BGH Beschluss v. - 4 StR 258/20

Bewaffneten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und Straßenverkehrsgefährdung während der Fluchtfahrt: Darstellungsanforderungen hinsichtlich der Schuldfähigkeitsprüfung bei Annahme einer bipolaren Störung; unterschiedliche Bewertung der Schuldfähigkeit beim Betäubungsmitteldelikt und bei der Fluchtfahrt

Gesetze: § 267 StPO, § 20 StGB, § 21 StGB, § 315c Abs 1 Nr 2 StGB, § 30a Abs 2 Nr 2 BtMG

Instanzenzug: LG Neuruppin Az: 11 KLs 37/19

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten „wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführen einer Schusswaffe in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz und Führen einer Schusswaffe“ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Das Landgericht hat ferner die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, ihm die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperre für die Wiedererteilung angeordnet sowie eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

I.

2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

31. a) Der Angeklagte nahm Haschischplatten mit einem Gesamtgewicht von mindestens 651,66 Gramm und einem Wirkstoffgehalt von 157,8 Gramm THC sowie eine halbautomatische Waffe Walther PPK ‒ einschließlich eines mit mindestens vier scharfen Patronen gefüllten Magazins ‒ an sich, die ein Nachbar in einem Schrank in der Wohnung des Angeklagten gelagert hatte. Der Angeklagte fühlte sich von diesem Nachbarn ausgenutzt und sah sich gegen seinen Willen in das Drogenmilieu verstrickt. Er beschloss, aus dieser von ihm als ausweglos empfundenen Situation zu fliehen und das von ihm geplante Aussteigerleben u.a. mit dem gewinnbringenden Verkauf der Betäubungsmittel zu finanzieren. Die Waffe meinte er zum Schutz gegen Übergriffe bei den Drogenverkäufen zu benötigen.

4Der Angeklagte fuhr mit einem ebenfalls dem Nachbarn gehörenden Fahrzeug in Richtung H.      , um dort die Drogen zu verkaufen. Auf einem Autobahnzubringer bemerkte er das Blaulicht eines Streifenwagens, mit dem ihn die Beamten auf die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit aufmerksam machen wollten. Der Angeklagte geriet in Panik, weil er eine Kontrolle, das Auffinden der Drogen und seine Inhaftierung befürchtete. Er beschleunigte sein Fahrzeug, um der Polizei zu entkommen, und entledigte sich vollständig der mitgeführten Betäubungsmittel, indem er die Haschischplatten aus dem Fahrzeug warf.

5b) Auf seiner weiteren Fluchtfahrt ignorierte der Angeklagte die Sonderzeichen und Anhaltesignale der Polizei. Nachdem der Angeklagte zunächst die Autobahn verlassen hatte, überfuhr er mit stark überhöhter Geschwindigkeit bei Rotlicht eine große Kreuzung in V.   . Danach fuhr er trotz Rotlichts an einem wartenden Auto vorbei in einen einspurigen Baustellenbereich, obwohl er jederzeit mit Gegenverkehr rechnen musste. Als die Polizeibeamten in einem Kreisverkehr versuchten, mit ihrem Fahrzeug die Ausfahrt zu versperren, hielt der Angeklagte mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Ausfahrt zu, so dass die Beamten nur durch eine Gefahrenbremsung eine Kollision vermeiden konnten.

6Als die Polizeibeamten anschließend zweimal außerorts versuchten, den Angeklagten zu überholen, bewegte er jeweils in der Absicht, dies zu verhindern, sein Fahrzeug in dem Moment ruckartig nach links, in dem sich beide Fahrzeuge schon annähernd auf gleicher Höhe befanden. Kollisionen konnten die Polizeibeamten nur durch Gefahrenbremsungen verhindern.

7Als die Polizeibeamten später auf der dreispurigen Autobahn versuchten, den Angeklagten mit zwei Dienstfahrzeugen gleichzeitig rechts und links zu überholen, lenkte der Angeklagte sein Fahrzeug nach rechts, um dort ein Überholen zu unterbinden. Gleichzeitig zielte er aus dem geöffneten Fenster mit der Pistole auf das inzwischen linksseitig herankommende weitere Polizeifahrzeug. Die Fluchtfahrt endete, als der Angeklagte in einem Baustellenbereich mit einer Geschwindigkeit von etwa 150 km/h auf ein Einsatzfahrzeug der Autobahnpolizei auffuhr, wobei die Polizeibeamten leichte Verletzungen erlitten und an dem Dienstfahrzeug ein Totalschaden entstand.

