Instanzenzug: Az: 5 L 338/21 Beschluss
Gründe
I
1Der Antragsteller, vertreten durch seine Eltern, hat bei dem Amtsgericht Tecklenburg die Einleitung eines "Kinderschutzverfahrens gem. § 1666 Abs. 1 und 4 BGB" zur Beendigung der nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls angeregt, die sich u.a. aufgrund schulinterner Anordnungen zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes sowie zur Einhaltung von Mindestabständen zu anderen Personen ergebe. Deren Aufhebung sowie zeitnahe familiengerichtliche Anordnungen gegenüber den Lehrkräften und der Schulleitung seien zur Abwehr von Schäden des Antragstellers dringend erforderlich.
2Das Amtsgericht/Familiengericht hat nach Anhörung des Antragstellers, der sich einer Verweisung widersetzt hat, mit Beschluss vom den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und die Rechtsstreitigkeit an das Verwaltungsgericht Münster verwiesen. Denn der Antragsteller wende sich gegen hoheitliches Handeln und für solche Streitigkeiten sei ausschließlich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Der Beschluss ist unanfechtbar.
3Das Verwaltungsgericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es sich für unzuständig halte und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Mit Beschluss vom hat es den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und das Bundesverwaltungsgericht zur Bestimmung der Zuständigkeit angerufen.
II
41. Das Bundesverwaltungsgericht ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Amtsgericht Tecklenburg und dem Verwaltungsgericht Münster berufen.
5Gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 VwGO wird ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit von dem Gericht entschieden, das den beteiligten Gerichten übergeordnet ist. Zwar ist diese Vorschrift auf den Kompetenzkonflikt zwischen einem Verwaltungsgericht und einem Amtsgericht weder unmittelbar anwendbar noch gibt es für einen solchen Fall an anderer Stelle eine gesetzliche Regelung. Diese Regelungslücke ist aber - im Einklang mit der Rechtsprechung anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes - in der Weise zu schließen, dass dasjenige oberste Bundesgericht den negativen Kompetenzkonflikt zwischen den Gerichten verschiedener Gerichtszweige entscheidet, das einem der beteiligten Gerichte übergeordnet ist und zuerst angegangen wird ( 6 AV 11.19 - NJW 2019, 2112; - NJW 2001, 3631 <3632>). Denn obwohl ein nach § 17a GVG ergangener und unanfechtbar gewordener Beschluss, mit dem ein Gericht den bestrittenen Rechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verwiesen hat, nach dem Gesetz keiner weiteren Überprüfung unterliegt, ist eine Zuständigkeitsbestimmung in Analogie zu § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit geboten, wenn es in einem Verfahren zu Zweifeln über die Bindungswirkung der Verweisung kommt und deshalb keines der in Frage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. - MDR 2013, 1242 zu § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO). Eine solche Situation ist vorliegend gegeben. Sowohl das Amtsgericht Tecklenburg als auch das Verwaltungsgericht Münster haben entschieden, dass der Rechtsweg zu ihnen unzulässig sei.
62. Für eine Entscheidung über die von dem Antragsteller angeregten Maßnahmen gegenüber der Schule ist das Amtsgericht Tecklenburg/Familiengericht trotz des Verweisungsbeschlusses vom zuständig geblieben. Denn der Antragsteller hat keinen kontradiktorischen Parteistreit um Unterlassungsansprüche gegen die Schule eingeleitet (2.1), so dass sich die Verweisung des Amtsgerichts in so qualifizierter Weise als verfahrensfehlerhaft erweist, dass sie keine Bindungswirkung zu äußern vermag (2.2).
