BVerwG Beschluss v. - 8 C 24/19

Anfrage bei dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts: Anwendbarkeit des § 3 ArbZG auf Fahrer i.S.d. Art. 21 Abs. 1 Satz 1

Gesetze: Art 1 EGRL 15/2002, Art 2 Abs 4 EGRL 15/2002, Art 6 EGV 561/2006, Art 13 EGV 561/2006, § 11 Abs 3 S 2 RsprEinhG, § 3 ArbZG, § 21a Abs 1 S 1 ArbZG, § 21a Abs 2 ArbZG, § 21a Abs 3 ArbZG, § 21a Abs 4 ArbZG, § 21a Abs 6 ArbZG, § 2 Nr 3 Buchst a FahrpersStG, § 18 Abs 1 Nr 14 FPersV

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: 4 A 1337/17 Urteilvorgehend Az: 9 K 2560/15 Verfügung

Gründe

I

1Die Beteiligten streiten über die Anwendbarkeit des Arbeitszeitgesetzes auf die bei der Klägerin als LKW-Fahrer beschäftigten Arbeitnehmer. Die Klägerin betreibt eine Einrichtung zur Entsorgung und Verarbeitung von Tierkörpern und anderen tierischen Nebenprodukten. Ihre Fahrer führen den Transport von den Anfallstellen zur Fabrik der Klägerin durch.

2Mit Bußgeldbescheid vom setzte der Beklagte gegen den Geschäftsführer der Klägerin eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen §§ 3 und 4 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) fest. Im Rechtsbeschwerdeverfahren stellte das Oberlandesgericht das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG ein.

3Im Dezember 2015 hat die Klägerin Klage erhoben und beantragt festzustellen, dass die Arbeitszeiten ihrer Fahrer im Bereich der Entsorgung tierischer Nebenprodukte im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 14 Fahrpersonalverordnung (FPersV) nicht unter die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes fallen. Der Beklagte hat widerklagend beantragt festzustellen, dass hinsichtlich des Fahrpersonals der Klägerin § 3 ArbZG nicht durch § 21a Abs. 4 ArbZG - soweit der Anwendungsbereich der letztgenannten Vorschrift eröffnet ist - verdrängt wird. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Das Arbeitszeitgesetz sei nach § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG auf die im Bereich der Entsorgung tierischer Nebenprodukte beschäftigten Fahrer der Klägerin anzuwenden. § 3 ArbZG werde durch § 21a Abs. 4 ArbZG nicht verdrängt, sondern ergänze dessen Regelungen.

4Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, das Berufungsurteil verletze § 18 Abs. 1 Nr. 14 FPersV i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Buchst. n der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 sowie §§ 21a und 3 ArbZG.

II

5Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) vom (BGBl. I S. 661), zuletzt geändert durch Art. 144 der Verordnung vom (BGBl. I S. 1474), ist eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nur zulässig, wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf die zu begründende Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, dass er an seiner Rechtsauffassung festhält. Daher ist zunächst die aus dem Tenor ersichtliche Anfrage an den Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts zu richten.

61. Nach Ansicht des erkennenden Senats ist das Berufungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass für Fahrer im Sinne des § 21a Abs. 1 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) vom (BGBl. I S. 1170, 1171), zuletzt geändert durch Art. 8 und Art. 11 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes vom (BGBl. I S. 575), neben der wöchentlichen Höchstarbeitszeit des § 21a Abs. 4 ArbZG auch die Begrenzung der werktäglichen Arbeitszeit gemäß § 3 ArbZG gilt, insbesondere die werktägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden nach Satz 2 der Vorschrift. Daher möchte der Senat die Revision der Klägerin auch in Bezug auf die Widerklage zurückweisen.

72. Daran sieht er sich aber gehindert, weil er von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts abwiche.

8a) Nach dem - (NZA 2012, 796) gilt für Fahrer und Beifahrer im Sinne des § 21a Abs. 1 ArbZG nur die wöchentliche Höchstarbeitszeit des § 21a Abs. 4 ArbZG, nicht aber die werktägliche Höchstarbeitszeit des § 3 ArbZG. Für diese Beschäftigten sehe das Arbeitszeitgesetz eine kalendertägliche Betrachtungsweise nicht vor, vielmehr seien die Grenzen des § 3 ArbZG von werktäglich acht bzw. zehn Stunden in die wochenbezogenen Grenzwerte eingeflossen ( - NZA 2012, 796 Rn. 21).

