BGH Beschluss v. - 4 StR 364/19

Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses: Anvertraut-sein bei Vorsorgeuntersuchung; sexuelle Handlung bei gynäkologischer Untersuchung

Leitsatz

1. Auch Patienten, die einen Arzt zu Vorsorgeuntersuchungen aufsuchen, können diesem im Sinne von § 174c Abs. 1 StGB anvertraut sein.

2. Zum Vorliegen einer sexuellen Handlung bei gynäkologischen Untersuchungen, die heimlich zu sexuellen Zwecken aufgezeichnet werden.

Gesetze: § 174c Abs 1 StGB

Instanzenzug: Az: 31 KLs 78/15

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses in 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Außerdem hat es angeordnet, dass als Kompensation für eine rechtstaatswidrige Verfahrensverzögerung vier Monate der erkannten Freiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Seine Revision hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.

I.

2Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte, ein Frauenarzt, in der Zeit zwischen dem und dem im Behandlungsraum seiner Praxis in 25 Fällen an verschiedenen Patientinnen Untersuchungen des Genitals vor, wobei er bei vaginalen Tastuntersuchungen auch einen Finger in die Scheide der Patientinnen einführte. Dabei fertigte er ohne Kenntnis und Zustimmung der jeweiligen Patientinnen digitale Bilder und Videoaufnahmen an, die den entblößten Genitalbereich der auf einem gynäkologischen Stuhl mit gespreizten Beinen sitzenden Frauen während der Untersuchungshandlungen zeigten. Die Aufnahmen fertigte er mit einer Kamera, die er in der Auffangschale des gynäkologischen Stuhls platziert hatte, sowie mit einer als Kugelschreiber getarnten Kamera, die sich in der Brusttasche seines Arztkittels befand. Zudem stellte er den gynäkologischen Stuhl in einer Weise ein, die es den Patientinnen erschwerte, den Angeklagten während der Untersuchungen zu beobachten. Dies ermöglichte ihm zugleich, ungestört und aus seiner Sicht bessere Aufnahmen fertigen zu können. Die Erstellung der Bilder und Videoaufnahmen war allein sexuell motiviert.

3Die Strafkammer hat sich bei seiner Überzeugungsbildung maßgeblich auf das für glaubhaft erachtete Geständnis des Angeklagten gestützt. Dieser hatte unter anderem angegeben, dass er die Untersuchungen selbst aus medizinischen Gründen vorgenommen und nie entgegen der ärztlichen Kunst durchgeführt habe.

4Die Strafkammer hat die Auffassung vertreten, dass der Tatbestand des § 174c Abs. 1 StGB auch in den Fällen verwirklicht sei, in denen der Angeklagte lediglich Vorsorgeuntersuchungen vorgenommen habe, weil auch in diesen Fällen ein schützenswertes Vertrauensverhältnis entstanden sei. Die konkreten Untersuchungshandlungen und die zu sexuellen Zwecken gefertigten Aufnahmen seien einheitlich als sexuelle Handlung zu bewerten. Von einer Verurteilung wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gemäß § 201a StGB hat das Landgericht mit Blick auf den Eintritt der Verfolgungsverjährung abgesehen.

II.

5Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses in 25 Fällen weist keinen Rechtsfehler auf. Der Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

61. Die Annahme des Landgerichts, bei den Geschädigten habe es sich auch dann um Personen gehandelt, die dem Angeklagten im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB wegen einer körperlichen Krankheit zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut waren, wenn er lediglich Vorsorgeuntersuchungen vornahm, ist nicht zu beanstanden.

7a) Nach der Rechtsprechung ist eine Person dem Täter im Sinne des § 174c Abs. 1 StGB wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Suchtkrankheit oder wegen einer körperlichen Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut, wenn sie aufgrund eines der genannten Zustände eine fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt. Dabei ist es nicht erforderlich, dass tatsächlich eine behandlungsbedürftige Krankheit oder eine Behinderung vorliegt, sofern nur die betroffene Person subjektiv eine Behandlungs- oder Beratungsbedürftigkeit empfindet. Das Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis muss auch nicht von einer solchen – zumindest beabsichtigten – Intensität und Dauer sein, dass eine Abhängigkeit entstehen kann, die es dem Opfer zusätzlich zu der mit einem derartigen Verhältnis allgemein verbundenen Unterordnung unter die Autorität des Täters und die damit einhergehende psychische Hemmung hinaus erschwert, einen Abwehrwillen zu bilden (vgl. , Rn. 26 f.; Beschluss vom – 1 StR 24/16, BGHSt 61, 208, 215; Urteil vom – 3 StR 318/11, NStZ 2012, 440, 441 [„Routineuntersuchung“]; Urteil vom – 4 StR 669/10, BGHSt 56, 226, 230 mwN).

8b) Danach kann auch eine Vorsorgeuntersuchung, die als solche nicht auf die Behandlung einer Gesundheitsstörung gerichtet ist, sondern nur der Früherkennung von Krankheiten dient (vgl. dazu Voit in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 31. Aufl., § 192 Rn. 48), den Tatbestand des § 174c Abs. 1 StGB erfüllen.

