BGH Beschluss v. - IX ZR 242/19

(Rechtliches Gehör: Berufungsverwerfung ohne Zeugenvernehmung des Instanzbevollmächtigten zum fristgemäßen Einwurf der Berufungsschrift in den gerichtlichen Nachtbriefkasten)

Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: LG Dessau-Roßlau Az: 7 S 63/19vorgehend AG Zerbst Az: 6 C 250/18

Gründe

I.

1Die Klägerin nimmt den Beklagten aus ungerechtfertigter Bereicherung auf Zahlung von 3.000 € nebst Zinsen in Anspruch. Der Beklagte bestreitet eine ungerechtfertigte Bereicherung, er behauptet einen Darlehensrückzahlungsanspruch in übersteigender Höhe. Das Amtsgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Das Urteil ist ihm am zugestellt worden. Seine Berufungsschrift ist in den Nachtbriefkasten des Justizzentrums Dessau-Roßlau eingeworfen worden. Dem von der zuständigen Wachtmeisterin auf der Berufungsschrift angebrachten Eingangsstempel sind das Wort "Nachtbriefkasten" und das Datum (Mittwoch nach Ostern) zu entnehmen.

2Gemäß Verfügung des Vorsitzenden der Berufungskammer vom ist der Beklagte darauf hingewiesen worden, dass seine Berufung ausweislich des Eingangsstempels verspätet eingelegt worden sei. Mit Schriftsatz vom hat daraufhin der Beklagte unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung seiner Instanzbevollmächtigten, eines Auszugs aus dem Fahrtenbuch des von der Bevollmächtigten genutzten Fahrzeugs und eines Auszugs aus dem in der Kanzlei der Bevollmächtigten geführten Fristenkalender behauptet, die Berufungsschrift sei schon am späten Nachmittag des in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden.

3Das Berufungsgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung des stellvertretenden Leiters der Wachtmeisterei, des für die Technik des Nachtbriefkastens verantwortlichen Wachtmeisters und der Wachtmeisterin, die den Eingangsstempel auf der Berufungsschrift angebracht hat. Die Instanzbevollmächtigte des Beklagten hat es angehört. Hiernach hat es die Berufung des Beklagten durch Urteil als unzulässig verworfen. Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde begehrt der Beklagte die Zulassung der Revision. Er will weiterhin die Abweisung der Klage erreichen.

II.

4Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist ohne Rücksicht auf den Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer zulässig, weil die Berufung als unzulässig verworfen worden ist (§ 26 Nr. 8 Satz 2 EGZPO; jetzt § 544 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Revision ist zuzulassen und begründet, weil das angefochtene Urteil den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

51. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Dem Beklagten sei es nicht gelungen, das Gericht vom rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift zu überzeugen. Die durchgeführte Beweisaufnahme habe keine Zweifel an der Ordnungsgemäßheit des Entleerens des Nachtbriefkastens und des Anbringens des Eingangsstempels ergeben. Dem Beklagten sei der Gegenbeweis durch die eidesstattliche Versicherung seiner Prozessbevollmächtigten, den Auszug aus dem Fahrtenbuch und den Auszug aus dem Fristenkalender nicht gelungen.

6Dem Beklagten sei auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er sei nicht ohne sein Verschulden gehindert gewesen, die Frist zur Einlegung der Berufung einzuhalten. Der Beklagte müsse sich das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Es sei davon auszugehen, dass diese die Berufungsschrift verspätet in den Nachtbriefkasten eingeworfen habe.

72. Das hält rechtlicher Prüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand und verletzt den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) in entscheidungserheblicher Weise.

8a) Der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts trifft zu.

9aa) Im Rahmen der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der Zulässigkeit der Berufung (§ 522 Abs. 1 ZPO) hat der Berufungsführer den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift zu beweisen (, NJW-RR 2020, 499 Rn. 13 mwN). Die Beweiserhebung folgt den Regeln des Freibeweises (, BeckRS 2007, 4174 Rn. 8; vom - VII ZB 35/11, MDR 2012, 539 Rn. 9). Das Gericht ist daher weder von einem Beweisantritt der Parteien abhängig noch auf die gesetzlichen Beweismittel beschränkt. Im Rahmen des Freibeweises können deshalb auch eidesstattliche Versicherungen berücksichtigt werden (, NJW 2007, 1457 Rn. 8; vom - I ZB 64/19, WRP 2020, 740 Rn. 10).

