Rechtsmittel – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Staatliche Beihilfen – Ungarische Steuer auf Umsätze aus der Verbreitung von Werbung – Anhaltspunkte für die Bestimmung des Referenzsystems – Progression der Steuersätze – Übergangsregelung zur teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste – Vorliegen eines selektiven Vorteils – Beweislast
Leitsatz
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten einschließlich der Kosten, die der Republik Polen entstanden sind.
Instanzenzug:
Gründe
1 Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Europäische Kommission die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom , Ungarn/Kommission (T-20/17, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2019:448), mit dem das Gericht den Beschluss (EU) 2017/329 der Kommission vom über die Maßnahme SA.39235 (2015/C) (ex 2015/NN) Ungarns bezüglich der Besteuerung von Werbeumsätzen (ABl. 2017, L 49, S. 36) (im Folgenden: streitiger Beschluss) für nichtig erklärt hat.
Vorgeschichte des Rechtsstreits
2 Das Gericht hat die Vorgeschichte des Rechtsstreits in den Rn. 1 bis 32 des angefochtenen Urteils dargestellt. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen.
3 Am erließ Ungarn das Gesetz Nr. XXII von 2014 über die Werbesteuer (im Folgenden: Werbesteuergesetz). Mit dem Gesetz, das am in Kraft trat, wurde eine neue Sondersteuer mit progressiv gestaffelten Steuersätzen auf Einkünfte eingeführt, die in Ungarn mit der Verbreitung von Werbung erzielt werden (im Folgenden: fragliche steuerliche Maßnahme). Während der von der Kommission durchgeführten beihilferechtlichen Prüfung des Werbesteuergesetzes erklärten die ungarischen Behörden, Ziel dieser Steuer sei es, den Grundsatz der Verteilung öffentlicher Lasten zu fördern.
4 Nach diesem Gesetz unterliegt der fraglichen steuerlichen Maßnahme, wer Werbung verbreitet. Steuerpflichtig sind somit Wirtschaftsteilnehmer, die Werbung verbreiten, wie etwa die Herausgeber von Printmedien und audiovisuellen Medien oder die Anzeigendienste, jedoch weder die Inserenten (also diejenigen, die die Werbeanzeigen in Auftrag geben) noch die Werbeagenturen, die als Vermittler zwischen den Inserenten und den Werbungsverbreitern fungieren. Bemessungsgrundlage der fraglichen steuerlichen Maßnahme ist der mit der Verbreitung von Werbung in einem Geschäftsjahr erzielte Nettoumsatz. Sie wird neben bestehenden Unternehmensteuern, insbesondere der Körperschaftsteuer, erhoben. Ihr räumlicher Geltungsbereich ist Ungarn.
5 Der Steuertarif der fraglichen steuerlichen Maßnahme wurde wie folgt festgelegt:
0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 0,5 Mrd. ungarische Forint (HUF) (rund 1 400 000 Euro);
1 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 0,5 und 5 Mrd. HUF (rund 14 Mio. Euro);
10 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 5 und 10 Mrd. HUF (rund 28 Mio. Euro);
20 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 10 und 1 Mrd. HUF (rund 42 Mio. Euro);
30 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 15 und 20 Mrd. HUF (rund 56 Mio. Euro);
40 % für den über dem letztgenannten Betrag liegenden Teil der Bemessungsgrundlage; dieser Steuersatz wurde ab dem auf 50 % angehoben.
6 Das Werbesteuergesetz sah ferner vor, dass Steuerpflichtige, deren Gewinn im Geschäftsjahr 2013 vor Steuern gleich null oder negativ war, vorgetragene Verluste früherer Geschäftsjahre in Höhe von 50 % von ihrer Bemessungsgrundlage für 2014 abziehen konnten (im Folgenden: Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste).
7 Mit Beschluss vom leitete die Kommission das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV ein, wobei sie den progressiven Charakter der fraglichen steuerlichen Maßnahme und den Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste als staatliche Beihilfen betrachtete. In diesem Beschluss vertrat die Kommission die Auffassung, durch die Progression der Steuersätze werde zwischen Unternehmen mit hohen Werbeeinnahmen (d. h. großen Unternehmen) und Unternehmen mit geringen Werbeeinnahmen (d. h. kleinen Unternehmen) unterschieden. Die fragliche steuerliche Maßnahme verschaffe Letzteren einen selektiven Vorteil. Auch durch den Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste werde ein selektiver Vorteil und somit eine staatliche Beihilfe gewährt.
8 Mit diesem Beschluss gab die Kommission den ungarischen Behörden aufgrund von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1) auf, die fragliche steuerliche Maßnahme auszusetzen.