9Die zitierte Entscheidung beruht auch auf dieser Annahme. Wegen der arbeitsvertraglichen Vereinbarung einer den jeweiligen gesetzlichen Rahmen ausschöpfenden Arbeitszeit erkannte sie dem damaligen Kläger einen Entgeltanspruch für Überstunden nur für die über die Höchstgrenzen des § 21a Abs. 4 ArbZG hinaus geleistete Arbeit zu, ohne zu prüfen, ob innerhalb einzelner in die Durchschnittsberechnung einbezogener Kalenderwochen eine werktägliche Arbeitszeit von zehn Stunden überschritten wurde. Dass solche Überschreitungen vorgekommen waren, legen die seinerzeit vom Berufungsgericht zu Grunde gelegten arbeitsgerichtlichen Feststellungen nahe. Ihnen zufolge wurde in sieben Kalenderwochen der Jahre 2006 bis 2008 jeweils mehr als 60 Stunden (48 Stunden plus mehr als 12 vom Arbeitsgericht als Überstunden gewertete Stunden) gearbeitet, ohne dass Sonn- oder Feiertagsarbeit oder Voraussetzungen einer Ausnahme gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 10 ArbZG festgestellt worden wären (vgl. - unter II. 7.).

10b) Eine entstehende Divergenz gäbe Anlass zu einer Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Die vorgeschaltete Anfrage ist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 RsprEinhG an den Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts zu richten.

113. Die Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Der erkennende Senat geht davon aus, dass das Arbeitszeitgesetz auf die Fahrer der Klägerin anwendbar ist. Die Annahme des Berufungsgerichts, die diesbezügliche Klage sei zulässig (a), aber unbegründet (b), ist revisionsrechtlich fehlerfrei. Auch die Widerklage ist zulässig (c).

12a) Das Berufungsgericht hat die Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO zu Recht für zulässig gehalten. Zwischen den Beteiligten besteht ein hinreichend konkretes Rechtsverhältnis. Das berechtigte Interesse an der begehrten Feststellung ergibt sich aus der Wiederholungsgefahr wegen drohender weiterer Bußgeldverfahren.

13b) Das Berufungsgericht ist ohne Verstoß gegen Bundesrecht davon ausgegangen, dass das Arbeitszeitgesetz auf die Fahrer der Klägerin im Bereich der Entsorgung tierischer Nebenprodukte im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 14 der Verordnung zur Durchführung des Fahrpersonalgesetzes vom (BGBl. I S. 1882), zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom (BGBl. I S. 3158), Anwendung findet.

14aa) Nach § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG gelten für die Beschäftigung von Arbeitnehmern als Fahrer oder Beifahrer bei Straßenverkehrstätigkeiten im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates (ABl. L 102), die Vorschriften dieses Gesetzes, soweit nicht die folgenden Absätze abweichende Regelungen enthalten. Nach den bindenden Feststellungen des Berufungsurteils üben die Fahrer der Klägerin eine Straßenverkehrstätigkeit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 aus. Ihre Tätigkeit ist nicht nach Art. 3 der Verordnung von deren Anwendungsbereich ausgenommen. Auch § 21a Abs. 2 bis 8 ArbZG schließen eine Anwendung des Arbeitszeitgesetzes auf Fahrer und Beifahrer im Sinne von Absatz 1 Satz 1 der Vorschrift nicht aus; die in ihnen für dessen Anwendungsbereich getroffenen Spezialregelungen verdrängen sonstige Vorschriften des Gesetzes lediglich, soweit sie jeweils von diesen abweichen.

15bb) § 21a Abs. 1 Satz 2 ArbZG steht der Anwendung des Arbeitszeitgesetzes auf solche Fahrer und Beifahrer ebenfalls nicht entgegen. Nach seinem Wortlaut bleiben die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 und des AETR unberührt. Daraus, aus dem systematischen Zusammenhang und aus der Entstehungsgeschichte der Norm ergibt sich, dass dem Arbeitszeitrecht neben den Regelungen über Lenk- und Ruhezeiten eine eigenständige Bedeutung zukommt.