72.1 Die Auslegung des an das Amtsgericht/Familiengericht gerichteten Schreibens des Antragstellers vom führt zu dem Ergebnis, dass er keine gegen die Schule gerichteten Unterlassungsansprüche in einem kontradiktorischen Parteistreit geltend machen wollte. Für solch ein gerichtliches Streitverfahren wäre der vom Amtsgericht auf § 17a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 GVG gestützte Ausspruch der Unzulässigkeit des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten allerdings im Ergebnis nicht zu beanstanden. Denn über derartige Unterlassungsansprüche hätten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zu entscheiden. Sie beträfen das Schulverhältnis als Rechtsverhältnis zwischen dem Schüler und einer öffentlichen, von einer Gebietskörperschaft getragenen Schule, deren Handeln in inneren Schulangelegenheiten einschließlich der Schulordnungsmaßnahmen nach nordrhein-westfälischem Landesrecht dem Land zugerechnet wird ( - NWVBl 2011, 270). Davon erfasst würden auch von der Schule angeordnete coronabedingte Schutzmaßnahmen ( - juris Rn. 8 ff.; OLG Naumburg, Beschluss vom - 1 UF 136/21 - juris Rn. 45 ff.).
8Das Begehren des Antragstellers in seinem Schreiben vom an das Amtsgericht/Familiengericht beschränkt sich jedoch ausdrücklich darauf, ein familiengerichtliches Einschreiten des Amtsgerichts/Familiengericht gegen die Schule auf der Grundlage des § 1666 Abs. 1 und 4 BGB anzustoßen. Demzufolge liegt kein verfahrenseröffnender Sachantrag als Verfahrens- oder Prozesshandlung vor, sondern lediglich eine an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG. Weder die Verfasser noch deren Kind wurden dadurch zu einem Antragsteller im verfahrensrechtlichen Sinne (Ahn-Roth, in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 24 Rn. 3). Ein Prozess- oder Verfahrensrechtsverhältnis wurde durch diese Anregung nicht begründet.
92.2 Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Der ist unanfechtbar geworden. Die in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG angeordnete Bindungswirkung tritt auch bei einem fehlerhaften Verweisungsbeschluss ein, etwa wenn der Rechtsweg zu dem verweisenden Gericht entgegen dessen Rechtsauffassung gegeben war ( 6 AV 1.16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4) oder das Gericht den Verweisungsbeschluss entgegen § 17a Abs. 4 Satz 2 GVG nicht begründet oder unter Verletzung des rechtlichen Gehörs ( - NJW 2003, 2990) getroffen hat.
10Mit Rücksicht auf die in § 17a GVG eröffnete Möglichkeit, einen Verweisungsbeschluss in dem in § 17a Abs. 4 Satz 3 - 6 GVG vorgesehenen Instanzenzug überprüfen zu lassen, kann die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines unanfechtbaren Verweisungsbeschlusses allenfalls bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen werden. Das ist nur dann der Fall, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom - 2 BvR 48/70 - BVerfGE 29, 45 <48 f.>, vom - 2 BvR 1107, 1124/77 und 195/79 - BVerfGE 58, 1 <45> und vom - 2 BvR 121/90 - NJW 1992, 359 <361>). Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerwG, Beschlüsse vom - 6 AV 1.16 - Buchholz 300 § 17a GVG Nr. 36 Rn. 4 und vom - 6 AV 11.19 - NJW 2019, 2112 Rn. 10; BGH, Beschlüsse vom - X ARZ 138/03 - NJW 2003, 2990 <2991>, vom - Xa ARZ 283/10 - MDR 2011, 253 und vom - X ARZ 95/11 - NJW-RR 2011, 1497; - BFHE 209, 1 <3 f.>). Der dem Verweisungsbeschluss des zugrundeliegende Verfahrensverstoß erweist sich als in dieser Weise qualifiziert, denn er führt zu einem unauflösbaren systematischen Widerspruch mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung.