82. a) Den Transport der Betäubungsmittel hat das Landgericht als bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz und Führen einer Schusswaffe gemäß §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG, § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 52 StGB gewertet. Dabei ist die sachverständig beratene Strafkammer davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten trotz einer „schweren psychiatrischen Erkrankung“ bis zu dem ersten Rotlichtverstoß in V.    noch nicht erheblich eingeschränkt gewesen sei.

9b) Die Fluchtfahrt hat das Landgericht als dazu in Tatmehrheit stehende Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b und d StGB gewertet. Durch die Spurwechsel bei den Überholversuchen der Polizei sei der Angeklagte bei Überholvorgängen falsch gefahren (§ 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b StGB) und habe die Einsatzfahrzeuge sowie Leib und Leben der Polizeibeamten konkret gefährdet. In unübersichtlichen Ortsdurchfahrten sei er zu schnell gefahren (§ 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d StGB). Das Landgericht hat den Angeklagten von diesem Vorwurf freigesprochen, weil aufgrund einer Panikreaktion und einer schweren psychotischen Dekompensation die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ab dem ersten Rotlichtverstoß in V.    sicher erheblich vermindert und nicht ausschließbar aufgehoben gewesen sei.

II.

101. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht näher ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).

112. Das angefochtene Urteil hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, da die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht nachvollziehbar ist. Der Senat kann anhand der Urteilsgründe weder prüfen, ob das Landgericht zu Recht von der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung des Betäubungsmitteldelikts ausgegangen ist, noch lässt sich die Annahme zumindest erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit bei der Fluchtfahrt, die die Grundlage für die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus bildet, nachvollziehen. Die Darlegungs- und Beweiswürdigungsmängel bei der Schuldfähigkeitsprüfung entziehen sowohl dem Schuld- und Strafausspruch als auch der Maßregelanordnung die Grundlage.

12a) Es bleibt schon unklar, ob das vom Landgericht beschriebene Störungsbild des Angeklagten dem Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB zugeordnet werden kann.

13Folgt das Tatgericht der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 412/07; vom - 3 StR 521/15; jeweils mwN).

14Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Strafkammer ist - dem angehörten psychiatrischen Sachverständigen folgend - davon ausgegangen, dass beim Angeklagten eine „schwere psychiatrische Erkrankung mit psychotischen und vermutlich dissozialen Anteilen“ vorliege, die zu massiven sozialen Einschränkungen und Überforderungen führe. Als sicher sei anzunehmen, dass der Angeklagte durchgehend unter schweren depressiven Zuständen leide, die „wahrscheinlich“ als bipolare Störung zu sehen seien. In deren Rahmen sei es „offenbar“ zu einem chronifizierten Verfolgungs-, Bemächtigungs- und Beeinflussungswahn gekommen.

15Das Eingangsmerkmal einer krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erschließt sich aus diesen Ausführungen des Sachverständigen, denen sich das Landgericht ohne eigene Würdigung angeschlossen hat, nicht (vgl. zur Prüfung durch den Tatrichter ; Beschluss vom - 3 StR 479/18 mwN). In den Urteilsgründen zeigt sich insgesamt nur ein unklares, diffuses Bild angeblicher psychischer Auffälligkeiten des Angeklagten. Auch in ihrer Gesamtheit lassen sich den Urteilsgründen lediglich einzelne Merkmale von Störungen entnehmen, zu denen jedoch die Anknüpfungs- und Befundtatsachen des Sachverständigen nicht in einer Weise mitgeteilt werden, die eine Überprüfung durch das Revisionsgericht ermöglichen. Dies gilt insbesondere für die Annahme einer bipolaren Störung, bei der es an einer näheren Beschreibung des Wahnerlebens des Angeklagten und der Darlegung der entsprechenden Tatsachengrundlage fehlt.

16b) Aufgrund der defizitären Darstellung des ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB belegenden Störungsbildes des Angeklagten erschließt sich auch nicht, ob und mit welchem Schweregrad sich die Störung bei Begehung der beiden Taten auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat, zumal gerade bipolare Störungen eine große Brandbreite von Ausprägungen und Schweregraden aufweisen können (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146; vom - 3 StR 521/15; vom - 4 StR 115/20).

17Es kommt deshalb nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, dass die Begründung des Landgerichts zur Auswirkung der angenommenen psychischen Störung auch für sich genommen sowohl zum Betäubungsmitteldelikt als auch zur Fluchtfahrt durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.

18aa) Die Annahme des Landgerichts, dass sich die psychische Störung des Angeklagten bei Begehung des Betäubungsmitteldelikts nicht auf seine Steuerungsfähigkeit auswirkte, beruht auf einem Erörterungsmangel.

19Eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit des Angeklagten beim Betäubungsmitteldelikt hat das Landgericht mit der Begründung abgelehnt, dass die „psychiatrische Erkrankung“ zwar zu einer erhöhten Anfälligkeit des Angeklagten für von ihm nicht mehr willentlich steuerbaren Fehlhandlungen in „Sondersituationen“ führe, es aber an Anhaltspunkten dafür fehle, dass er beim Verlassen seiner Wohnung in seinen Möglichkeiten, nach freiem Willen zwischen Tun und Lassen zu entscheiden, erheblich beeinträchtigt gewesen sei. In diesem Zusammenhang bleibt unerörtert, weshalb die vom Angeklagten als unerträglich dargestellte und ihn zu einer überstürzten Flucht veranlassende Konfrontation mit dem Nachbarn keine derartige „Sondersituation“ darstellte, in der sich das Störungsbild des Angeklagten schuldrelevant auswirkte.

20bb) Umgekehrt ist bei der Fluchtfahrt die Annahme zumindest verminderter Schuldfähigkeit nicht nachvollziehbar. Folgt man der Auffassung des Landgerichts zur Schuldfähigkeitsbeurteilung bei dem Betäubungsmitteldelikt, steht diese in einem nicht aufgelösten Spannungsverhältnis zu der Annahme, bei der Fluchtfahrt sei die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten störungsbedingt sicher erheblich vermindert, wenn nicht gänzlich aufgehoben gewesen.

21Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob nicht auch bei diesem Tatgeschehen in der Person des Angeklagten nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortraten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei voll schuldfähigen Personen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares Verhalten ist (vgl. mwN), lässt das Landgericht vermissen. Einer Erörterung bedurfte es schon deshalb, weil die Flucht vor der Polizei - auch nach der Feststellung des Landgerichts - aus dem normalpsychologisch nachvollziehbaren Entschluss heraus erfolgte, wegen des Drogendelikts nicht belangt zu werden. Auch das weitere rationale Handeln des Angeklagten, der sich trotz eingetretener Panik der Betäubungsmittel entledigte, sowie die Feststellungen zu der weiteren Fluchtfahrt, die gesteuertes Verhalten erkennen lässt, drängten zur Erörterung, ob es sich bei der Flucht um ein Verhalten handelte, das unter den gegebenen Umständen normalpsychologisch erklärbar war. Ein wahnhaftes Verhalten des Angeklagten ist nicht im Ansatz zu erkennen.

223. Die Unklarheiten bei der Bewertung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nötigen zur Aufhebung des Urteils insgesamt.

23Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Aufhebung auch des freisprechenden Teils des Urteils nicht; denn nach § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist es möglich, in einer neuen Hauptverhandlung an Stelle der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus den Täter schuldig zu sprechen und eine Strafe zu verhängen (vgl. BGH, Beschlüsse vom ‒ 3 StR 271/14; vom ‒ 4 StR 293/15; vom - 3 StR 521/15).

244. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

25a) Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, die Straßenverkehrsdelikte konkreten Verkehrssituationen zuzuordnen und zudem jeweils genauere Feststellungen zur konkreten Gefährdung von Personen oder Sachen von bedeutendem Wert bei der Fluchtfahrt zu treffen. Für § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB ist erforderlich, dass die einzelnen Verstöße in der jeweiligen Situation festgestellt und belegt sind (vgl. zu den Anforderungen BGH, Beschlüsse vom ‒ 4 StR 408/09; vom ‒ 4 StR 245/10; vom - 4 StR 390/19 mwN).

26b) Im Fall einer erneuten Verurteilung wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln gemäß § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG wird zu bedenken sein, dass dem Angeklagten nicht strafschärfend angelastet werden kann, er habe die Waffe nicht zufällig sondern bewusst mitgenommen, um sich wehren zu können, da es sich hierbei um einen strafbarkeitsbegründenden Umstand handelt (§ 46 Abs. 3 StGB; vgl. mwN).

27c) Sollte erneut eine Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgen, wird zu berücksichtigen sein, dass frühere Verstöße bei der Gefahrprognose nur Berücksichtigung finden können, wenn sie ihrerseits Ausfluss der psychischen Erkrankung waren (vgl. mwN).

28d) Für die neue Hauptverhandlung wird sich zudem empfehlen, einen anderen Sachverständigen hinzuzuziehen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:221020B4STR258.20.0

Fundstelle(n):
GAAAH-82174