10bb) Der gerichtliche Eingangsstempel erbringt den vollen Beweis für einen an diesem Tag erfolgten Eingang der Berufungsschrift. Dieser Beweis kann jedoch gemäß § 418 Abs. 2 ZPO durch den Nachweis der Unrichtigkeit des durch den Eingangsstempel ausgewiesenen Zeitpunkts entkräftet werden. Dabei genügt die bloße Glaubhaftmachung im Sinne des § 294 Abs. 1 ZPO nicht. Obgleich wegen der Beweisnot des Berufungsführers hinsichtlich gerichtsinterner Vorgänge die Anforderungen an diesen Gegenbeweis nicht überspannt werden dürfen, erfordert er die volle Überzeugung des Gerichts (§ 286 Abs. 1 ZPO) vom rechtzeitigen Eingang (vgl. , NJW 2000, 1872, 1873; Beschluss vom , aaO Rn. 13 f). Da der außenstehende Berufungsführer in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. aaO; Beschluss vom , aaO Rn. 14).

11b) Im Ansatz zutreffend hat danach das Berufungsgericht Beweis erhoben über die Funktionsweise des Nachtbriefkastens und das Verfahren bei dessen Leerung. Dass es hierzu den stellvertretenden Leiter der Wachtmeisterei, den für die Technik des Nachtbriefkastens verantwortlichen Wachtmeister und die Wachtmeisterin vernommen hat, die den Eingangsstempel auf der Berufungsschrift angebracht hat, begegnet im Grundsatz keinen Bedenken. Das Berufungsgericht durfte die Berufung jedoch nicht als unzulässig verwerfen, ohne zumindest auch noch die Instanzbevollmächtigte des Beklagten als Zeugin zu vernehmen.

12aa) Der Beklagte hat behauptet, die Berufungsschrift sei schon am späten Nachmittag des und damit fristgemäß in den Nachtbriefkasten des Justizzentrums eingeworfen worden. Hierzu hat er eine eidesstattliche Versicherung seiner Instanzbevollmächtigten vorgelegt, welche die Berufungsschrift persönlich in den Briefkasten eingeworfen haben will. Außerdem hat der Beklagte einen Auszug aus dem Fahrtenbuch des von der Bevollmächtigten genutzten Fahrzeugs und einen Auszug aus dem in der Kanzlei der Bevollmächtigten geführten Fristenkalenders zu den Akten gereicht. Diese Schriftstücke lassen sich mit der eidesstattlichen Versicherung in Einklang bringen. Den Nachweis der Unrichtigkeit des durch den Eingangsstempel ausgewiesenen Zustellungszeitpunkts hat das Berufungsgericht aufgrund der vorgelegten Unterlagen nicht als geführt angesehen.

13bb) Reicht - wie hier - eine eidesstattliche Versicherung für die erforderliche Überzeugungsbildung im Freibeweisverfahren nicht aus, hat das Gericht einen entsprechenden Hinweis zu erteilen und Gelegenheit zu geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen. Sodann hat es - auf Antrag der Partei oder von Amts wegen - über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben (, BeckRS 2007, 4174 Rn. 8; vom - VIII ZB 39/19, NJW-RR 2020, 499 Rn. 18; vom - VI ZB 38/17, NJW 2020, 1225 Rn. 10).

14cc) Danach hatte das Berufungsgericht zumindest die Instanzbevollmächtigte des Beklagten als Zeugin zu dem behaupteten fristgemäßen Einwurf der Berufungsschrift in den Nachtbriefkasten des Justizzentrums zu vernehmen. Die bloße Anhörung der Bevollmächtigten genügte nicht. Deren Vernehmung als Zeugin war nicht von einem ausdrücklichen Beweisantritt abhängig (vgl. aaO). Überdies war das Berufungsgericht gehalten, in der eidesstattlichen Versicherung auch ein Angebot zur Vernehmung der Instanzbevollmächtigten als Zeugin zu sehen (vgl. , FamRZ 2010, 122 Rn. 9; vom - VI ZB 5/17, MDR 2018, 1074 Rn. 12).