9 Daraufhin änderte Ungarn diese Maßnahme durch das am erlassene Gesetz Nr. LXII von 2015 (im Folgenden: Gesetz von 2015). Der aus sechs Steuersätzen von 0 % bis 50 % bestehende progressive Tarif der fraglichen steuerlichen Maßnahme wurde durch folgenden, aus zwei Steuersätzen bestehenden Tarif ersetzt:
0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 100 Mio. HUF (rund 280 000 Euro) und
5,3 % für den Teil der Bemessungsgrundlage ab 100 Mio. HUF.
10 Am schloss die Kommission das förmliche Prüfverfahren mit dem Erlass des streitigen Beschlusses ab.
11 In Art. 1 dieses Beschlusses stellte die Kommission fest, dass der progressive Charakter der fraglichen steuerlichen Maßnahme, auch in der durch das Gesetz von 2015 geänderten Fassung, sowie der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste eine staatliche Beihilfe darstellten. Diese Beihilfe sei unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV rechtswidrig gewährt worden und zudem im Hinblick auf Art. 107 Abs. 1 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar. In Art. 4 des streitigen Beschlusses gab die Kommission Ungarn auf, die für unvereinbar mit dem Binnenmarkt erklärten Beihilfen von den Empfängern zurückzufordern.
12 Zu diesem Zweck mussten die ungarischen Behörden von Unternehmen mit Werbeumsätzen für den Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten des Werbesteuergesetzes und dem Datum der Aufhebung der fraglichen steuerlichen Maßnahme bzw. ihres Ersatzes durch eine mit dem Beihilferecht der Union vereinbare Regelung die Differenz zwischen folgenden Beträgen zurückfordern: dem Steuerbetrag, den die Unternehmen bei Anwendung des Referenzsystems in Form einer Steuerregelung mit einem einheitlichen Steuersatz von 5,3 % (es sei denn, die ungarischen Behörden legen einen anderen Satz fest) hätten zahlen müssen, und dem Steuerbetrag, den die Unternehmen zahlen mussten oder bereits gezahlt hatten. Bei einer positiven Differenz zwischen diesen beiden Beträgen musste der entsprechende Betrag zuzüglich Zinsen ab Fälligkeit der Steuer zurückgefordert werden.
13 Die Kommission hielt eine Rückforderung hingegen nicht für erforderlich, wenn Ungarn die fragliche steuerliche Maßnahme rückwirkend zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens aufhebt. Für die Zukunft, z. B. ab 2017, könnte Ungarn eine Steuerregelung ohne Progression einführen, bei der nicht zwischen den besteuerten Wirtschaftsakteuren unterschieden würde.
14 Die Kommission begründete die Einstufung der fraglichen steuerlichen Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV im Kern wie folgt.
15 In Bezug auf die Zurechenbarkeit der fraglichen steuerlichen Maßnahme zum Staat und auf ihre Finanzierung durch staatliche Mittel führte die Kommission aus, mit Erlass des Werbesteuergesetzes habe Ungarn auf Einnahmen verzichtet, die es andernfalls von Unternehmen mit einem geringen Umsatz aus Werbeeinnahmen (d. h. von kleinen Unternehmen) hätte erheben müssen, wenn sie derselben Besteuerung unterlegen hätten wie Unternehmen mit einem höheren Umsatz aus Werbeeinnahmen (d. h. größere Unternehmen).
16 Zum Vorliegen eines Vorteils wies die Kommission darauf hin, dass Maßnahmen, welche die von den Unternehmen normalerweise zu tragenden Belastungen verminderten, genauso wie positive Leistungen einen Vorteil verschafften. Im vorliegenden Fall seien Unternehmen mit niedrigem Umsatz dadurch, dass sie einem wesentlich niedrigeren Durchschnittsteuersatz unterlägen, im Vergleich zu Unternehmen mit hohem Umsatz weniger belastet worden, was den kleineren Unternehmen gegenüber größeren Unternehmen einen Vorteil verschafft habe.
17 Der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste stelle ebenfalls einen Vorteil dar, weil dadurch die Steuerbelastung von Unternehmen, die 2013 keinen Gewinn erwirtschaftet hätten und daher über vorgetragene Verluste verfügten, im Vergleich zu Unternehmen, die von diesem Mechanismus keinen Gebrauch machen könnten, verringert werde.
18 Bei der Prüfung der Selektivität der fraglichen steuerlichen Maßnahme stellte die Kommission zunächst fest, dass das Referenzsystem, von dem auszugehen sei, in einer speziellen Steuer auf Umsätze bestehe, die mit der Verbreitung von Werbung erzielt würden. Die progressiven Steuersätze der Werbesteuer könnten jedoch nicht als Teil dieses Referenzsystems betrachtet werden. Es sei nämlich selbst nur dann nicht als staatliche Beihilfe anzusehen, wenn es zwei Voraussetzungen erfülle, und zwar zum einen auf einem einheitlichen Steuersatz für alle Werbeumsätze aufbaue und zum anderen kein Element enthalte, das bestimmten Unternehmen einen selektiven Vorteil verschaffen könne.
