Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Gefahrenprognose bei längerer Straffreiheit des Beschuldigten
Gesetze: § 20 StGB, § 63 StGB, § 267 StPO
Instanzenzug: LG Bielefeld Az: 2 KLs 1/20
Gründe
1Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Beschuldigten.
2Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der Unterbringungsanordnung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen der Anlasstaten können bestehen bleiben; insoweit ist die Revision unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
3Nach den Feststellungen leidet der nicht vorbestrafte Beschuldigte seit 1987 an einer paranoiden Schizophrenie mit einer chronischen Verlaufsform.
4Ab Ende August 2017 war der Beschuldigte auf betreuungsrechtlicher Grundlage in einer Integrationseinrichtung untergebracht. Die Unterbringung erfolgte für kurze Zeit geschlossen, anschließend aber mit der Möglichkeit täglicher Ausgänge. Da der Beschuldigte eine Medikation mit Neuroleptika durchgängig verweigerte, kam es häufiger zu psychotischen Zuständen, in welchen der Beschuldigte ein aggressives Verhalten gegenüber Mitbewohnern und dem Personal zeigte, das sich in Beschimpfungen, Bedrohungen sowie körperlichen Übergriffen äußerte. Am schlug der Beschuldigte auf dem Flur vor seinem Zimmer einer Mitbewohnerin unvermittelt mindestens einmal mit der Faust gegen den Oberkörper, wobei es der Geschädigten noch gelang, sich wegzudrehen. Im Anschluss trat der Beschuldigte ihr kräftig gegen den Oberkörper, sodass sie nach hinten zu Boden fiel (Tat II. 1 der Urteilsgründe). Am begab sich der Beschuldigte in die Gemeinschaftsküche seiner Wohneinrichtung und traf dort auf einen Mitbewohner. Der Beschuldigte nahm ein auf einem Tisch stehendes Marmeladenglas ohne Deckel in die Hand und schlug es dem Mitbewohner, der sich ihm gerade zugewandt hatte, gegen die linke Gesichtsseite. Als Folge des Schlags blutete der Geschädigte aus Mund und Nase und trug den Abbruch eines Schneidezahns davon (Tat II. 2 der Urteilsgründe). Am Morgen des begab sich der Beschuldigte zum Pflegedienstzimmer der Einrichtung, trat gegen die Tür des Zimmers und verlangte von dem die Tür öffnenden Pfleger, ihm das Verlassen der Einrichtung für einen Ausgang zu ermöglichen. Als der Pfleger ihm mitteilte, dass dies aus organisatorischen Gründen erst später möglich sei, trat der Beschuldigte ihm kräftig in den Genitalbereich (Tat II. 3 der Urteilsgründe).
5Im Anschluss an eine vorübergehende Unterbringung in der Psychiatrie nach landesrechtlichen Vorschriften im Oktober 2018 war die Integrationseinrichtung nicht mehr bereit, den Beschuldigten erneut aufzunehmen, sodass dieser auf Notschlafplätze in Obdachlosenunterkünften angewiesen war. Nachdem ihm am von einer Mitarbeiterin einer Wohnungslosenunterkunft ein Zimmer zugewiesen worden war, lief der Beschuldigte der Mitarbeiterin, die gerade im Begriff war, das Zimmer zu verlassen und die Tür zu schließen, hinterher und drückte die Tür derart zu, dass der rechte Arm der Geschädigten zwischen Türblatt und Türrahmen eingeklemmt wurde. Erst als die Geschädigte schimpfte und schrie, ließ der Beschuldigte das Türblatt los und wich zurück. Die Geschädigte erlitt eine leichte Prellung und Schwellung des Ellenbogens (Tat II. 4 der Urteilsgründe).
II.
6Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand, weil die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts auf einer unvollständigen Gesamtwürdigung beruht.
71. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat(en) ergibt, dass von ihm in Folge seines fortdauernden Zustands mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten in Folge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Dabei sind neben der konkreten Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung auch die auf die Person des Täters und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Straftaten jenseits der Anlasstaten belegen können, einzustellen (st. Rspr.; vgl. nur ‒ 4 StR 419/18, insoweit in StV 2019, 444 nicht abgedruckt; Urteil vom ‒ 4 StR 195/18, NStZ-RR 2019, 41, 42; Beschluss vom ‒ 1 StR 253/19 Rn. 4; jeweils mwN).
8Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehender Grunderkrankung in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann ihm Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher Straftaten sein und ist deshalb regelmäßig zu erörtern (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom ‒ 1 StR 253/19 Rn. 5; vom ‒ 4 StR 419/18, StV 2019, 444, 445 f.; Urteile vom ‒ 2 StR 170/14, NStZ 2015, 387, 388; vom ‒ 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27).
92. An diesen Anforderungen gemessen erweist sich die der Gefahrenprognose zugrundeliegende Abwägung des Landgerichts als lückenhaft. Die Strafkammer hat für ihre Gefährlichkeitsbeurteilung ausschließlich die Anlasstaten herangezogen, die der Beschuldigte im Zeitraum vom bis während der betreuungsrechtlichen Unterbringung sowie am beging. Nicht wie geboten in den Blick genommen hat sie dagegen den Umstand, dass der Beschuldigte, der seit über 30 Jahren an der zwischenzeitlich chronifizierten paranoiden Schizophrenie leidet, bislang nicht vorbestraft ist und Feststellungen zu einem strafrechtlich relevanten Verhalten des Beschuldigten in den Jahren vor den Anlasstaten nicht getroffen worden sind. Gleiches gilt für den Zeitraum von gut einem Jahr nach der letzten Anlasstat bis zur Hauptverhandlung vor dem Landgericht, in welchem der Beschuldigte nicht strafrechtlich in Erscheinung trat. Soweit in den Urteilsgründen mitgeteilt wird, dass der Beschuldigte im Vorfeld der Ende August 2017 angeordneten betreuungsrechtlichen Unterbringung sowie während der Unterbringung über die Anlasstaten hinaus körperlich übergriffig geworden sei, erschöpfen sich die Ausführungen in allgemeinen Schilderungen, die vage bleiben und zudem nicht beweiswürdigend unterlegt sind. Konkrete tatsächliche Feststellungen zu diesen Geschehen hat das Landgericht nicht getroffen. Auch zu einem in den Feststellungen zum Nachtatgeschehen erwähnten körperlichen Angriff des Beschuldigten, der während der laufenden Hauptverhandlung zu einem Hausverbot in der von ihm zuletzt bewohnten Unterkunft führte, lassen sich den Urteilsgründen keine konkreten Einzelheiten entnehmen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:031220B4STR317.20.0
Fundstelle(n):
XAAAH-75814