16Das Arbeitszeitrecht regelt die gesamte Zeitspanne zwischen Arbeitsbeginn und Arbeitsende ohne die Ruhepausen (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 ArbZG; Art. 3 Buchst. a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2002/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Regelung der Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausüben (ABl. Nr. L 80 S. 35, nachfolgend: Fahrpersonalrichtlinie). Dagegen begrenzen die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 über die Lenk- und Ruhezeiten die in die Arbeitszeit fallende, sie aber nicht zwangsläufig völlig ausfüllende Fahrtätigkeit (vgl. die auf die Arbeitszeit im Sinne der Fahrpersonalrichtlinie Bezug nehmende Definition "anderer Arbeiten" in Art. 4 Buchst. e der Verordnung).

17§ 21a ArbZG dient der Umsetzung der Fahrpersonalrichtlinie in nationales Recht und nimmt den in Art. 2 Abs. 4 dieser Richtlinie festgelegten Vorrang der Regelung über die Lenk- und Ruhezeiten ausdrücklich in das Gesetz auf, um Rechtsunsicherheiten zu vermeiden (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom , BT-Drs. 16/1685 S. 12, zur entsprechenden Vorgängerverordnung 3820/85/EWG). Danach gehen die Vorschriften über die Lenk- und Ruhezeiten in ihrem Geltungsbereich den arbeitszeitrechtlichen Regelungen vor, ohne deren ergänzende Anwendung auf Fahrer im Sinne des § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG auszuschließen. Dies wird durch teleologische Erwägungen bestätigt. Das Arbeitszeitrecht dient der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer (§ 1 Nr. 1 ArbZG). Die Fahrpersonalrichtlinie verfolgt neben dem Zweck, die Sicherheit und Gesundheit des Fahrpersonals zu schützen, auch das Ziel, die Straßenverkehrssicherheit zu gewährleisten sowie die Wettbewerbsbedingungen anzugleichen (Erwägungsgründe 4 und 10 sowie Art. 1 der Fahrpersonalrichtlinie). Diese Ziele verfolgt auch die Verordnung (EG) Nr. 561/2006 (Erwägungsgründe 17 und 22 sowie Art. 1 der Verordnung). Die parallele unionsrechtliche Zielsetzung beider Regelungsbereiche berücksichtigt, dass nicht nur die Lenkzeit, sondern auch die darüber hinausgehende Arbeitszeit des Fahrpersonals (beispielsweise das Be- und Entladen des Fahrzeugs) Einfluss auf dessen Gesundheit und die Straßenverkehrssicherheit hat. Dem widerspräche es, auf das Fahrpersonal nur die Regelungen über die Lenk- und Ruhezeiten, nicht aber die Bestimmungen über die höchstzulässige Arbeitszeit anzuwenden.

18cc) Die Annahme des Berufungsgerichts, das Fahrpersonal der Klägerin sei von der Anwendung des Arbeitszeitgesetzes nicht schon wegen der Privilegierung nach § 2 Nr. 3 Buchst. a des Gesetzes über das Fahrpersonal von Kraftfahrzeugen und Straßenbahnen (Fahrpersonalgesetz - FPersG) i.d.F. der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 640) zuletzt geändert durch Art. 138 des Gesetzes vom (BGBl. I S. 1626), § 18 Abs. 1 Nr. 14 FPersV ausgenommen, ist revisionsrechtlich fehlerfrei. Die Ausnahmebestimmung des § 18 Abs. 1 Nr. 14 FPersV erstreckt sich nicht auf die Arbeitszeit der Fahrer.

19Nach § 18 Abs. 1 Nr. 14 FPersV sind Fahrzeuge, die in einem Umkreis von 250 km vom Standort des Unternehmens zum Transport tierischer Nebenprodukte verwendet werden, von der Anwendung der Art. 5 bis 9 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 ausgenommen. Diese Ausnahmeregelung macht von der gesetzlichen Ermächtigung in § 2 Nr. 3 Buchst. a und b FPersG nicht durch Modifizierungen der Arbeitszeitgrenzen, sondern nur in Bezug auf die Lenkzeiten, Ruhezeiten und Fahrtunterbrechungen Gebrauch. Nur darauf erstreckt sich auch die den Mitgliedstaaten in Art. 13 Abs. 1 Buchst. n der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 eingeräumte Befugnis, für Fahrzeuge, die zur Beförderung von tierischen Abfällen oder von nicht für den menschlichen Verzehr bestimmten Tierkörpern verwendet werden, Abweichungen von den Art. 5 bis 9 der Verordnung zuzulassen. Die Ausnahme von den Lenkzeiten des Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 ist ebenfalls auf diesen Regelungsgegenstand beschränkt. Aus der Bezugnahme des Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 auf die Fahrpersonalrichtlinie folgt nichts Anderes. Nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 darf die wöchentliche Lenkzeit 56 Stunden nicht überschreiten und nicht dazu führen, dass die in der Fahrpersonalrichtlinie festgelegte wöchentliche Höchstarbeitszeit überschritten wird. Diese Bestimmung unterstreicht, dass Lenk- und Arbeitszeitregelungen nebeneinander anzuwenden sind.