19 Die Kommission vertrat sodann die Ansicht, im vorliegenden Fall stelle die progressive Struktur der Besteuerung insofern, als sie für die Unternehmen nicht nur zu unterschiedlichen Grenzsteuersätzen, sondern auch zu unterschiedlichen Durchschnittsteuersätzen führe, eine Abweichung von dem Referenzsystem in Form einer Werbesteuer mit einem einheitlichen Steuersatz für alle Unternehmen dar, die in Ungarn Werbung verbreiteten.
20 Auch der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit übertragener Verluste, der Unternehmen vorbehalten sei, die 2013 keinen Gewinn erwirtschaftet hätten, stelle eine Abweichung vom Referenzsystem dar, das durch eine Besteuerung des Umsatzes gekennzeichnet sei. In diesem Rahmen könnten die auf den Unternehmen lastenden Kosten, anders als bei der Besteuerung des Gewinns, nicht von der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen werden. Durch diesen Mechanismus werde daher eine willkürliche Unterscheidung zwischen zwei Gruppen von Unternehmen eingeführt, die sich jedoch in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden, und zwar Unternehmen mit aus den vorangegangenen Geschäftsjahren vorgetragenen Verlusten, die im Wirtschaftsjahr 2013 keinen Gewinn erzielt hätten, und Unternehmen, die 2013 Gewinne erzielt hätten. Die Möglichkeit eines teilweisen Abzugs der Verluste, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Werbesteuergesetzes bestanden hätten, sei zwangsläufig selektiv, da sie Unternehmen begünstige, die – insbesondere wegen ihrer Anhäufung in den Vorjahren – erhebliche Verlustvorträge hätten.
21 Schließlich führte die Kommission aus, mit dem Werbesteuergesetz in der durch das Gesetz von 2015 geänderten Fassung sei eine Steuer geschaffen worden, die auf denselben Grundsätzen beruhe und dieselben Merkmale aufweise wie die ursprüngliche Fassung. Die Steuer, die sich aus diesem geänderten Gesetz ergebe, weise daher Merkmale auf, die mit jenen identisch seien, die ursprünglich zur Einstufung als staatliche Beihilfen geführt hätten.
22 Am erließ Ungarn das Gesetz Nr. XLVII von 2017 zur Änderung des Werbesteuergesetzes. Durch dieses Gesetz wurde die fragliche steuerliche Maßnahme im Kern rückwirkend aufgehoben.
Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil
23 Am erhob Ungarn Klage gegen den streitigen Beschluss. Mit gesondertem Schriftsatz, der am selben Tag einging, stellte Ungarn einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs, der vom Präsidenten des Gerichts mit Beschluss vom , Ungarn/Kommission (T-20/17 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:203), zurückgewiesen wurde.
24 Mit Beschluss vom ließ der Präsident der Neunten Kammer des Gerichts die Republik Polen als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge Ungarns zu.
25 Ungarn stützte seine Klage auf drei Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund rügte es, dass die fragliche steuerliche Maßnahme zu Unrecht als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft worden sei, mit dem zweiten Klagegrund, dass gegen die Begründungspflicht verstoßen worden sei, und mit dem dritten Klagegrund, dass ein Ermessensmissbrauch vorliege.
26 Im angefochtenen Urteil hat das Gericht dem ersten dieser Klagegründe mit der Begründung stattgegeben, die Kommission habe zu Unrecht angenommen, dass die fragliche steuerliche Maßnahme und der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste selektive Vorteile darstellten. Es hat daher den streitigen Beschluss für nichtig erklärt, ohne auf die übrigen Klagegründe einzugehen.
Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien
27 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Kommission,
das angefochtene Urteil aufzuheben;
den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden, den zweiten und den dritten von Ungarn gegen den streitigen Beschluss vorgebrachten Klagegrund zurückzuweisen und Ungarn die Kosten aufzuerlegen;
hilfsweise, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen, damit es über die noch nicht geprüften Klagegründe entscheidet.
