Arbeitnehmerüberlassung - Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt ("equal pay") - Abweichung durch Tarifvertrag
Gesetze: Art 267 AEUV, Art 5 Abs 3 EGRL 104/2008, Art 5 Abs 1 EGRL 104/2008, § 18 AktG, Art 28 EUGrdRCh, § 8 Abs 1 AÜG
Instanzenzug: ArbG Würzburg Az: 2 Ca 1248/17 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Nürnberg Az: 5 Sa 230/18 Urteilnachgehend Az: C-311/21 Urteilnachgehend Az: 5 AZR 143/19 Urteil
Gründe
2Die Parteien streiten über eine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung der Leiharbeitnehmer in Bezug auf das Arbeitsentgelt („equal pay“) für die Monate Januar bis April 2017.
3In diesem Zeitraum war die Klägerin aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrags bei der Beklagten, die gewerblich Arbeitnehmerüberlassung betreibt, als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. Sie war einem Unternehmen des Einzelhandels (iF Entleiher) für dessen Auslieferungslager als Kommissioniererin überlassen und erhielt zuletzt einen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto.
4Die Klägerin ist Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Beklagte gehört dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.) an. Dieser hat mit mehreren Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) - darunter ver.di - Mantel-, Entgeltrahmen- und Entgelttarifverträge geschlossen, die eine Abweichung von dem in § 8 Abs. 1 AÜG und § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG aF verankerten Grundsatz der Gleichstellung vorsehen, insbesondere auch eine geringere Vergütung als diejenige, die vergleichbare Stammarbeitnehmer im Entleiherbetrieb erhalten.
5Mit der vorliegenden Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von insgesamt 1.296,72 Euro brutto als Differenz zwischen der erhaltenen Vergütung und derjenigen, die vergleichbaren Stammarbeitnehmern des Entleihers gezahlt worden sein soll. Die Klägerin ist der Auffassung, die Tariföffnung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz sowie die auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifverträge seien mit Art. 5 RL 2008/104/EG nicht vereinbar. Sie hat vorgetragen, vergleichbare Stammarbeitnehmer der Entleiherin würden nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet und hätten im Streitzeitraum einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto erhalten.
6Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit schulde sie nur die für Leiharbeitnehmer vorgesehene tarifliche Vergütung.
7Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klage weiter, während die Beklagte die Zurückweisung der Revision beantragt.
10§ 9 Nr. 2 und § 10 Abs. 4 AÜG in der bis zum geltenden Fassung bestimmten Folgendes:
11In dem seit dem geltenden § 8 AÜG ist nunmehr geregelt:
131. Die Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Leiharbeit (ABl. Nr. L 327 S. 9) lautet auszugsweise:
142. Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom (ABl. Nr. C 303 S. 1):
16Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verpflichtet den Verleiher grundsätzlich, dem Leiharbeitnehmer das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen, das der Entleiher vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt („equal pay“). Von diesem Gebot der Gleichstellung erlaubt das AÜG ein Abweichen durch Tarifvertrag, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet, § 8 Abs. 2 Satz 1 AÜG, § 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG aF. Dies hat zur Folge, dass der Verleiher dem Leiharbeitnehmer lediglich das tariflich vorgesehene Arbeitsentgelt gewähren muss, § 8 Abs. 2 Satz 2 AÜG, § 10 Abs. 4 Satz 2 AÜG aF. Nur wenn dieses die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindestentgelte unterschreitet, muss der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für jede Arbeitsstunde das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers für eine Arbeitsstunde zu zahlende Arbeitsentgelt gewähren, § 8 Abs. 2 Satz 4 AÜG, § 10 Abs. 4 Satz 3 AÜG aF.
17I. Davon ausgehend könnte die Klägerin für die Dauer ihrer Überlassung an den Entleiher keine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt des equal pay beanspruchen. Ihre Klage wäre unbegründet und ihre Revision zurückzuweisen.
