Nichtzulassungsbeschwerde - überlanges Gerichtsverfahren - unangemessene Verfahrensdauer - verzögerndes Prozessverhalten des Klägers - Warten auf angekündigte Klagebegründung - Grundpflicht des Gerichts zur Verfahrensförderung - Ausschöpfung aller zur Verfügung stehender Mittel - keine zeitnahe Fristsetzung bzw Erinnerung - Zurechnung der Verzögerungszeit zum beklagten Land - keine Divergenz zur Rechtsprechung des BVerfG - Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls
Gesetze: § 198 Abs 1 S 1 GVG, § 198 Abs 1 S 2 GVG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 2 SGG, Art 19 Abs 4 GG
Instanzenzug: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 37 SF 343/17 EK AS Urteil
Gründe
1I. Das LSG hat als Entschädigungsgericht mit Urteil vom den Beklagten verurteilt, an die Klägerin wegen überlanger Dauer eines vor dem SG Potsdam unter dem Az S 31 AS 2808/14 geführten Verfahrens eine Entschädigung von 400 Euro zu zahlen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, eine dem beklagten Land zurechenbare Verzögerung liege auch insoweit vor, als das Ausgangsgericht nach Rücklauf der Verwaltungsakten und nach Ablauf der der Klägerin gesetzten Frist nicht auf die Einreichung der Klagebegründung gedrungen habe. Der Einwand, die Klägerin müsse sich die in der Zeit von Juni bis Oktober 2015 (fünf Kalendermonate) eingetretene Verzögerung zurechnen lassen, weil ihre Prozessbevollmächtigten bereits mit der Klageschrift eine Klagebegründung angekündigt hätten, dieser Ankündigung aber nicht nachgekommen seien, überzeuge nicht. Vielmehr sei mit der Rechtsprechung des BSG davon auszugehen, dass eine durch Verfahrensbeteiligte verursachte Verzögerung nur dann dem beklagten Land nicht zuzurechnen sei, wenn das Ausgangsgericht alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Prozessordnung zur Prozessförderung ausgeschöpft habe. Dies sei hier aber nicht erfolgt. Ausgehend von einer dem Beklagten anzulastenden Verzögerung von 17 Monaten ergebe sich abzüglich einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten eine entschädigungsrelevante Verzögerung von fünf Kalendermonaten, von denen unter Berücksichtigung des Klagebegehrens und des Klageantrags nur vier Kalendermonate zu entschädigen seien.
2Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Beklagte Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Divergenz geltend.
3Mit Beschluss vom hat der Senat der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt K aus P bewilligt.
4II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist unzulässig. Seine Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
51. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl Senatsbeschluss vom - B 10 ÜG 6/18 B - juris RdNr 4 mwN). Diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
7Er hat jedoch bereits die (weitere) Klärungsbedürftigkeit der von ihm formulierten Frage nicht im notwendigen Maße aufgezeigt. Denn der Senat hat in seinem Urteil vom (B 10 ÜG 1/16 R - BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16, RdNr 37) bereits entschieden, dass eine dem Verhalten des Klägers zurechenbare Verlängerung des Gerichtsverfahrens auch in der Zeit des erfolglosen Wartens auf die Klagebegründung liegen kann, die der Kläger in Aussicht gestellt hatte (vgl auch BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 404/10 - SozR 4-1100 Art 19 Nr 10 RdNr 14, wo die Zeit zwischen Klageerhebung und Klagebegründung ebenfalls als Verfahrensverzögerung zu Lasten des Klägers gewertet wurde). Der Beklagte versäumt es jedoch, sich in der Beschwerdebegründung mit dieser Entscheidung und hier insbesondere auch im Kontext mit dem von ihm zitierten Senatsurteil vom (B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6) auseinanderzusetzen, nach dem eine durch ein Verhalten eines Verfahrensbeteiligten ausgelöste Verzögerung dem beklagten Land zugerechnet werden kann, wenn das Ausgangsgericht nicht seinerseits alle ihm diesbezüglich zur Verfügung stehenden Mittel der Prozessordnung zur Verfahrensförderung ausgeschöpft