BFH Urteil v. - III R 12/19

Kindergeld für in einem anderen EU-Mitgliedstaat, im Haushalt des anderen Elternteils lebende Kinder

Leitsatz

1. NV: Erfüllt ein nach § 1 Abs. 3 EStG besteuerter Elternteil die Voraussetzungen für einen inländischen (Differenz-)Kindergeldanspruch steht dieser Anspruch unabhängig davon, ob das deutsche Recht auf diesen Elternteil nach Art. 11 ff. der VO Nr. 883/2004 vorrangig oder nachrangig anzuwenden ist, dem im anderen Mitgliedstaat wohnenden Elternteil zu, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

2. NV: Dies gilt unabhängig davon, ob und in welchem Umfang das deutsche (Differenz-)Kindergeld nach dem Unterhaltsrecht des anderen Mitgliedstaats auf den Unterhaltsanspruch des Kindes anzurechnen ist.

Gesetze: EStG § 62 Abs. 1; EStG § 64 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1; VO Nr. 883/2004 Art. 11 ff.; VO Nr. 883/2004 Art. 67 Abs. 1; VO Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1 Satz 2

Instanzenzug:  (Kg)

Tatbestand

I.

1 Streitig ist der Kindergeldanspruch für drei Kinder für die Monate November 2013 bis Oktober 2017.

2 Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Vater von drei Kindern, die im Streitzeitraum minderjährig waren und in Polen lebten. Im Oktober 2013 zog der Kläger aus dem gemeinsamen Haushalt mit der Kindsmutter und den Kindern aus. Seit war der Kläger aufgrund eines Bescheids des zuständigen Oberlandesgerichts berechtigt, Rechtsdienstleistungen in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) zu erbringen. Zunächst war er als Rechtsreferendar bestellt. Im Februar 2016 erhielt er die Rechtsanwaltszulassung. Besteuert wurde der Kläger im Streitzeitraum gemäß § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Daneben erzielte er Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit in Polen.

3 Am beantragte der Kläger bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse), ihm Kindergeld für die drei Kinder zu bewilligen. Die Familienkasse bewilligte Kindergeld ab Juni 2013. Nachdem die Familienkasse aufgrund von im Jahr 2016 durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen zur Auffassung gelangt war, dass der Kläger die Kinder nicht mehr in seinen Haushalt aufgenommen hatte, hob sie die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom für alle drei Kinder ab Oktober 2013 auf und forderte das bereits ausbezahlte Kindergeld vom Kläger zurück. Dem dagegen gerichteten Einspruch gab die Familienkasse hinsichtlich des Monats Oktober 2013 statt, im Übrigen wies sie ihn mit Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück.

4 Die dagegen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg.

5 Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

6 Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Aufhebungsbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom insoweit aufzuheben, als hierin die Kindergeldfestsetzung für die drei Kinder des Klägers für den Zeitraum November 2013 bis Oktober 2017 aufgehoben und das insoweit bereits ausbezahlte Kindergeld zurückgefordert wird.

7 Die Familienkasse beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Gründe

II.

8 Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2, Abs. 4 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das Finanzgericht (FG) ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger im Streitzeitraum kein Kindergeldanspruch zusteht und die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung deshalb zu Recht aufgehoben und das insoweit bereits ausbezahlte Kindergeld zurückgefordert hat. Ein etwaiger (Differenz-)Kindergeldanspruch des Klägers wird durch einen vorrangigen (Differenz-)Kindergeldanspruch der Kindsmutter verdrängt.

9 1. Gemäß § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

10 a) Soweit der Kläger im Streitfall die Voraussetzungen für einen (Differenz-)Kindergeldanspruch erfüllt, liegen auch die Voraussetzungen für eine Anspruchsberechtigung der Kindsmutter vor. Dies ergibt sich aus der Anwendung der europarechtlichen Familienbetrachtung.