181. Nach deutschem Tarifrecht sind die Klägerin und die Beklagte kraft ihrer Mitgliedschaft in den tarifschließenden Verbänden an die von diesen für die Leiharbeitsbranche geschlossenen Tarifverträge mit unmittelbarer und zwingender Wirkung gebunden, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG. Diese vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge sind - zumindest soweit sie auf Arbeitnehmerseite von der Gewerkschaft ver.di geschlossen wurden - wirksam.
19a) Die Parteien der auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifverträge für die Leiharbeitsbranche - nämlich der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ e.V.) und die in den jeweiligen Tarifverträgen namentlich aufgeführten Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), darunter ver.di - sind tariffähig (vgl. - zur Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung - - Rn. 67 mwN, BAGE 136, 302). Das steht zwischen den Parteien auch außer Streit.
20b) Der iGZ e.V. und die Gewerkschaft ver.di sind für die Leiharbeitsbranche tarifzuständig. Ob alle weiteren an den Tarifabschlüssen beteiligten Gewerkschaften ebenfalls für die Leiharbeitsbranchen tarifzuständig sind bzw. im maßgeblichen Zeitpunkt waren, kann als nicht entscheidungserheblich dahingestellt bleiben. Denn bei den fraglichen Tarifverträgen handelt es sich um sog. mehrgliedrige Tarifverträge im engeren Sinne, bei denen lediglich mehrere - in der Regel gleichlautende - Tarifverträge in einer Urkunde zusammengefasst sind. Im Streitfall ist es deshalb ausreichend, dass die für das Leiharbeitsverhältnis der Parteien einschlägigen Tarifverträge zwischen dem iGZ e.V. und ver.di wirksam sind, weil ver.di jedenfalls seit ihrer Satzungsänderung 2009 für die gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung tarifzuständig ist. Soweit einer anderen am mehrgliedrigen Tarifvertrag im engeren Sinne beteiligten Gewerkschaft die Tarifzuständigkeit fehlen sollte, bedingt dies nur die Unwirksamkeit des von ihr abgeschlossenen Tarifvertrags, hat aber keine Auswirkungen auf die zwischen den anderen Tarifvertragsparteien geschlossenen Tarifverträge.
21Anders wäre es nur, wenn die auf das Leiharbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findenden Tarifverträge als sog. Einheitstarifverträge einzuordnen wären. Dann müsste jede am Tarifvertrag beteiligte Gewerkschaft für die Leiharbeitsbranche tarifzuständig sein (vgl. - zur Tariffähigkeit - - Rn. 24, BAGE 120, 182). Denn es wäre mit dem Wesen der Tarifautonomie nicht vereinbar, wenn eine nicht tarifzuständige Gewerkschaft an Verhandlung und Abschluss eines Tarifvertrags mitwirken und diesen möglicherweise wesentlich (mit-)gestalten könnte (ebenso in Bezug auf das Erfordernis der Tariffähigkeit der Mitglieder einer Spitzenorganisation iSv. § 2 Abs. 2 TVG zum Abschluss von Tarifverträgen - Rn. 74, BAGE 136, 302). Für die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten Einheitstarifverträge schließen wollen, fehlt es jedoch an hinreichend deutlichen Anhaltspunkten. Deshalb verbleibt es bei der Auslegungsregel, dass die auf einer Seite beteiligten Tarifvertragsparteien sich grundsätzlich ihrer jeweils autonomen Tarifmacht nicht begeben, sondern voneinander unabhängige, eigenständige Tarifverträge schließen wollen, von denen sie sich ohne Rücksicht auf die übrigen Beteiligten auch wieder lösen können (vgl. - zu III 4 b aa der Gründe; - 4 AZR 590/05 - Rn. 23, BAGE 120, 84; - 4 AZR 229/07 - Rn. 20).