hat (vgl aaO RdNr 42). Soweit der Beklagte meint, dass der letztgenannten Senatsentscheidung ein anderer Sachverhalt zugrunde liege, weil dort die mögliche Zurechnung einer Verzögerung durch das Verhalten des Beklagten (eines Jobcenters) des Ausgangsverfahrens beurteilt worden sei, hier dagegen das Verhalten der Klägerseite als möglicher personenidentischer Inhaber eines Entschädigungsanspruchs relevant sei, setzt er sich nicht mit der dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung maßgeblich zugrunde liegenden, aus dem Justizgewährleistungsanspruch resultierenden (Grund-)Pflicht des Ausgangsgerichts auseinander, sich stets (dh in jedem Stadium des Verfahrens) um eine stringente und beschleunigte Verfahrensgestaltung zu bemühen (vgl hierzu Senatsurteil vom aaO RdNr 40; Senatsurteil vom - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 24). Anlass zur Erörterung, ob das Ausgangsgericht die ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Förderungs- und Beschleunigungsmöglichkeiten in gebotenem Maße eingesetzt habe, hätte im vorliegenden Fall unter dem Gesichtspunkt der Fristenüberwachung aber schon deshalb bestanden, weil die Prozessbevollmächtigten zwar mit der Klageerhebung eine Klagebegründung nach Akteneinsicht angekündigt hatten, das Ausgangsgericht ihnen jedoch seinerseits eine Frist zur Klagebegründung von vier Wochen nach Akteneinsicht gesetzt und sie nach Ablauf dieser richterlichen Frist bei (Wieder-)Vorlage der Akten im Juni 2015 erst im November 2015 an die noch ausstehende Klagebegründung erinnert hatte. Ausführungen zu diesem - für die Entscheidung des Entschädigungsgerichts tragenden - Aspekt fehlen, zumal aufgrund dieser (ersten und einzigen) Erinnerung von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Klagebegründung im Dezember 2015 sodann auch vorgelegt wurde.
8Zudem hat der Beklagte die Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) der bezeichneten Frage für das von ihm angestrebte Revisionsverfahren ausgehend von den für den Senat bindenden Feststellungen des Entschädigungsgerichts nicht in gebotenem Maße dargetan. In seiner Fragestellung stellt er ausschließlich darauf ab, dass die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit der Klageerhebung eine Klagebegründung nach Akteneinsicht angekündigt haben. Aus dem angefochtenen Urteil und dem Beschwerdevortrag ergibt sich aber, dass das Ausgangsgericht seinerseits den Prozessbevollmächtigten eine Frist von vier Wochen zur Klagebegründung nach Akteneinsicht gesetzt und sie dennoch nach erfolgter Akteneinsichtnahme und nach Ablauf der Frist nicht bereits im Juni 2015, sondern erst im November 2015 an die Klagebegründung erinnert hatte.
92. Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bedeutet Widerspruch im Rechtssatz, nämlich das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die zwei Urteilen zugrunde gelegt sind. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG als Entschädigungsgericht eine höchstrichterliche Entscheidung nur unrichtig ausgelegt oder das Recht unrichtig angewandt hat, sondern erst, wenn das Entschädigungsgericht Kriterien, die ein in der Norm genanntes Gericht aufgestellt hat, widersprochen, also andere Maßstäbe entwickelt hat. Das Entschädigungsgericht weicht damit nur dann iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG von einer Entscheidung ua des BVerfG ab, wenn es einen abstrakten Rechtssatz aufstellt, der einer zu demselben Gegenstand gemachten und fortbestehenden aktuellen abstrakten Aussage des BVerfG entgegensteht und dem Urteil des Entschädigungsgerichts tragend zugrunde liegt. Die Beschwerdebegründung muss deshalb aufzeigen, welcher abstrakte Rechtssatz in den genannten höchstrichterlichen Urteilen enthalten ist, und welcher in der Entscheidung des Entschädigungsgerichts enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht, und darlegen, dass die Entscheidung hierauf beruhen kann (stRspr, vgl zB - juris RdNr 10 mwN). Diese Anforderungen erfüllt der Beschwerdevortrag des Beklagten nicht.