11 aa) Nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union —ABlEU— 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 —Grundverordnung—) hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 —Durchführungsverordnung—) ist bei der Anwendung von Art. 67 und Art. 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere, was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.

12 bb) Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Trapkowski vom  - C-378/14 (EU:C:2015:720, Leitsatz 1 und Rz 38 und 41) ergibt sich aus der in diesen beiden Bestimmungen enthaltenen Fiktion, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann daher dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Voraussetzung der Wohnsitzfiktion ist daher nach der Rechtsprechung des EuGH, dass der Mitgliedstaat, in dem der Wohnsitz des in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Familienangehörigen fingiert wird, für die Erbringung der Familienleistungen zuständig ist. Rechtsfolge der Wohnsitzfiktion ist, dass ein Anspruch, der im für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat begründet wurde, einer Person zustehen kann, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.

13 cc) Dabei ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 nach dem EuGH-Urteil Moser vom  - C-32/18 (EU:C:2019:752, Leitsatz 1 und Rz 45 ff.) dahin auszulegen, dass er sowohl in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird (Senatsurteil vom  - III R 22/19, BFHE 269, 320, BFH/NV 2021, 134, Rz 14).

14 dd) Insoweit ist es unbeachtlich, dass das FG hinsichtlich der unter II.1. der Entscheidungsgründe unterstellten vorrangigen Zuständigkeit Deutschlands keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen hat. Denn auch für den Fall des Bestehens der —vom Kläger jedenfalls für die Zeit ab behaupteten— nur nachrangigen Zuständigkeit Deutschlands fände die Familienbetrachtung und damit die Fiktion der Behandlung als unbeschränkt Steuerpflichtiger gemäß § 1 Abs. 3 EStG Anwendung (Senatsurteil BFHE 269, 320, Rz 11 ff.). Der Senat kann daher auch dahingestellt sein lassen, ob der vom Kläger insoweit geltend gemachte Verfahrensmangel ordnungsgemäß gerügt wurde und tatsächlich vorliegt, da sich die Entscheidung aus anderen, vom etwaigen Verfahrensmangel unabhängigen Gründen als richtig erweist (, BFHE 161, 252, BStBl II 1990, 1098, unter II.4.).

15 b) Ergibt sich danach, dass neben dem Kläger auch die Kindsmutter Berechtigte i.S. des § 64 EStG ist, so ist deren Berechtigung nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da sie die Kinder in ihren Haushalt aufgenommen hat, während beim Kläger nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des FG —mangels Nachweises— keine Haushaltsaufnahme der Kinder vorlag.

16 2. Zu Recht hat das FG die Voraussetzungen der Änderungssperre des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) verneint. Nach dieser Bestimmung darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden ist. Eine derartige Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt nur und erst dann vor, wenn ein im Wesentlichen gleicher Sachverhalt abweichend von einer früheren höchstrichterlichen Entscheidung beurteilt worden ist, nicht hingegen, wenn sich eine Rechtsprechung erst allmählich entwickelt und konkretisiert hat bzw. präzisiert worden ist. Eine noch nicht geklärte Rechtslage verhindert das Entstehen eines Vertrauensschutzes. Der danach erforderliche Vergleich setzt in rechtlicher Hinsicht eine zwar nicht unbedingt ausdrückliche, so aber zumindest eine deutliche Aussage zu einem bestimmten Rechtsproblem voraus (z.B. , Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2010, 133, Rz 25, m.w.N.).

17 Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Denn der BFH hatte —wie das FG zu Recht ausführt— die Frage, ob die Anwendung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dazu führen kann, dass bei getrennt lebenden Elternteilen, der Kindergeldanspruch vorrangig dem im anderen Mitgliedstaat lebenden Elternteil, der die Kinder in seinen Haushalt aufgenommen hat, zustehen kann, bei Erlass der ursprünglichen Kindergeldfestsetzung noch nicht entschieden. Vielmehr war die Rechtslage diesbezüglich unklar, weshalb der BFH die betreffenden Verfahren im Hinblick auf die an den EuGH gerichteten Vorlagefragen ausgesetzt hatte. Somit bildete die bis dahin ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung auch keine Grundlage für den vom Kläger begehrten Vertrauensschutz.