22c) Eine Tarifkollision im Betrieb der Beklagten aufgrund der mehrgliedrigen Tarifverträge im engeren Sinne bestand nicht, weil alle in Betracht kommenden Tarifverträge von Anfang an und jedenfalls bis zum Ende des Streitzeitraums inhaltsgleich waren, § 4a Abs. 2 Satz 3 TVG.
232. Die vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge unterschritten nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte, § 8 Abs. 1 Satz 1 AÜG, § 9 Nr. 2 Halbs. 2 AÜG aF. Im Streitzeitraum existierten solche nicht. Die am außer Kraft getretene Zweite Verordnung über eine Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung sah zuletzt für die „alten“ Bundesländer ein Mindeststundenentgelt von 9,00 Euro brutto vor. Die am in Kraft getretene Dritte Verordnung über eine Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung legte ab diesem Zeitpunkt in den „alten“ Bundesländern ein Mindeststundenentgelt von 9,23 Euro brutto fest. Beide Grenzen unterschritt der für das Leiharbeitsverhältnis und den Streitzeitraum maßgebliche Entgelttarifvertrag Zeitarbeit in der Fassung vom nicht.
24II. Wäre hingegen die nationale Regelung der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag - wie die Klägerin geltend macht - mit Unionsrecht nicht vereinbar, könnte der Klägerin für die Dauer ihrer Überlassung an den Entleiher - soweit ein möglicher Anspruch für die Monate Januar und Februar 2017 nicht nach einer arbeitsvertraglichen Ausschlussfristenregelung verfallen ist (vgl. - Rn. 36 ff., BAGE 144, 306, st. Rspr., zuletzt - Rn. 11 ff.) - eine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt des equal pay zustehen mit der Folge, dass ihre Klage zumindest teilweise begründet und ihrer Revision insoweit stattzugeben wäre.
251. Fehlte es an einer wirksamen Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz, wäre die Beklagte verpflichtet, der Klägerin für die Dauer der Überlassung an den Entleiher das Arbeitsentgelt zu gewähren, das ein vergleichbarer Stammarbeitnehmer des Entleihers im Streitzeitraum erhielt. Nach nationalem Verständnis ist der Anspruch des Leiharbeitnehmers auf gleiches Arbeitsentgelt ein die vertragliche Vergütungsabrede korrigierender gesetzlicher Entgeltanspruch, der mit jeder Überlassung entsteht und jeweils für die Dauer der Überlassung besteht (st. Rspr. seit - Rn. 42, BAGE 144, 306).
262. Zur Höhe des Anspruchs auf gleiches Arbeitsentgelt hat die dafür nach allgemeinen Grundsätzen darlegungs- und beweispflichtige Klägerin (vgl. - Rn. 21, seither st. Rspr.; HWK/Höpfner 9. Aufl. § 8 AÜG Rn. 17; Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 82, 86; MüKoBGB/Spinner 8. Aufl. § 611a Rn. 1202; Greiner in Thüsing AÜG 4. Aufl. § 8 Rn. 38) schlüssig und unter Beweisantritt dargelegt, dass vergleichbare Stammarbeitnehmer für dieselbe Tätigkeit im Streitzeitraum einen Stundenlohn von 13,64 Euro brutto erhielten. Dürfte die Beklagte nicht vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen, wäre sie nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AÜG, § 10 Abs. 4 Satz 1 und Satz 4 AÜG aF verpflichtet, der Klägerin für die von dieser beim Entleiher geleisteten Arbeitsstunden die entsprechende Differenz nachzuzahlen.
273. Die Beklagte hat die von der Klägerin behauptete Höhe der Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer mit Nichtwissen bestritten. Sollte die Beklagte vom Gleichstellungsgrundsatz nicht abweichen dürfen, wären deshalb in einem erneuten Berufungsverfahren die von der Klägerin insoweit angebotenen Beweise zu erheben. Dies betrifft jedoch nur die mögliche Höhe einer weiteren Vergütung. Für den Grund des geltend gemachten Anspruchs kommt es maßgeblich auf nur vom Gerichtshof der Europäischen Union zu klärende Fragen insbesondere zur Auslegung von Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG an. Diese sind somit entscheidungserheblich (vgl. - Rn. 33 ff. mwN).
30Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG, von dem der nationale Gesetzgeber bei der innerstaatlichen Regelung der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge Gebrauch gemacht hat (vgl. BT-Drs. 17/4804 S. 9), gestattet den Sozialpartnern Abweichungen von den in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie aufgeführten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“. Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen sind in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2008/104/EG definiert. Unter welchen Voraussetzungen der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen als ausreichend geachtet angesehen werden kann, ist der Richtlinie nicht zu entnehmen. Der Erwägungsgrund 16 verlangt, dass das Gesamtschutzniveau gewahrt bleibt, um der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden, gibt aber keinerlei Anhaltspunkte für die hieran zu stellenden Anforderungen. Im deutschen Schrifttum werden hierzu unterschiedliche Auffassungen vertreten (vgl. nur ErfK/Wank 21. Aufl. § 8 AÜG Rn. 32 f.; Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 138; Greiner in Thüsing AÜG 4. Aufl. § 8 Rn. 43 ff.; Preis/Sagan/Sansone Europäisches Arbeitsrecht 2. Aufl. § 12 Rn. 12.77 ff.; EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 20 ff., jeweils mwN). Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob der „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ gleichzustellen ist mit dem Schutz, den nationales und Unionsrecht grundsätzlich für alle Arbeitnehmer unabhängig davon, ob sie Stamm- oder Leiharbeitnehmer sind, zwingend vorsehen (zB Kündigungsschutz, Mutterschutz, Mindestlohn, Entgeltfortzahlung in bestimmten Fällen, Arbeitszeitschutz, Besondere Anforderungen an Befristungen, Schwerbehindertenschutz etc.) oder die Richtlinie mit dem „Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer“ (so die Formulierung im Erwägungsgrund Nr. 16 zur Richtlinie) mehr umfasst, etwa auf einen spezifischen Sonderschutz für Leiharbeitnehmer zielt. Inwieweit tarifvertraglich vereinbarte Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen, ist Gegenstand der Frage 5.
32Schließen die Sozialpartner Tarifverträge, die Regelungen enthalten, die in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern vom Grundsatz der Gleichbehandlung iSd. Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG abweichen, bedarf es der Klärung, welche Voraussetzungen und Kriterien erfüllt sein müssen für die Annahme, die Abweichungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung seien unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt.
33a) Dabei stellt sich zum einen die Frage nach dem Maßstab: Ist allein abzustellen auf die durch einen solchen Tarifvertrag geregelten Arbeitsbedingungen der betroffenen Leiharbeitnehmer und zu prüfen, ob diese einen - wie auch immer gearteten - Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer achten? Oder müssen für die Beurteilung, ob die Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung durch Tarifvertrag unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgte, die (wesentlichen) Arbeitsbedingungen, die in dem entleihenden Unternehmen für die Stammarbeitnehmer, also die unmittelbar von dem entleihenden Unternehmen für den gleichen Arbeitsplatz eingestellten Arbeitnehmer, gelten, in einer wertenden Betrachtung mit einbezogen werden?
34b) In Erwägungsgrund 15 zur Richtlinie 2008/104/EG heißt es, unbefristete Arbeitsverträge seien die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses und gäben einen „besonderen Schutz“. Vor diesem Hintergrund stellt sich zum anderen die Frage, ob die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern iSd. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG auch verlangt, dass - ähnlich wie in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehen - eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt nur möglich ist, wenn zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht (so EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 14), oder eine Abweichung auch in befristeten Arbeitsverhältnissen möglich ist (Preis/Sagan/Sansone Europäisches Arbeitsrecht 2. Aufl. § 12 Rn. 12.76 mwN). Für die letztgenannte Auffassung könnte sprechen, dass in Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG, anders als in deren Abs. 2, keine Beschränkung auf unbefristete Arbeitsverhältnisse enthalten und als zusätzliches Regulativ die Achtung des Gesamtschutzes vorgesehen ist.