10Der Beklagte rügt, das Entschädigungsgericht sei von der Entscheidung des - SozR 4-1100 Art 19 Nr 10) abgewichen. In dieser Entscheidung habe das BVerfG den Rechtssatz aufgestellt:
11"Verzögerungen zwischen Klageerhebung und Klagebegründung gehen zu Lasten des Verfassungsbeschwerdeführers, denn bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, u.a. auch das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie."
12Mit seiner Aussage, "(…) Soweit der Beklagte unter Bezugnahme (…) auf das Urteil (gemeint: Beschluss) des (Rn 14 nach juris) - einwendet, dass sich die Klägerin in der Zeit von Juni bis Oktober 2015 eingetretene Verzögerung zurechnen lassen müsse, weil ihre Bevollmächtigten bereits mit der Klageschrift eine Klagebegründung angekündigt hätten, dieser Ankündigung aber nicht nachgekommen seien, folgt der Senat dem nicht (…)", weiche das Entschädigungsgericht von den genannten Rechtssatz des BVerfG ab.
13Damit hat der Beklagte jedoch keinen divergierenden abstrakten Rechtssatz des Entschädigungsgerichts bezeichnet. Denn dazu hätte er aufzeigen müssen, dass das Entschädigungsgericht der zitierten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu demselben Gegenstand einen eigenen abstrakten Rechtssatz entgegengesetzt hat (vgl stRspr, zB Senatsbeschluss vom - B 10 EG 18/18 B - juris RdNr 4; - juris RdNr 23; - juris RdNr 6; - juris RdNr 4; - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 73; - SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f). Daran fehlt es aber. Vielmehr sind auch nach der zitierten Rechtsprechung des BVerfG bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, "sämtliche Umstände des Einzelfalls" zu berücksichtigen, zu denen neben das den Verfahrensbeteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie, auch die Prozessleitung des (Ausgangs-)Gerichts gehört (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 404/10 - SozR 4-1100 Art 19 Nr 10 RdNr 11). Hiermit korrespondierend bestimmt der hier allein maßgebliche - und erst nach der zitierten Entscheidung des BVerfG zum in Kraft getretene - § 198 Abs 1 Satz 2 GVG, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer "nach den Umständen des Einzelfalles" richtet, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Die in § 198 Abs 1 Satz 2 GVG ausdrücklich genannten Kriterien sind zwar besonders bedeutsam, jedoch nur exemplarisch ("insbesondere") und keinesfalls abschließend zu verstehen. Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist deshalb auch im Rahmen des § 198 Abs 1 Satz 2 GVG die Verfahrensführung durch das Ausgangsgericht (stRspr, zB Senatsurteil vom - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 42 f). Von diesen rechtlichen Maßstäben geht aber ausdrücklich auch das Entschädigungsgericht aus. Im Kern wendet sich der Beklagte mit seiner Divergenzrüge letztlich nur gegen eine aus seiner Sicht fehlerhafte Würdigung und Gewichtung des Entschädigungsgerichts der für die Überlänge des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Umstände des hier vorliegenden Einzelfalls. Die - vermeintliche - inhaltliche Unrichtigkeit der Entscheidung des Entschädigungsgerichts ist aber nicht zulässiger Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde (vgl stRspr, zB Senatsbeschluss vom - B 10 EG 1/15 B - juris RdNr 8; - juris RdNr 14). Der diesbezügliche Vortrag des Beklagten geht daher letztlich über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus (vgl - juris RdNr 8).
14Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
153. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
164. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.
175. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3, § 52 Abs 3 Satz 1, § 63 Abs 2 Satz 1 GKG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:280720BB10UEG120B0
Fundstelle(n):
AAAAH-75288