20dd) Die von der Klägerin aufgeworfene Frage:

Ist Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 so auszulegen, dass eine nach dieser Vorschrift durch den Mitgliedstaat zugelassene Abweichung des Inhalts, bestimmte Fahrtätigkeiten von den Vorgaben über Lenkzeiten des Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006 auszunehmen, zugleich zur Folge hat, dass die Regelungen über die Arbeitszeit der Personen, die diese Fahrtätigkeiten ausüben, insbesondere die Vorgaben der Richtlinie 2002/15/EG bzw. der zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechtsvorschriften für diese Fahrtätigkeiten nicht gelten,

gibt keinen Anlass, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen, weil die Voraussetzungen des Art. 267 AEUV nicht erfüllt sind. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Art. 6 und 13 Abs. 1 der zitierten Verordnung sowie dem in Art. 2 Abs. 4 der Fahrpersonalrichtlinie klargestellten systematischen Verhältnis der unionsrechtlichen Lenk- und Arbeitszeitregelungen ist die aufgeworfene Frage derart offenkundig zu verneinen, dass - auch unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender mitgliedstaatlicher Gerichtsentscheidungen - keinerlei Raum für vernünftige Zweifel bleibt (acte clair, vgl. [ECLI:EU:C:1982:335], CILFIT - Slg. 1982 I-3415 Rn. 16 ff. und vom - C-495/03 [ECLI:EU:C:2005:552], Intermodal Transports - Slg. 2005, I-8192 Rn. 33). Wie bereits dargelegt, betreffen die Fahrpersonalrichtlinie und die Verordnung (EG) Nr. 561/2006 verschiedene Regelungsgegenstände. Die in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung enthaltene Ermächtigung zu Abweichungen von Art. 6 der Verordnung deckt nur abweichende Lenkzeit- und nicht auch Arbeitszeitregelungen. Zulässige Abweichungen bezüglich der Lenkzeit können deshalb keine Arbeitszeitvorschriften suspendieren. Diese Auslegung steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs. Danach betrifft die Lenkzeitregelung der - inzwischen durch die Verordnung (EG) Nr. 561/ 2006 abgelösten - Verordnung Nr. 3820/ 85 nur eine der Gefahrenquellen für die Sicherheit des Straßenverkehrs, nämlich zu lange Lenkzeiten des Fahrpersonals; sie wird durch die Richtlinie 2002/15/EG über die Arbeitszeit des Fahrpersonals mit Blick auf Gefahren wegen der übermäßigen Häufung anderer Tätigkeiten "sachgerecht ergänzt" ( und C-223/02 [ECLI:EU:C:2004:497], Königreich Spanien und Republik Finnland - Slg. 2004 I-7789 LS 1 und Rn. 36).

21c) Die Widerklage ist gemäß § 89 Abs. 1 Satz 1 VwGO zulässig, weil der Gegenanspruch mit dem in der Klage geltend gemachten Anspruch zusammenhängt. Beide resultieren aus demselben zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnis und finden ihren Ursprung in demselben Lebenssachverhalt. Die Widerklage ist auch als Feststellungsklage zulässig. Der Beklagte kann sich wegen der nach wie vor streitigen Befugnis, gegenüber der Klägerin die werktägliche Begrenzung der Höchstarbeitszeit durchzusetzen, auf ein berechtigtes Feststellungsinteresse berufen und ist insoweit entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Er kann nicht darauf verwiesen werden, zur Klärung des Rechtsverhältnisses einen Feststellungsbescheid zu erlassen, weil die Klägerin für diesen Fall eine weitere gerichtliche Auseinandersetzung angekündigt hat.

III

22Der Senat versteht § 21a Abs. 4 ArbZG nicht als abschließende Regelung der Höchstarbeitszeit für Fahrer und Beifahrer im Sinne des Absatzes 1 der Norm, sondern als Spezialregelung, die gemäß § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG eine ergänzende Anwendung des § 3 ArbZG unter Berücksichtigung der in § 21a Abs. 2 bis 8 ArbZG geregelten Abweichungen (etwa bezüglich der Arbeitszeitdefinition gemäß Absatz 3) zulässt.