36Der deutsche Gesetzgeber hat beim Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von der von Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG eröffneten Möglichkeit zur Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung Gebrauch gemacht (vgl. BT-Drs. 17/4804 S. 9). Es erschließt sich indes - auch unter Berücksichtigung von Erwägungsgrund 19 zur Richtlinie, nach dem die Autonomie der Sozialpartner nicht beeinträchtigt werden soll - nicht mit ausreichender Klarheit aus der Richtlinie selbst, ob der nationale Gesetzgeber in einem solchen Falle den Sozialpartnern die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern bei der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung vorgeben muss oder es Sache der Sozialpartner ist, bei Abschluss entsprechender Tarifverträge für die Leiharbeitsbranche für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern zu sorgen (hierfür offenbar Preis/Sagan/Sansone Europäisches Arbeitsrecht 2. Aufl. § 12 Rn. 12.80; EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 22).
37Letzteres würde dem Erwägungsgrund 19 der Richtlinie 2008/104/EG Rechnung tragen, wonach die Richtlinie weder die Autonomie der Sozialpartner noch die Beziehungen zwischen ihnen beeinträchtigen soll, und zwar einschließlich des Rechts, Tarifverträge gemäß nationalem Recht und nationalen Gepflogenheiten bei gleichzeitiger Einhaltung des geltenden Gemeinschaftsrechts auszuhandeln und abzuschließen. Dieses Recht ist zudem durch Art. 28 GRC geschützt. Ein solches Verständnis entspräche überdies deutschem Verfassungs- und Tarifrecht. Danach steht Tarifvertragsparteien als selbständigen Grundrechtsträgern bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben außerdem eine Einschätzungsprärogative, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Darüber hinaus verfügen sie über einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung (st. Rspr., vgl. zB - Rn. 19 mwN). Tarifverträgen kommt nach deutschem Arbeitsrecht grundsätzlich eine Richtigkeitsgewähr zu (so auch ausdrücklich die Regierungsbegründung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung, BT-Drs. 17/4804 S. 9).
38Zudem stellt das Bundesarbeitsgericht hohe Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung und hat insbesondere mit dem CGZP-Beschluss ( - BAGE 136, 302) einem möglichen Missbrauch der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag mit Hilfe arbeitgebernaher „Arbeitnehmervereinigungen“ “einen Riegel vorgeschoben“. Faktisch kommen damit derzeit im Wesentlichen nur die im Deutschen Gewerkschaftsbund organisierten, seit Jahrzehnten als tariffähig anerkannten Gewerkschaften als Tarifpartner der Zeitarbeitsbranche in Betracht. Deren Durchsetzungsfähigkeit leidet auch nicht an dem geringen Organisationsgrad der Leiharbeitnehmer, vielmehr sind die Verleiher für Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz geradezu auf sie angewiesen (zutr. Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 138).