11Das Amtsgericht hat auf der Grundlage seines unzutreffenden Verständnisses des Begehrens des Antragstellers zu Unrecht die Konsequenz gezogen, das Verfahren an das Verwaltungsgericht zu verweisen. Denn die Vorschrift des § 17a GVG ist einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine Verweisung von Amts wegen betriebener Verfahren ohne Charakter eines Parteienstreits mangels "Beschreitung eines Rechtswegs" durch einen Antragsteller oder Kläger nicht in Betracht kommt, sondern diese bei fehlender Zuständigkeit einzustellen sind ( - juris Rn. 16; - juris Rn. 5; OLG Frankfurt, Beschluss vom - 4 UF 90/21 - juris Rn. 10; OLG Naumburg, Beschluss vom - 1 UF 136/21 - juris Rn. 48; vgl. ferner Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl. 2021, § 17 Rn. 62; BT-Drs. 16/6308 S. 318 zu § 17a Abs. 6 GVG). Das Verfahren nach § 1666 BGB ist ein Amtsverfahren ( - NJW 2018, 1619; Schwab, in: MüKo zum BGB, Bd. 10, 8. Aufl. 2020, § 1666 Rn. 223; Coester, in: Staudinger, BGB, Buch 4, 2020, § 1666 Rn. 261), so dass das an das Amtsgericht/Familiengericht gerichtete Schreiben des Antragstellers - wie bereits ausgeführt - keinen Sachantrag, sondern lediglich eine Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG enthielt (vgl. - FamRZ 2018, 1012). Da kein Antragsverfahren (vgl. § 23 FamFG) vorlag, durfte das Amtsgericht keine Verweisung aussprechen. Mangels Eröffnung des Zivilrechtswegs hätte es entweder auf die Eröffnung eines Verfahrens verzichten oder ein bereits eröffnetes Verfahren einstellen müssen.
12Da sich auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung an ein Verwaltungsgericht das von diesem anzuwendende Prozessrecht im Grundsatz nach der Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt, führt die Verweisung im vorliegenden Fall zu systematischen Friktionen mit den Prozessmaximen der Verwaltungsgerichtsordnung. Zwar hat der iudex ad quem auch im Falle einer fehlerhaften Verweisung mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes die Rechtsschutzfunktion des verweisenden Gerichts zu übernehmen. Das kann aber allenfalls zu Modifikationen der zugrunde zu legenden Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung führen ( 4 C 216.65 - BVerwGE 27, 170 <175>; - DStRE 2006, 440; Ehlers, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2020, § 41 VwGO/§ 17a GVG Rn. 19), nicht jedoch deren grundlegende Verfahrensgrundsätze überspielen.
13Die Verwaltungsgerichtsordnung gehorcht der Dispositionsmaxime (vgl. §§ 81, 88 und 92 VwGO) und kennt grundsätzlich nur kontradiktorische Parteistreitverfahren. Ein dem § 24 FamFG vergleichbares, von Amts wegen einzuleitendes Verfahren ist dieser Prozessordnung systemfremd und darf deshalb den Verwaltungsgerichten auch nicht im Wege der Verweisung "aufgedrängt" werden (vgl. Mayer, in: Kissel, GVG, 10. Aufl. 2021, § 17 Rn. 62). Erwiese sich die vom Amtsgericht/Familiengericht ausgesprochene verfahrensfehlerhafte Verweisung als bindend, würde aus einem familiengerichtlichen Amtsverfahren ein kontradiktorischer Parteienstreit vor dem Verwaltungsgericht. Der Antragsteller, der am Amtsgericht keine Prozesshandlung in Form eines verfahrenseinleitenden Sachantrags vorgenommen, sondern als Nichtbeteiligter lediglich bestimmte Maßnahmen angeregt hat, fände sich nunmehr in der Rolle eines Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens wieder. Das entspräche weder seinem Willen noch seiner vormaligen Stellung vor dem Amtsgericht und würde zudem Gerichtskosten für ihn auslösen, die im familiengerichtlichen Verfahren nicht anfallen. Die Annahme, eine gerichtliche Verweisung könne ein zuvor nicht bestehendes Prozessrechtsverhältnis begründen, erweist sich daher mit den Prinzipien der Verwaltungsgerichtsordnung als schlechterdings unvereinbar. Deshalb löst die vom Amtsgericht Tecklenburg ausgesprochene Verweisung für das Verwaltungsgericht keine Bindungswirkung gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG aus.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2021:210621B6AV3.21.0
Fundstelle(n):
LAAAH-83837