28 Ungarn, unterstützt durch die Republik Polen, beantragt,
das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen und
der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Zum Rechtsmittel
29 Die Kommission trägt zwei Rechtsmittelgründe vor.
Zum ersten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV insofern, als das Gericht festgestellt hat, dass die Progression der fraglichen steuerlichen Maßnahme zu keinem selektiven Vorteil führe
30 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV verstoßen, als es entschieden habe, dass die Progression der fraglichen steuerlichen Maßnahme Unternehmen, deren Umsatz mit dem Verkauf von Waren im Einzelhandel nicht besonders hoch sei, keinen selektiven Vorteil verschaffe. Das Gericht habe bei der Auslegung und Anwendung jedes der drei Schritte zur Prüfung der Selektivität dieser Maßnahme einen Rechtsfehler begangen. Zunächst habe das Gericht zu Unrecht angenommen, dass die Steuerprogression Teil des Referenzsystems sei, anhand dessen die Selektivität der fraglichen steuerlichen Maßnahme zu beurteilen sei. Ferner habe es die Vergleichbarkeit der Unternehmen, die dieser Maßnahme unterlägen, nicht anhand eines anderen als des fiskalischen Ziels der Maßnahme prüfen dürfen. Schließlich habe es im Rahmen seiner Prüfung der Rechtfertigung der Maßnahme zu Unrecht ein Ziel – das Ziel der Umverteilung – berücksichtigt, das nicht untrennbar mit der Maßnahme verbunden sei.
31 Ungarn und die Republik Polen treten diesem Vorbringen entgegen.
32 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Maßnahmen der Mitgliedstaaten in Bereichen, die nicht unionsrechtlich harmonisiert sind, nicht vom Anwendungsbereich der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Kontrolle staatlicher Beihilfen ausgenommen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Belgien und Forum 187/Kommission, C-182/03 und C-217/03, EU:C:2006:416, Rn. 81). Die Mitgliedstaaten dürfen daher keine steuerliche Maßnahme erlassen, die eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellen kann.
33 Insoweit ergibt sich aus einer ebenfalls ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Einstufung einer nationalen Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV verlangt, dass alle nachstehend genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss die Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil verschafft werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (vgl. u. a. Urteil vom , Kommission/World Duty Free Group u. a., C-20/15 P und C-21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Bei der Beurteilung des untrennbar mit der Einstufung einer Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV verbundenen Merkmals der Selektivität des Vorteils, das alleiniger Gegenstand der Rüge durch die Kommission im Rahmen ihres ersten Rechtsmittelgrundes ist, bedarf es nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Feststellung, ob eine nationale Maßnahme im Rahmen einer konkreten rechtlichen Regelung geeignet ist, „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und somit eine unterschiedliche Behandlung erfahren, die der Sache nach als diskriminierend eingestuft werden kann (Urteil vom , A-Brauerei, C-374/17, EU:C:2018:1024, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Ist die in Rede stehende Maßnahme als Beihilferegelung und nicht als Einzelbeihilfe konzipiert, muss die Kommission überdies dartun, dass die Maßnahme, obwohl sie einen allgemeinen Vorteil vorsieht, diesen allein bestimmten Unternehmen oder Branchen verschafft (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom , Belgien/Kommission, C‑270/15 P, EU:C:2016:489, Rn. 49).
36 Insbesondere in Bezug auf nationale Maßnahmen, die einen Steuervorteil verschaffen, ist darauf hinzuweisen, dass eine derartige Maßnahme, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, die Begünstigten aber finanziell besserstellt als die übrigen Steuerpflichtigen, den Empfängern einen selektiven Vorteil verschaffen und daher eine „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen kann. Als staatliche Beihilfe gelten dabei insbesondere Maßnahmen, die die von einem Unternehmen regelmäßig zu tragenden Belastungen vermindern und somit, obwohl sie keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen nach Art und Wirkungen gleichstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Banco Exterior de España, C-387/92, EU:C:1994:100, Rn. 13 und 14, sowie vom , Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, C-106/09 P und C-107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 71 und 72). Dagegen stellt ein Steuervorteil, der aus einer unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer geltenden allgemeinen Maßnahme resultiert, keine staatliche Beihilfe im Sinne dieser Bestimmung dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , A-Brauerei, C-374/17, EU:C:2018:1024, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 In diesem Kontext muss die Kommission bei der Einstufung einer nationalen steuerlichen Maßnahme als „selektiv“ in einem ersten Schritt das Referenzsystem, also die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende „normale“ Steuerregelung, ermitteln und in einem zweiten Schritt dartun, dass die in Rede stehende steuerliche Maßnahme insofern von diesem Referenzsystem abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit dem Referenzsystem verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , A-Brauerei, C-374/17, EU:C:2018:1024, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Maßnahmen, mit denen eine Unterscheidung zwischen Unternehmen vorgenommen wird, die sich im Hinblick auf das Ziel, das die in Rede stehende nationale Regelung verfolgt, in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und die damit a priori selektiv sind, werden jedoch nicht von dem Begriff „staatliche Beihilfe“ erfasst, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass diese Unterscheidung gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Systems ergibt, in das sich die Maßnahmen einfügen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom , Niederlande/Kommission, C-159/01, EU:C:2004:246, Rn. 42 und 43, vom , 3M Italia, C-417/10, EU:C:2012:184, Rn. 40, sowie vom , A-Brauerei, C-374/17, EU:C:2018:1024, Rn. 44).