40Bejaht der Gerichtshof die dritte Frage, stellt sich daran anschließend die weitere Frage, ob der deutsche Gesetzgeber mit den im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in der seit dem geltenden Fassung getroffenen Regelungen zur Begrenzung der Abweichungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung bzw. - in der nationalen Terminologie - Gleichstellungstellungsgrundsatz durch Tarifverträge ausreichend für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern gesorgt hat. In der aktuellen Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sehen § 1 Abs. 1b (Höchstdauer von 18 Monaten für die Überlassung an denselben Entleiher), § 8 Abs. 2 Satz 1 (Lohnuntergrenze aufgrund einer Rechtsverordnung über Mindeststundenentgelte), § 8 Abs. 3 (sog. Drehtürklausel), § 8 Abs. 4 (zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Gebot der Gleichstellung in Bezug auf das Arbeitsentgelt) und § 13b (Zugang des Leiharbeitnehmers zu Gemeinschaftseinrichtungen oder -diensten des Entleihers) die in Frage 4. a) beschriebenen gesetzlichen Beschränkungen der Ungleichbehandlung von Leih- und Stammarbeitnehmern vor. Damit sei - so wird im Schrifttum vielfach angenommen (etwa Schüren in Schüren/Hamann AÜG 5. Aufl. § 8 Rn. 138; Greiner in Thüsing AÜG 4. Aufl. § 8 Rn. 45; EuArbRK/Rebhahn/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 23, jeweils mwN) - der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern ausreichend gewahrt, zumal sie nach § 1 Abs. 1 und Abs. 3 Mindestlohngesetz (MiLoG) Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben, wenn dieser höher ist als die nach dem AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte.
41Die Frage 4. b) trägt der - im Ausgangsrechtstreit für einen Teil des Streitzeitraums noch maßgeblichen - bis zum geltenden Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetztes Rechnung, die eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt sowie eine zeitliche Konkretisierung des Erfordernisses der „vorübergehenden“ Überlassung nicht vorsah.
43Falls der Gerichtshof die dritte Frage verneint und es (allein) den Sozialpartnern obliegt, bei Abschluss von Tarifverträgen, die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen, den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern iSd. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG zu achten, bedarf der Klärung, in welcher Intensität die nationalen Gerichte überprüfen dürfen, ob derartige Tarifverträge den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern ausreichend achten. Aufgrund der sog. Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen räumt das nationale Recht den Tarifvertragsparteien einen weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung einer Regelung ein (vgl. oben Rn. 28), der gerichtlich nur beschränkt überprüfbar ist. Insbesondere sind die Tarifvertragsparteien nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen (st. Rspr., vgl. nur - Rn. 47 mwN).
44Unionsrechtlich könnten der Hinweis auf die „Autonomie der Sozialpartner“ im Erwägungsgrund 19 zur Richtlinie 2008/104/EG und die in Art. 28 GRC geschützte Tarifautonomie für einen erheblichen Beurteilungsspielraum der nationalen Sozialpartner sprechen, zumal deren Recht, die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern festzulegen, nach Erwägungsgrund 16 zur Richtlinie 2008/104/EG dazu dient, der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden. Mit Blick auf die Erwägungsgründe 16 und 19 zur Richtlinie 2008/104/EG und auf Art. 28 GRC wird im deutschen Schrifttum mit guten Gründen eine allenfalls sehr eingeschränkte gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit auch solcher Tarifregelungen, die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen, befürwortet (vgl. dazu Hamann/Klengel EuZA 2017, 485, 499 f.; Rieble/Vielmeier EuZA 2011, 474, 498 ff.; Waas ZESAR 2009, 207, 211; Sansone Gleichstellung von Leiharbeitnehmern nach deutschem und Unionsrecht 2011 S. 540 ff.; EuArbRK/Rebhan/Schörghofer/Kolbe 3. Aufl. RL 2008/104/EG Art. 5 Rn. 20 f. mwN). Wie weit ein solcher Beurteilungsspielraum reichen würde, ob er auch in Bezug auf die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern besteht und - wenn ja - wie weit er im Einzelnen der gerichtlichen Kontrolle entzogen ist, erschließt sich aus der Richtlinie 2008/104/EG nicht mit hinreichender Deutlichkeit und ist nicht geklärt.
45E. Das Revisionsverfahren wird gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2020:161220.B.5AZR143.19A.0
Fundstelle(n):
BB 2021 S. 1267 Nr. 21
DStR 2021 S. 1119 Nr. 19
ZIP 2021 S. 1620 Nr. 31
GAAAH-78134