9Der Gesetzeswortlaut lässt diese Auslegung zu. „Wegen“ (synonym: infolge, auf Grund, aber auch: in Hinsicht auf; vgl. Bauer, Synonymen-Lexikon, S. 180) einer körperlichen Krankheit vertraut sich einem Arzt zur Beratung, Behandlung oder Betreuung auch derjenige an, der das Vorliegen einer körperlichen Krankheit nur allgemein besorgt, etwa weil er aufgrund des Vorhandenseins bestimmter allgemeiner Risikofaktoren (Alter, Vorerkrankungen, zurückliegende riskante Lebensweisen) damit rechnet, ein erhöhtes Krankheitsrisiko zu haben, und deshalb vorbeugend ärztlichen Rat sucht. Gleiches gilt, wenn sich jemand zu einem Arzt begibt, weil ihm dies von diesem selbst oder auch seiner Versicherung aus Gründen der Krankheitsprävention nahegelegt wird.

10Die Gesetzesmaterialien und eine daran anknüpfende am Gesetzeszweck orientierte Auslegung sprechen für die Annahme, dass auch sexuelle Übergriffe des Behandlers oder Beraters bei Vorsorgeuntersuchungen vom Schutzzweck der Norm erfasst sein sollen. Danach ging es dem Gesetzgeber bei der Neufassung des § 174c StGB insbesondere darum, den Missbrauch der durch das Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis begründeten Vertrauensstellung und des sich daraus ergebenden Abhängigkeitsverhältnisses zu sexuellen Kontakten unter Strafe zu stellen (vgl. BT-Drucks. 13/8267, S. 7; vgl. auch BT-Drucks. 15/350, S. 16; , BGHSt 61, 208, 215; Urteil vom – 3 StR 318/11, NStZ 2012, 440, 441; Urteil vom – 4 StR 669/10, BGHSt 56, 226, 230; siehe auch Urteil vom – 3 StR 98/79, BGHSt 28, 365, 367 [zu § 174 StGB aF]). Aus diesem Grunde sollten selbst sexuelle Annäherungen außerhalb konkreter Behandlungstermine oder nach einer „pro-forma“ Beendigung des Behandlungs-, Beratungs- oder Betreuungsverhältnisses strafbar sein (vgl. BT-Drucks. 13/8267, S. 7). Eine derartige Vertrauensstellung nimmt ein Arzt bei Vorsorgeuntersuchungen in gleicher Weise in Anspruch. Auch in diesen Fällen besteht ein sich daraus ergebendes Abhängigkeitsverhältnis. Soweit angenommen wird, dass durch § 174c StGB zudem das hohe Berufsethos der Heilberufe und das öffentliche Interesse an einem funktionierenden Gesundheitswesen geschützt wird (vgl. , StraFo 2017, 116; offen gelassen in , BGHSt 56, 226, 231), trifft dies auf Vorsorgeuntersuchungen ebenfalls zu.

112. Die Manipulationen des Angeklagten an den Genitalen seiner Patientinnen waren auch sexuelle Handlungen im Sinne des § 174c Abs. 1, § 184h Nr. 1 StGB. Dabei ist es unter den hier gegebenen besonderen Umständen ohne Bedeutung, ob zugunsten des Angeklagten und damit seinen vom Landgericht für wahr gehaltenen Angaben folgend davon auszugehen ist, dass bei den von ihm vorgenommenen Untersuchungshandlungen die Grenze des medizinisch Erforderlichen nicht überschritten wurde.

12a) Für den Begriff der sexuellen Handlung im Sinne des Dreizehnten Abschnitts des Strafgesetzbuches ist das äußere Erscheinungsbild maßgebend; das Merkmal ist erfüllt, wenn das Erscheinungsbild nach allgemeinem Verständnis die Sexualbezogenheit erkennen lässt (vgl. , NJW 2016, 2049; Urteil vom – 5 StR 380/14, NJW 2014, 3737 Rn. 17 jeweils mwN). Darüber hinaus können auch ambivalente Berührungen, die für sich betrachtet nicht ohne weiteres einen sexuellen Charakter aufweisen, tatbestandsmäßig sein. Dabei ist auf das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, der alle Umstände des Einzelfalls kennt, wobei auch zu berücksichtigen ist, ob der Täter von sexuellen Absichten geleitet war (vgl. Rn. 13; Urteil vom – 5 StR 147/18, NStZ-RR 2018, 341, 342; Beschluss vom – 4 StR 570/17, BGHSt 63, 98 Rn. 35; Urteil vom – 4 StR 389/16 Rn. 7; Urteil vom – 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43 f.; Urteil vom – 3 StR 437/15, BGHSt 61, 173 Rn. 6; jeweils mwN).