39 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob das Gericht im vorliegenden Fall gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV in dessen Auslegung durch den Gerichtshof verstoßen hat, als es im Wesentlichen entschieden hat, die Kommission habe nicht nachgewiesen, dass durch den progressiven Charakter der fraglichen steuerlichen Maßnahme „bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen“ ein selektiver Vorteil verschafft werde.
40 Mit dem ersten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes macht die Kommission geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es ihr vorgeworfen habe, das etwaige Vorliegen eines selektiven Vorteils anhand eines falschen Referenzsystems geprüft zu haben, und davon ausgegangen sei, dass die vom ungarischen Gesetzgeber festgelegten progressiven Steuersätze integraler Bestandteil dieses Referenzsystems seien.
41 Nach Ansicht der Kommission besteht der durch die fragliche steuerliche Maßnahme bewirkte selektive Vorteil nicht in der Steuerbefreiung für den unterhalb einer bestimmten Grenze liegenden Teil des Umsatzes, da diese Befreiung allen betroffenen Unternehmen für den entsprechenden Teil ihres Umsatzes zugutekommt, sondern darin, dass sich aus der Progression der Steuersätze unterschiedliche Durchschnittsteuersätze ergäben. Dadurch würden Unternehmen, deren Umsatz nicht besonders hoch sei, begünstigt, indem ihre Steuerlast im Vergleich zu der Steuerlast, die von den übrigen Unternehmen im Rahmen des auf einer Umsatzsteuer mit einem einheitlichen Steuersatz von 5,3 % beruhenden Referenzsystems zu tragen sei, in ungerechtfertigter Weise verringert werde. Somit unterscheide sich die Besteuerung zu progressiven Steuersätzen nicht von der Situation, in der für eine Gruppe von Steuerpflichtigen ein bestimmter Steuersatz gelte und für eine andere Gruppe von Steuerpflichtigen ein anderer Steuersatz, was einer unterschiedlichen Behandlung vergleichbarer Unternehmen gleichkomme.
42 Daher stellt sich zunächst die Frage, ob – wie die Kommission geltend macht – die Progression der Steuersätze, wie sie die fragliche steuerliche Maßnahme vorsieht, vom Referenzsystem, anhand dessen das Vorliegen eines selektiven Vorteils zu prüfen ist, auszunehmen ist oder ob sie – wie das Gericht in den Rn. 78 bis 83 des angefochtenen Urteils entschieden hat – im Gegenteil integraler Bestandteil dieses Systems ist.
43 Im Bereich der Grundfreiheiten des Binnenmarkts hat der Gerichtshof entschieden, dass es den Mitgliedstaaten beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung des Steuerrechts der Union freisteht, das ihnen am geeignetsten erscheinende Steuersystem einzuführen, so dass die Anwendung einer progressiven Besteuerung in das Ermessen jedes Mitgliedstaats fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Vodafone Magyarország, C-75/18, EU:C:2020:139, Rn. 49, und Tesco-Global Áruhazák, C-323/18, EU:C:2020:140, Rn. 69 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt auch für den Bereich staatlicher Beihilfen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom , ANGED, C-233/16, EU:C:2018:280, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Daraus folgt, dass außerhalb der Bereiche, in denen das Steuerrecht der Union harmonisiert wurde, die Bestimmung der grundlegenden Merkmale jeder Steuer aufgrund der Steuerautonomie der Mitgliedstaaten in deren Ermessen liegt, das in jedem Fall im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt werden muss. Dies gilt u. a. für die Wahl des Steuersatzes, der proportional oder progressiv sein kann, aber auch für die Festlegung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und des Steuertatbestands.
45 Diese grundlegenden Merkmale definieren somit grundsätzlich das Referenzsystem bzw. die „normale“ Steuerregelung, anhand deren nach der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Voraussetzung der Selektivität zu prüfen ist.
46 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht im Bereich der staatlichen Beihilfen die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht daran hindert, sich für progressive Steuersätze zu entscheiden, mit denen der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen Rechnung getragen werden soll. Der Umstand, dass eine progressive Besteuerung in der Praxis häufiger für natürliche Personen gewählt wird, bedeutet nicht, dass es den Mitgliedstaaten untersagt wäre, auch zur Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit juristischer Personen, insbesondere von Unternehmen, darauf zurückzugreifen.