15dd) In der unterbliebenen Vernehmung der Instanzbevollmächtigten des Beklagten als Zeugin liegt eine Verletzung seines aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. , MDR 2012, 539 Rn. 12) und des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip). Die Verletzung der Verfahrensgrundrechte ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die unterbliebene Zeugenvernehmung der Berufung des Beklagten zum Erfolg verholfen hätte.

III.

16Das angefochtene Urteil kann folglich keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

171. Die gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO notwendige Protokollierung der Aussagen der bisher vernommenen Zeugen ist unterblieben. Die Ausnahmevorschrift des § 161 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist nicht einschlägig. Die auszugsweise Wiedergabe der Aussagen in den Gründen des angefochtenen Urteils reicht nicht aus (vgl. , NJW-RR 2010, 63 Rn. 8). Die Beweisaufnahme wird daher insgesamt zu wiederholen sein.

182. Im Blick auf die Würdigung der zu erhebenden Beweise sieht der Senat Veranlassung zu folgenden Anmerkungen.

19a) Nach den bisher getroffenen Feststellungen bietet das geübte Verfahren der Leerung des Nachtbriefkastens keinen hinreichenden Schutz vor einer Vermengung der vor und nach 0 Uhr eingeworfenen Post. Zwar wird die Post getrennt entnommen, dann aber zusammen auf einem Stapel in das Dienstzimmer gebracht, wo die Eingangsstempel angebracht werden. Dabei soll die fortlaufende Unterscheidung ersichtlich nur dadurch gewährleistet werden, dass die Post des aktuellen Tags "quer" auf den Stapel der Post des Vortags gelegt wird. Unterschiedliche Behältnisse, die eine sichere Trennung ermöglichten, werden ersichtlich nicht genutzt. Das geübte Verfahren ist nicht hinreichend verlässlich. Schon wenn einzelne Eingänge auf dem Transport in das Dienstzimmer verrutschen oder hinunterfallen, ist die erforderliche Unterscheidung nicht mehr gewährleistet. Vor diesem Hintergrund kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die dem Nachtbriefkasten entnommene Post stets dem richtigen Eingangsdatum zugeordnet wird.

20Den daraus im Blick auf die Richtigkeit des auf der Berufungsschrift des Beklagten angebrachten Eingangsstempels folgenden Zweifeln kann nach den bisherigen Feststellungen nicht auf andere Weise Schweigen geboten werden. Die zuständige Wachtmeisterin hatte weder Erinnerungen an den konkreten Tag der Entleerung des Nachtbriefkastens noch an die Berufungsschrift selbst. Wie sie vor diesem Hintergrund ausschließen konnte, dass ihr "die Post" hinuntergefallen ist oder diese vermengt wurde, ist nicht im Ansatz ersichtlich.

21b) Es widerspricht den Gesetzen der Denklogik, wenn einer Tatsache Indizwirkungen beigemessen werden, die diese nicht haben kann (vgl. , NJW 1993, 935, 938). So verhält es sich mit der Würdigung des Umstands durch das Berufungsgericht, der Beklagte habe keinen Beweis dafür erbracht, dass auf der bei der Instanzbevollmächtigten verbliebenen Ausfertigung der Berufungsschrift der Einwurf in den Nachtbriefkasten nebst Datum und Unterschrift vermerkt war. Ein solcher Vermerk ist weder allgemein üblich noch kann von einer entsprechenden ständigen Übung der Instanzbevollmächtigten ausgegangen werden. Auch der Umstand, dass die Bevollmächtigte die Berufungsschrift nicht vorab per Telefax an das Gericht übersandt hat, spricht nicht gegen den fristwahrenden Einwurf in den Nachtbriefkasten. Wäre eine Übersendung vorab per Telefax erfolgt, hätte nämlich kein Bedarf für einen Einwurf in den Nachtbriefkasten bestanden.

22c) Das Berufungsgericht wird zu berücksichtigen haben, dass die Berufungsschrift auf der Geschäftsstelle ausweislich der an diesem Tag getroffenen Verfügung schon am vorgelegen hat. Vor diesem Hintergrund könnte der Eingangsstempel nur dann richtig sein, wenn der Schriftsatz zwischen 0 Uhr und der Entleerung des Nachtbriefkastens am Morgen des eingeworfen worden wäre.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:101220BIXZR242.19.0

Fundstelle(n):
IAAAH-74539