18 Das FG hat auch keine sonstigen Umstände festgestellt, aus denen der Kläger ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der zu seinen Gunsten erfolgten Kindergeldfestsetzung herleiten könnte.

19 3. Keine andere Beurteilung ergibt sich aus dem Einwand des Klägers, wonach der allgemeine Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 des GrundgesetzesGG—) dadurch verletzt sei, dass in Deutschland über § 1612b Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs eine Anrechnung des Kindergelds auf den Barbedarf des Kindes stattfinde, während das polnische Recht eine unterhaltsrechtliche Berücksichtigung des an den anderen Elternteil ausbezahlten Kindergelds (Art. 135 Abs. 3 Ziff. 3 des polnischen Familiengesetzbuchs) verbiete. Soweit der Kläger mit diesem Vorbringen aus einer Norm des polnischen Rechts einen Gleichheitsverstoß ableiten wollte, ist darauf hinzuweisen, dass die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden und sich mithin an deutsche Träger von Staatsgewalt richten. Soweit der Kläger damit dagegen einen Verstoß gegen das steuerliche Leistungsfähigkeitsprinzip geltend machen wollte, berücksichtigt er zum einen nicht, dass die steuerliche Entlastung des Existenzminimums des Kindes nach der in § 31 Satz 4 EStG zum Ausdruck kommenden Konzeption des Familienleistungsausgleichs nicht bereits durch das Kindergeld an sich erfolgt, sondern erst mittels des Vergleichs zwischen der steuerlichen Entlastungswirkung durch die kindbedingten Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG einerseits und durch das Kindergeld andererseits. Zum anderen erfolgt die bei dieser Vergleichsrechnung vorzunehmende Zurechnung des Kindergeldanspruchs auch für reine Inlandsfälle unabhängig davon, ob ein barunterhaltspflichtiger Elternteil Kindergeld über den zivilrechtlichen Ausgleich von seinen Unterhaltszahlungen abziehen kann oder in anderer Form ein zivilrechtlicher Ausgleich stattfindet (vgl. z.B. R 31 Abs. 3 Satz 2 der Einkommensteuer-Richtlinien 2012).

20 Der vom Kläger gerügte Verstoß gegen Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist bereits deshalb nicht erkennbar, weil die Versagung des Kindergeldanspruchs gegenüber dem Kläger nicht auf seiner Staatsangehörigkeit beruht.

21 4. Der Anregung der Familienkasse auf Beiladung der Kindsmutter war nicht zu entsprechen. Nach § 123 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO sind Beiladungen —mit Ausnahme der notwendigen Beiladungen nach § 60 Abs. 3 Satz 1 FGO— im Revisionsverfahren unzulässig. Klagt ein Elternteil auf Festsetzung von Kindergeld oder gegen die Aufhebung der Festsetzung und die Rückforderung, ist der andere Elternteil selbst dann nicht notwendig zum Verfahren beizuladen (§ 60 Abs. 3 FGO), wenn er bei Stattgabe der Klage mit einem Verlust des zu seinen Gunsten festgesetzten Kindergeldes rechnen muss (Senatsbeschluss vom  - III B 73/11, BFH/NV 2012, 1825, Rz 5, m.w.N.). Ein erstmals im Revisionsverfahren gestellter Antrag auf Beiladung eines Dritten nach § 174 Abs. 5 AO ist unzulässig (, BFH/NV 2018, 529, Rz 9).

22 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2021:U.180221.IIIR12.19.0- 2 -

Fundstelle(n):
BFH/NV 2021 S. 940 Nr. 8
DStRE 2021 S. 1040 Nr. 17
HFR 2021 S. 675 Nr. 7
CAAAH-80470