47 Das Unionsrecht steht somit einer an den Umsatz anknüpfenden progressiven Besteuerung nicht entgegen; dies gilt auch dann, wenn sie nicht dazu dient, die negativen Auswirkungen zu kompensieren, die sich aus der besteuerten Tätigkeit ergeben können. Entgegen dem Vorbringen der Kommission stellt nämlich die Höhe des Umsatzes im Allgemeinen sowohl ein neutrales Unterscheidungskriterium als auch einen relevanten Indikator für die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Vodafone Magyarország, C-75/18, EU:C:2020:139, Rn. 50, und Tesco-Global Áruhazák, C-323/18, EU:C:2020:140, Rn. 70). Keiner Vorschrift und keinem Grundsatz des Unionsrechts, auch im Bereich staatlicher Beihilfen, lässt sich entnehmen, dass die Anwendung progressiver Steuersätze allein der Besteuerung von Gewinnen vorbehalten wäre. Ebenso wie der Umsatz ist im Übrigen auch der Gewinn nur ein relativer Indikator der Leistungsfähigkeit. Dass die Kommission in ihm einen geeigneteren oder genaueren Indikator sieht als im Umsatz, spielt für den Bereich der staatlichen Beihilfen keine Rolle, da das Unionsrecht in diesem Bereich nur die Beseitigung selektiver Vorteile bezweckt, von denen bestimmte Unternehmen zum Nachteil anderer, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, profitieren könnten. Das Gleiche gilt für eine etwaige wirtschaftliche Doppelbesteuerung aufgrund der Kumulierung einer Umsatz- und einer Gewinnbesteuerung.
48 Nach alledem bilden die grundlegenden Merkmale der Steuer, zu denen die progressiven Steuersätze gehören, grundsätzlich das Referenzsystem bzw. die „normale“ Steuerregelung für die Zwecke einer Prüfung der Voraussetzung der Selektivität. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass diese Merkmale in bestimmten Fällen ein offensichtlich diskriminierendes Element aufweisen könnten; der Nachweis dafür obliegt jedoch der Kommission.
49 Das Urteil vom , Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C-106/09 P und C-107/09 P, EU:C:2011:732), vermag die vorstehenden Erwägungen nicht in Frage zu stellen. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 47 bis 52 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, wies das Steuersystem in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, vielmehr offensichtlich diskriminierende Parameter auf, durch die das Unionsrecht im Bereich staatlicher Beihilfen umgangen werden sollte. Dies zeigte sich in dieser Rechtssache an der Wahl von Besteuerungskriterien, die bestimmte „Offshore-Unternehmen“ begünstigten, was angesichts des vom betreffenden Gesetzgeber angegebenen Ziels, eine alle Unternehmen treffende allgemeine Besteuerung zu schaffen, inkohärent erschien.
50 Im vorliegenden Fall hat der ungarische Gesetzgeber, wie aus den Rn. 3 bis 6 und 9 des vorliegenden Urteils hervorgeht, mit dem Werbesteuergesetz die fragliche steuerliche Maßnahme eingeführt, bei der es sich um eine von sämtlichen Unternehmen zu entrichtende Sondersteuer mit progressiv gestaffelten Steuersätzen auf Einkünfte handelt, die in Ungarn mit der Verbreitung von Werbung erzielt werden. Der Tarif dieser Steuer, die entgegen dem Vorbringen der Kommission den Charakter einer direkten Steuer hat, wurde durch das Gesetz von 2015 geändert, wohingegen ihre Merkmale unverändert blieben. Die Kommission hat nicht nachgewiesen, dass diese Merkmale, für die sich der ungarische Gesetzgeber in Ausübung des Ermessens, über das er im Rahmen seiner Steuerautonomie verfügt, entschieden hat, in offensichtlich diskriminierender Weise ausgestaltet worden wären, um die Anforderungen zu umgehen, die sich aus dem Unionsrecht im Bereich staatlicher Beihilfen ergeben. Unter diesen Umständen musste die Progression der Steuersätze bei der fraglichen steuerlichen Maßnahme als dem Referenzsystem bzw. der „normalen“ Steuerregelung – anhand deren zu beurteilen war, ob im vorliegenden Fall ein selektiver Vorteil gewährt wurde – inhärent angesehen werden.
51 Dem Gericht ist daher kein Rechtsfehler unterlaufen, als es in den Rn. 78 bis 83 des angefochtenen Urteils entschieden hat, dass sich die Kommission mit ihrer Annahme, dass der progressive Tarif der fraglichen steuerlichen Maßnahme nicht Teil des bei ihrer Beurteilung der Selektivität dieser Maßnahme heranzuziehenden Referenzsystems sei, fälschlich auf ein unvollständiges und fiktives Referenzsystem stützte. Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
52 Da ein Fehler bei der Bestimmung des Referenzsystems zwangsläufig dazu führt, dass die gesamte Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität mit einem Mangel behaftet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Andres [Insolvenz Heitkamp BauHolding]/Kommission, C-203/16 P, EU:C:2018:505, Rn. 107), erübrigt sich die Prüfung des zweiten und des dritten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes.
53 Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.
Zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV insofern, als das Gericht festgestellt hat, dass der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste nicht zu einem selektiven Vorteil führe
54 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Kommission geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, als es angenommen habe, dass der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste, nach dem Unternehmen, deren Gewinn im Geschäftsjahr 2013 vor Steuern gleich null oder negativ war, vorgetragene Verluste in Höhe von 50 % von ihrer Bemessungsgrundlage für die fragliche steuerliche Maßnahme für 2014 abziehen konnten, zu keinem selektiven Vorteil führe. Dadurch habe das Gericht die Tragweite des Urteils vom , Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C‑106/09 P und C‑107/09 P, EU:C:2011:732, Rn. 97), verkannt.
55 Ungarn und die Republik Polen treten diesem Vorbringen entgegen.
56 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach den Ausführungen in Rn. 36 des vorliegenden Urteils ein Steuervorteil, der aus einer unterschiedslos für alle Wirtschaftsteilnehmer geltenden allgemeinen Maßnahme resultiert, keine „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt.
57 Wie in den Rn. 34 bis 38 des vorliegenden Urteils dargelegt, führt eine Maßnahme dann zu einem selektiven Vorteil, wenn eine Prüfung anhand der Steuerregelung, die als Referenzsystem bzw. „normale“ Steuerregelung ermittelt wurde, ergibt, dass diese Maßnahme zu einer Unterscheidung zwischen Wirtschaftsteilnehmern, die sich im Hinblick auf das mit der fraglichen nationalen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, führt, die nicht durch die Natur oder den Aufbau dieser Regelung gerechtfertigt ist.
58 Daraus folgt insbesondere, dass der bloße Umstand, dass nur Steuerpflichtige, die die Voraussetzungen für die Anwendung einer Maßnahme erfüllen, diese in Anspruch nehmen können, ihr keinen selektiven Charakter verleihen kann (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom , Kommission/World Duty Free Group u. a., C-20/15 P und C-21/15 P, EU:C:2016:981, Rn. 59). Die Selektivität einer Maßnahme kann auch nicht allein daraus abgeleitet werden, dass es sich um eine Übergangsmaßnahme handelt, da die Entscheidung, ihre Anwendung zeitlich zu begrenzen, um einen schrittweisen Übergang zwischen einer alten und einer neuen Steuerregelung zu gewährleisten, in dem in Rn. 44 des vorliegenden Urteils erwähnten Ermessen der Mitgliedstaaten steht.
59 Im vorliegenden Fall wollte der ungarische Gesetzgeber durch die Einführung des Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste die steuerliche Belastung der wirtschaftlich fragilsten Unternehmen im ersten Jahr ihrer Unterwerfung unter die fragliche steuerliche Maßnahme abmildern, zumal diese im Laufe des Jahres eingeführt worden war. Da dieser Mechanismus von vornherein als übergangsweise konzipiert wurde, kann er nicht als Teil des Referenzsystems bzw. der „normalen“ Steuerregelung angesehen werden, anhand dessen die Selektivität des Mechanismus zu prüfen ist, auch wenn er einer Regelung über die Besteuerungsgrundlage gleichkäme.
60 Daher ist zu prüfen, ob der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste eine Ungleichbehandlung von Wirtschaftsteilnehmern schafft, die sich im Hinblick auf das mit dem Werbesteuergesetz verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.
61 Insoweit unterscheidet dieser Mechanismus zwischen Unternehmen, die aus früheren Geschäftsjahren vorgetragene Verluste haben, soweit sie im Geschäftsjahr 2013 keine Gewinne erzielten, einerseits und Unternehmen, die im Geschäftsjahr 2013 Gewinne erzielten, andererseits, wobei nur die erstgenannten Unternehmen die Abzugsfähigkeit der vorgetragenen Verluste bei der Berechnung der Bemessungsgrundlage der fraglichen steuerlichen Maßnahme für das Jahr 2014 geltend machen können.
62 In Anbetracht des vom ungarischen Gesetzgeber mit dem Erlass des Werbesteuergesetzes verfolgten Ziels der Umverteilung, das sich an der Progression der fraglichen steuerlichen Maßnahme zeigt, befinden sich diese beiden Kategorien von Unternehmen nicht in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation. Die Wahl einer Bemessungsgrundlage, die an den Umsatz anknüpft, führt nämlich nicht dazu, dass im Hinblick auf dieses Ziel der Erlass einer Übergangsmaßnahme, die den Gewinn berücksichtigt, inkohärent wird, da auch der Gewinn – wie die Kommission im Übrigen in einem anderen Teil ihres Vorbringens ebenfalls geltend macht – einen neutralen und, wenngleich relativen, relevanten Indikator für die Leistungsfähigkeit der Unternehmen darstellt.
63 Wie die Generalanwältin in Nr. 109 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat und wie das Gericht in Rn. 122 des angefochtenen Urteils entschieden hat, ist das Kriterium des mangelnden Gewinns im Geschäftsjahr 2013 insoweit objektiver Natur, da die Leistungsfähigkeit der betreffenden Unternehmen aus dieser Sicht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Werbesteuergesetzes im Laufe des Jahres 2014 geringer war als die der anderen Unternehmen.
