BSG Beschluss v. - B 13 R 223/20 B

Sozialgerichtsverfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Beruhen einer Entscheidung auf einer gerügten Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs

Gesetze: § 62 SGG, § 103 SGG, § 128 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: SG Landshut Az: S 12 R 600/15 Gerichtsbescheidvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 13 R 102/18 Urteil

Gründe

1I. Im Streit steht der von der Klägerin gegenüber dem RV-Träger geltend gemachte Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Begründung dessen beruft sich die Klägerin insbesondere auf Schlafstörungen, die ihrer Ansicht nach durch eine schwerwiegende Elektrohypersensibilität hervorgerufen sind. Der RV-Träger verneinte eine rentenberechtigende Erwerbsminderung hierdurch sowie durch gutachtlich bestätigte andere Gesundheitsstörungen. Das SG hat die Klage gegen den ablehnenden Bescheid durch Gerichtsbescheid vom abgewiesen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin hiergegen zurückgewiesen. Es ist dabei zum einen auf der Grundlage von Sachkunde, gewonnen aus einem Artikel in W, und zwei Gutachten über die Erkrankung der "Elektrohypersensibilität" an sich, zur Wertung gelangt, es fehle bisher an einer wissenschaftlichen Fundierung einer solchen Erkrankung und ihrer Auswirkungen. Zum zweiten hat es dargelegt, unabhängig davon, ob die Beschwerden und Gesundheitsstörungen der Klägerin durch die von ihr angenommene Elektrohypersensibilität verursacht worden seien, hätten sich nach Auswertung der ärztlichen Befunde und medizinischen Sachverständigengutachten keine Funktions- und qualitativen sowie quantitativen Einschränkungen des Leistungsvermögens der Klägerin ergeben, die sie an einer beruflichen Tätigkeit hinderten. Das LSG hat die Revision in seinem Urteil vom nicht zugelassen.

2Gegen letzteres wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde an das BSG. Sie macht im Wesentlichen geltend, bei der Entscheidung des LSG handele es sich um eine Überraschungsentscheidung. Dadurch sei sie verfahrensfehlerhaft (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) in ihrem rechtlichen Gehör verletzt worden. Das LSG habe seine "neue" Sachkunde nicht ins Verfahren eingeführt. Die Klägerin habe keine Gelegenheit gehabt, sich hierzu zu äußern. Das Berufungsgericht habe sie erstmals in der schriftlichen Urteilsbegründung damit konfrontiert.

3II. Die Beschwerde ist im Hinblick auf die Rüge einer Überraschungsentscheidung unbegründet und im Übrigen unzulässig.

4Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung ihres rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung (§ 62 SGG iVm Art 103 GG iVm § 128 Abs 2 SGG) liegt nicht vor, weil das angegriffene Urteil nicht auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruht. Es mangelt an der Kausalität zwischen der bezeichneten Gehörsverletzung und den tragenden Entscheidungsgründen des LSG. Die Ausführungen des LSG zur wissenschaftlichen Fundierung der Elektrohypersensibilität und ihren Auswirkungen auf Grundlage der Recherchen des Berufungssenats bei W, der Heranziehung von Studien der S und des B können hinweggedacht werden, ohne dass sich das Ergebnis der Entscheidung des LSG änderte.

5Ein Gehörverstoß liegt ua vor, wenn das LSG sein Urteil auf Tatsachen oder Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (sog Überraschungsentscheidung iS von § 128 Abs 2 SGG; - BVerfGE 98, 218; - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 - juris RdNr 24 ff; s auch - juris RdNr 8; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 62 RdNr 8b mwN). Dabei muss die angefochtene Entscheidung darauf beruhen können, dass keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu den eingeführten Tatsachen bestand ( - SozR 1500 § 160a Nr 36) und der Beschwerdeführer seinerseits alles getan habe, um sich insoweit rechtliches Gehör zu verschaffen ( - SozR 3-1500 § 160 Nr 22 - juris RdNr 5; vgl auch - BSGE 68, 205 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 - juris RdNr 33 ff). Die Entscheidung des LSG beruht dann nicht auf einer etwaigen Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, wenn es an der erforderlichen Kausalität zwischen den Tatsachen zu denen die Beteiligten nicht angehört worden sind, und den tragenden Entscheidungsgründen fehlt; wenn sich der Vortrag etwa auf Hilfserwägungen bezieht, die ausgehend von den tragenden Erwägungen in den Entscheidungsgründen weggedacht werden können, ohne dass sich das Ergebnis ändert ( ua - SGb 1994, 77; - SozR 4-5520 § 21 Nr 1 - juris RdNr 30; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 62 RdNr 11b). So liegt der Fall hier.

6Die Klägerin macht geltend, das LSG habe die durch die Heranziehung eines Artikels aus W sowie zweier Studien der S und des B gewonnenen Erkenntnisse den Beteiligten vor der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht mitgeteilt. Sie hätten daher keine Gelegenheit gehabt, sich zu diesen Veröffentlichungen und insbesondere der Schlussfolgerung des LSG zu äußern, dass es die Erkrankung der Elektrosensibilität/Elektrohypersensibilität nicht gebe.