13b) Die Frage ob medizinisch indizierte und regelgerecht ausgeführter Behandlungsmaßnahmen am weiblichen Genital, die zumindest auch mit einer sexuellen Motivation durchgeführt werden, als sexuelle Handlungen ausscheiden, ist in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt. Bei Berührungen des weiblichen Genitals im Rahmen einer osteopathischen Behandlung durch einen Arzt, dessen Approbation erloschen war, hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Vorliegen einer sexuellen Handlung nach den allgemeinen Grundsätzen bejaht, weil die Behandlung bereits wegen der fehlenden Erlaubnis nicht regelgerecht gewesen sei und deshalb für ein Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen kein Anlass bestehe (vgl. Rn. 13, 15 mwN auch zum Stand der Rechtsprechung; siehe dazu auch , BGHSt 13, 138, 141 f.).

14In der Literatur wird – mit Abweichungen im Detail – überwiegend angenommen, dass de lege artis durchgeführte und medizinisch indizierte gynäkologische Behandlungsmaßnahmen auch dann als neutrale Handlungen anzusehen seien, wenn bei dem Behandler sexuelle Motive mitlaufen. Erfolgt die Behandlung dagegen nicht de lege artis oder fehlt es an einer medizinischen Indikation, soll eine sexuelle Handlung vorliegen (vgl. Hörnle in LK-StGB, 12. Aufl., § 174c Rn. 17; dies. in MüKo-StGB, 3. Aufl., § 184h Rn. 4; Laufhütte/Roggenbuck in LK-StGB, 12. Aufl., § 184g Rn. 6 [der Sexualbezug muss „überlagern“]; Wolters in SK-StGB, 9. Aufl., § 184h Rn. 8; Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 184h Rn. 10; Ziegler in BeckOK-StGB, 43. Ed. Stand , § 184h Rn. 3; Frommel in NK-StGB, 5. Aufl., § 184h Rn. 1). Teilweise werden ergänzend auch die Regeln zum ärztlichen Heileingriff herangezogen (vgl. Renzikowski in MüKo-StGB, 3. Aufl., § 174c Rn. 25; Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 174c Rn. 16). Nach anderer Ansicht soll auch bei gegebener Indikation und einer Ausführung de lege artis eine sexuelle Handlung vorliegen können, wenn die sexuellen Motive Anlass zu der Handlung waren (vgl. Zauner, Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses, 2004, S. 103) oder das Verhalten des Angeklagten im Rahmen des Gesamtgeschehens als ein sexualbezogenes Agieren zu verstehen ist (vgl. Laubenthal, Handbuch Sexualstraftaten, 2012, Rn. 108; ders., Festschrift für Streng, 2017, S. 87, 92; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, 2005, Rn. 21 a.E. [wenn äußerlich eine Bezogenheit auf die sexuelle Bedürfnisbefriedigung erkennbar ist]).

15c) Die von dem Angeklagten vorgenommenen Berührungen und Penetrationen der Genitale seiner Patientinnen waren unter den hier gegebenen Umständen nicht regelgerecht und deshalb nach den allgemeinen Grundsätzen als sexuelle Handlungen im Sinne des § 174c Abs. 1, § 184h Nr. 1 StGB anzusehen, weil die sexuelle Motivation des Angeklagten nicht nur auf die Anfertigung der Bildaufnahmen und Videos beschränkt blieb, sondern auch die äußere Ausgestaltung der jeweiligen „Untersuchungshandlungen“ in einer Weise mitbestimmte, dass deren Behandlungs- und Untersuchungscharakter durch ihren Sexualbezug überlagert wurde. Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte die äußere Behandlungssituation für seine sexuellen Zwecke präpariert, indem er eine verborgene Kamera in der Auffangschale des Behandlungsstuhls angebracht und sich selbst mit einer versteckten Kamera im Arztkittel ausgestattet hatte. Für die Durchführung der Untersuchungen wählte er eine vom Üblichen abweichende Stellung des Behandlungsstuhls, die es ihm ermöglichte, ungestört Aufnahmen von dem entblößten Genitalbereich seiner Patientinnen und seinen Manipulationen fertigen zu können. Die in dieses Rahmengeschehen eingebetteten Untersuchungshandlungen waren für den Angeklagten das Material für seine ausschließlich zu sexuellen Zwecken gefertigten digitalen Bilder und Videos.

III.

16Die Bestimmung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe weist keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf. Zwar hat die Strafkammer im Hinblick auf die in den Urteilsgründen angesprochenen Leistungen von Schmerzensgeld „in angemessener Höhe“ an mehrere Geschädigte eine Strafrahmenverschiebung nach § 46a Nr. 1 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB nicht erörtert. Der Senat vermag aber auszuschließen, dass die Bestimmung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe hierauf beruht, denn die Strafkammer hat diesen Umstand mit Gewicht in die konkrete Strafzumessung eingestellt und sehr moderate Strafen ausgesprochen.

17Wegen der (weiteren) rechtstaatswidrigen Verzögerung des Verfahrens im Revisionsrechtszug nach Eingang der Akten beim Generalbundesanwalt war noch ein weiterer Monat der erkannten Strafe für vollstreckt zu erklären.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:020221B4STR364.19.0

Fundstelle(n):
NJW 2021 S. 2223 Nr. 30
KAAAH-74534