64 Folglich konnte der ungarische Gesetzgeber, ohne gegen das Unionsrecht im Bereich der staatlichen Beihilfen zu verstoßen, im ersten Jahr der Anwendung dieses Gesetzes die Messung der Leistungsfähigkeit, die sich aus der Höhe des Umsatzes ergab, mit einer Regelung kombinieren, mit der die von Unternehmen, die im Geschäftsjahr 2013 keine Gewinne erzielt hatten, vorgetragenen Verluste berücksichtigt werden konnten.
65 Der Umstand, dass die Unternehmen, die den Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste in Anspruch nehmen konnten, zum Zeitpunkt der Einführung der fraglichen steuerlichen Maßnahme bereits feststellbar waren, ist für sich genommen nicht geeignet, diese Schlussfolgerung in Frage zu stellen.
66 Zudem kann dem Vorbringen der Kommission nicht gefolgt werden, wonach das Gericht in den Rn. 119 bis 122 des angefochtenen Urteils die Tragweite des Urteils vom , Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C-106/09 P und C-107/09 P, EU:C:2011:732), verkannt habe, als es entschieden habe, dass die ungarischen Behörden durch den Erlass des Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste eine Unterscheidung vorgenommen hätten, die auf einem objektiven und willkürlichen Kriterium beruhe, das keine Selektivität induziere.
67 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 77 bis 83 des letztgenannten Urteils u. a. entschieden hat, dass steuerliche Maßnahmen, die an die von einem Steuerpflichtigen erzielten Gewinne anknüpfen, nicht allein deshalb als selektiv angesehen werden können, denn solche Gewinne sind Folge des zufälligen Umstands, dass der fragliche Wirtschaftsteilnehmer im Veranlagungszeitraum wenig oder – im Gegenteil– sehr gewinnbringend arbeitet. Wie das Gericht in Rn. 120 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen festgestellt hat, wurde diese Erwägung zwar im Kontext einer Rechtssache angestellt, in der die Bemessungsgrundlage der in Rede stehenden steuerlichen Maßnahmen an andere Kriterien als die Gewinne – wie die Zahl der Arbeitnehmer und die Nutzung von Geschäftslokalen – anknüpfte, doch gilt sie auch dann, wenn der fragliche Steuervorteil, wie im vorliegenden Fall, auf einer Minderung der an den Umsatz anknüpfenden Steuerbemessungsgrundlage beruht, dadurch dem Ausbleiben von Gewinnen in einem bestimmten Geschäftsjahr und dem Vorliegen vorgetragener Verluste Rechnung trägt und somit dem mit der Steuerregelung, in deren Rahmen dieser Vorteil gewährt wird und die sich an der Leistungsfähigkeit der steuerpflichtigen Unternehmen orientiert, verfolgten Ziel der Umverteilung entspricht.
68 Daraus folgt, wie das Gericht in den Rn. 117 bis 123 des angefochtenen Urteils zutreffend entschieden hat, dass die Kommission zu Unrecht angenommen hat, dass der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste den Unternehmen, deren Gewinn vor Steuern im Geschäftsjahr 2013 gleich null oder negativ gewesen sei und die über vorgetragene Verluste verfügt hätten, einen selektiven Vorteil verschafft habe, der eine staatliche Beihilfe darstelle. Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann dem Gericht insoweit nicht vorgeworfen werden, ultra petita entschieden zu haben. Der zweite Rechtsmittelgrund ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
69 Da beide von der Kommission vorgetragenen Rechtsmittelgründe zurückzuweisen sind, ist das Rechtsmittel in vollem Umfang zurückzuweisen.
Kosten
70 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn die Verurteilung der Kommission beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
71 Nach Art. 184 Abs. 4 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof einer erstinstanzlichen Streithilfepartei, die das Rechtsmittel nicht selbst eingelegt hat, ihre eigenen Kosten auferlegen, wenn sie am schriftlichen oder mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat. Im vorliegenden Fall hat die Republik Polen als erstinstanzliche Streithilfepartei, die das Rechtsmittel nicht selbst eingelegt hat, am schriftlichen und mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen. Da die Republik Polen dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge Ungarns beigetreten ist und beantragt hat, der Kommission die Kosten aufzuerlegen, sind dieser die der Republik Polen entstandenen Kosten aufzuerlegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Andres [Insolvenz Heitkamp BauHolding]/Kommission, C-203/16 P, EU:C:2018:505, Rn. 113 und 114).
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.
2. Die Europäische Kommission trägt die Kosten einschließlich der Kosten, die der Republik Polen entstanden sind.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2021:202
Fundstelle(n):
AAAAH-75505