirkung tritt auch bei einem fehlerhaften Verweisungsbeschluss ein, etwa wenn der Rechtsweg zu dem verweisenden Gericht entgegen dessen Rechtsauffassung gegeben war ( 6 AV 1.16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4) oder das Gericht den Verweisungsbeschluss entgegen § 17a Abs. 4 Satz 2 GVG nicht begründet oder unter Verletzung des rechtlichen Gehörs ( - NJW 2003, 2990) getroffen hat.

10Mit Rücksicht auf die in § 17a GVG eröffnete Möglichkeit, einen Verweisungsbeschluss in dem in § 17a Abs. 4 Satz 3 - 6 GVG vorgesehenen Instanzenzug überprüfen zu lassen, kann die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines unanfechtbaren Verweisungsbeschlusses allenfalls bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen werden. Das ist nur dann der Fall, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom - 2 BvR 48/70 - BVerfGE 29, 45 <48 f.>, vom - 2 BvR 1107, 1124/77 und 195/79 - BVerfGE 58, 1 <45> und vom - 2 BvR 121/90 - NJW 1992, 359 <361>). Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschlüsse vom - 6 AV 1.16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4 und vom - 6 AV 11.19 - NJW 2019, 2112 Rn. 10; BGH, Beschlüsse vom - X ARZ 138/03 - NJW 2003, 2990 <2991>, vom - Xa ARZ 283/10 - MDR 2011, 253 und vom - X ARZ 95/11 - NJW-RR 2011, 1497; - BFHE 209, 1 <3 f.>). Der den Verweisungsbeschlüssen des zugrundeliegende Verfahrensverstoß erweist sich als in dieser Weise qualifiziert, denn er führt zu einem unauflösbaren systematischen Widerspruch mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung.

11Das Amtsgericht hat auf der Grundlage seines unzutreffenden Verständnisses des Begehrens der Antragsteller zu Unrecht die Konsequenz gezogen, die Verfahren an das Verwaltungsgericht zu verweisen. Denn die Vorschrift des § 17a GVG ist einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine Verweisung von Amts wegen betriebener Verfahren ohne Charakter eines Parteienstreits mangels "Beschreitung eines Rechtswegs" durch einen Antragsteller oder Kläger nicht in Betracht kommt, sondern diese bei fehlender Zuständigkeit einzustellen sind ( - juris Rn. 16; - juris Rn. 5; OLG Frankfurt, Beschluss vom - 4 UF 90/21 - juris Rn. 10; OLG Naumburg, Beschluss vom - 1 UF 136/21 - juris Rn. 48; vgl. ferner Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl. 2021, § 17 Rn. 62; BT-Drs. 16/6308 S. 318 zu § 17a Abs. 6 GVG). Das Verfahren nach § 1666 BGB ist ein Amtsverfahren ( - NJW 2018, 1619; Schwab, in: MüKo zum BGB, Bd. 10, 8. Aufl. 2020, § 1666 Rn. 223; Coester, in: Staudinger, BGB, Buch 4, 2020, § 1666 Rn. 261), so dass das an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Schreiben der Antragsteller - wie bereits ausgeführt - keinen Sachantrag, sondern lediglich eine Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG enthielt (vgl. - FamRZ 2018, 1012). Da kein Antragsverfahren (vgl. § 23 FamFG) vorlag, durfte das Amtsgericht keine Verweisung aussprechen. Mangels Eröffnung des Zivilrechtswegs hätte es entweder auf die Eröffnung eines Verfahrens verzichten oder ein bereits eröffnetes Verfahren einstellen müssen.

12Da sich auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung an ein Verwaltungsgericht das von diesem anzuwendende Prozessrecht im Grundsatz nach der Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt, führt die Verweisung im vorliegenden Fall zu systematischen Friktionen mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung. Zwar hat der iudex ad quem auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes die Rechtsschutzfunktion des verweisenden Gerichts zu übernehmen. Das kann aber allenfalls zu Modifikationen der zugrunde zu legenden Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung führen ( 4 C 216.65 - BVerwGE 27, 170 <175>; - DStRE 2006, 440; Ehlers, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2020, § 41 VwGO/§ 17a GVG Rn. 19), nicht jedoch deren grundlegende Verfahrensgrundsätze überspielen.

13Die Verwaltungsgerichtsordnung gehorcht der Dispositionsmaxime (vgl. §§ 81, 88 und 92 VwGO) und kennt grundsätzlich nur kontradiktorische Parteistreitverfahren. Ein dem § 24 FamFG vergleichbares, von Amts wegen einzuleitendes Verfahren ist dieser Prozessordnung systemfremd und darf deshalb den Verwaltungsgerichten auch nicht im Wege der Verweisung "aufgedrängt" werden (vgl. Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl. 2021, § 17 Rn. 62). Erwiesen sich die vom Amtsgericht/Familiengericht ausgesprochenen verfahrensfehlerhaften Verweisungen als bindend, würde aus einem familiengerichtlichen Amtsverfahren ein kontradiktorischer Parteienstreit vor dem Verwaltungsgericht. Die Antragsteller, die am Amtsgericht keine Prozesshandlung in Form eines verfahrenseinleitenden Sachantrags vorgenommen, sondern als Nichtbeteiligte lediglich bestimmte Maßnahmen angeregt haben, fänden sich nunmehr in der Rolle von Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens wieder. Das entspräche weder ihrem Willen noch ihrer vormaligen Stellung vor dem Amtsgericht und würde zudem Gerichtskosten für sie auslösen, die im familiengerichtlichen Verfahren nicht anfallen. Die Annahme, eine gerichtliche Verweisung könne ein zuvor nicht bestehendes Prozessrechtsverhältnis begründen, erweist sich daher mit den Prinzipien der Verwaltungsgerichtsordnung als schlechterdings unvereinbar. Deshalb lösen die vom Amtsgericht Tecklenburg ausgesprochenen Verweisungen für das Verwaltungsgericht keine Bindungswirkung gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG aus.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2021:160621B6AV1.21.0

Fundstelle(n):
VAAAH-83838