7Insoweit gilt regelmäßig, wenn ein Gericht eigene Sachkunde bei der Urteilsfindung tragend berücksichtigen will, muss es den Beteiligten die Grundlagen für seine Sachkunde offenbaren. Denn stützt sich das Gericht bei seiner Beurteilung ausschließlich auf eigene medizinische Sachkunde, muss für die Beteiligten die Grundlage hierfür ersichtlich sein. Das Gericht muss in einem solchen Fall gegenüber den Beteiligten darlegen, worauf seine Sachkunde beruht und worauf sie sich bezieht, damit die Beteiligten hierzu Stellung nehmen und ihre Prozessführung entsprechend einrichten können (zur Gehörsverletzung bei Unterlassung dieses Hinweises: 5b RJ 48/82 - SozR 2200 § 1246 Nr 98 S 302 - juris RdNr 11 <zu allgemeinkundigen Tatsachen>; - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19 - juris RdNr 24 <zu gerichtskundlichen Tatsachen>; - BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 32 <zu historischen Tatsachen>; s auch - juris RdNr 20 f mit weiteren Hinweisen; - juris RdNr 8; - juris RdNr 5).

8Zwar hat sich das LSG vorliegend unter Heranziehung der benannten Unterlagen aus den wissenschaftlichen Studien eigene Sachkunde angeeignet. Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten auch nicht auf das Bestehen dieser eigenen medizinischen Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, was Inhalt dieser Sachkunde ist (vgl - juris RdNr 7; - juris RdNr 9). Auf die aus dem Artikel in W sowie den wissenschaftlichen Studien gewonnenen Erkenntnisse kam es für die Entscheidung des LSG indes nicht an.

9Unabhängig davon, dass das LSG in seinen Entscheidungsgründen keineswegs die Erkrankung der Elektrosensibilität/Elektrohypersensibilität verneint, sondern aus den benannten Unterlagen lediglich die Erkenntnis zieht, wissenschaftliche Studien hätten bisher die ursächliche Wirkung von elektromagnetischen Feldern zur Auslösung von Elektrosensibilität nicht belegt, ist es unzutreffend, wenn die Klägerin vorbringt, das Berufungsgericht habe sich mit seiner Urteilsbegründung maßgeblich auf die benannten Erkenntnisquellen gestützt.

10Denn das LSG hat ausdrücklich und tragend ausgeführt, zur Feststellung des Leistungsvermögens der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei es unerheblich, ob die von ihr berichteten Beschwerden und Gesundheitsstörungen durch die Einwirkungen elektromagnetischer Felder aufgrund der von ihr angenommenen Elektrosensibilität verursacht würden, oder ob sie eine andere Ursache hätten. Die von den behandelnden Ärzten und medizinischen Sachverständigen festgestellten Funktions- sowie qualitativen und quantitativen Leistungseinschränkungen würden die Klägerin nicht in einem Maße an der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit hindern, die die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung erfüllten.

11Im Übrigen ist die Beschwerde der Klägerin unzulässig. Der von ihr angeführte Umstand, dass das Gericht gegen einen Teil der eingeholten medizinischen Gutachten argumentiert, bezeichnet bereits keine Verletzung rechtlichen Gehörs. Das Gericht ist nicht verpflichtet, den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen zu folgen, sondern entscheidet in freier Würdigung der erhobenen Beweise (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Allerdings kann in besonderen Konstellationen eine Überraschungsentscheidung in Betracht kommen, wenn die Beteiligten in einer Entscheidung mit einer Beweiswürdigung konfrontiert werden, für die bisher keinerlei Hinweise vorlagen (vgl 9a RVi 1/90). Eine solche Konstellation ist denkbar, wenn das LSG dem eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten nicht folgt, sondern - ohne Hinweis auf das Bestehen eigener Sachkunde - seine Beweiswürdigung allein auf eine von ihm selbst unter Auswertung medizinischer Fachliteratur entwickelte Beurteilung stützt (vgl ). Dies bringt die Klägerin jedoch nicht vor. Sie führt in der Beschwerdebegründung selbst aus, dass die Sachverständigen in ihren Gutachten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt seien. Die Würdigung dieser unterschiedlichen Ergebnisse ist originäre Aufgabe des Gerichts. Auch nach Auffassung eines Beteiligten gemachte Fehler bei der Beweiswürdigung führen nach der ausdrücklichen Anordnung des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht zur Zulassung der Revision. Dieser Ausschluss kann auch nicht durch die Rüge eines anderen Verfahrensmangels - hier die Verletzung rechtlichen Gehörs - umgangen werden (vgl auch - juris RdNr 16).

12Auch besteht keine allgemeine Verpflichtung des Gerichts, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Tatsachen- und Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Sie wird weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzw Art 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten (§ 106 Abs 1 bzw § 112 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (vgl - juris RdNr 12 ff; - juris RdNr 19; - juris RdNr 44; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 590 mwN).

13Sollte die Klägerin mit ihrem Vorbringen eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht des LSG nach § 103 SGG rügen wollen, so hat sie einen solchen Verfahrensmangel ebenfalls nicht hinreichend dargelegt. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG kann ein Zulassungsbegehren auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn es sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Einen derartigen Beweisantrag gestellt zu haben bringt die Klägerin nicht vor. Dass sie die von ihr der Nichtzulassungsbeschwerde beigefügten Unterlagen bereits im Berufungsverfahren vorgelegt und das LSG sich mit diesen nicht befasst habe, legt sie ebenfalls nicht dar. Das BSG ist im Beschwerdeverfahren nicht dazu berufen, selbst Sachverständigengutachten einzuholen.

14Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

15Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2021:220321BB13R22320B0

Fundstelle(n):
GAAAH-78293