231. In Rechtsprechung und Literatur ist die Frage, ob § 21a Abs. 4 ArbZG eine abschließende, § 3 ArbZG verdrängende Regelung der Höchstarbeitszeit von Fahrern im Sinne des § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG darstellt, umstritten.

24a) Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung geht im Anwendungsbereich des § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG davon aus, dass § 3 ArbZG durch § 21a Abs. 4 ArbZG nicht verdrängt wird, sondern neben diesem anzuwenden ist (vgl. die hier angegriffenen vorinstanzlichen Entscheidungen sowie - juris Rn. 34). Diese Auffassung vertritt - mindestens bezüglich der werktäglichen Höchstarbeitszeitgrenze von zehn Stunden - auch ein Teil der Literatur (vgl. Gäntgen, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, 9. Aufl. 2020, § 21a ArbZG Rn. 7; Häberle, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Stand Juli 2020, § 21a ArbZG Rn. 9; Jerchel, in: Hahn/Pfeiffer/Schubert, Arbeitszeitrecht, 2. Aufl. 2018, § 3 ArbZG Rn. 60; wohl auch Käckenmeister, in: Hahn/Pfeiffer/Schubert, Arbeitszeitrecht, 2. Aufl. 2018, § 21a ArbZG Rn. 11; Ulber, in: Buschmann/Ulber, Arbeitszeitrecht, 2019, § 21a Rn. 33 f.; Weber/Reill-Ruppe, in: Kohte/Faber/Feldhoff <Hrsg.>, Gesamtes Arbeitsschutzrecht, 2. Aufl. 2018, § 21a ArbZG Rn. 17).

25b) Andere Kommentierungen folgen der vom Bundesarbeitsgericht begründeten Auslegung des § 21a Abs. 4 ArbZG als abschließender Höchstarbeitszeitregelung, die § 3 ArbZG vollständig verdrängt (so etwa Baeck/Deutsch/Winzer, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2020, § 21a Rn. 22; Kock, in: BeckOK Arbeitsrecht, Stand Juni 2020, § 21a ArbZG Rn. 18; Neumann/Biebl, Arbeitszeitgesetz, 16. Aufl. 2013, § 21a Rn. 7 und § 3 Rn. 11; Neumann, in: Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung, Stand Februar 2020, § 21a ArbZG Rn. 11; Reim, in: Kohte/Faber/Feldhoff <Hrsg.>, Gesamtes Arbeitsschutzrecht, 2. Aufl. 2018, § 3 ArbZG Rn. 48; Schliemann, Arbeitszeitgesetz, 4. Aufl. 2020, § 3 Rn. 109; wohl auch Linnenkohl, in: Linnenkohl/Rauschenberg, Arbeitszeitgesetz, 2. Aufl. 2004, § 3 ArbZG Rn. 37).

262. Aus der Sicht des erkennenden Senats überwiegen die Argumente für eine ergänzende Anwendbarkeit des § 3 ArbZG.

27a) Der Wortlaut der Regelungen lässt eine solche Auslegung zu. § 3 Satz 1 ArbZG begrenzt die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer auf acht Stunden. Sie kann nach Satz 2 der Vorschrift auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. § 21a Abs. 4 Satz 1 ArbZG bestimmt, dass die Arbeitszeit von Fahrern und Beifahrern im Sinne des § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG 48 Stunden wöchentlich nicht überschreiten darf. Sie kann nach § 21a Abs. 4 Satz 2 ArbZG auf bis zu 60 Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von vier Kalendermonaten oder 16 Wochen im Durchschnitt 48 Stunden wöchentlich nicht überschritten werden. Nach § 21a Abs. 1 Satz 1 ArbZG verdrängt die in § 21a Abs. 4 ArbZG getroffene Spezialregelung für Fahrer und Beifahrer andere Vorschriften des Gesetzes nur, soweit sie von diesen abweicht. Das trifft jedenfalls auf die Ausgleichszeiträume zu, die durch § 21a Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 ArbZG gegenüber § 3 Satz 2 ArbZG modifiziert, nämlich nach Kalender- statt Sieben-Tages-Wochen berechnet und verkürzt werden. Dagegen lässt sich der Formulierung des § 21a Abs. 4 ArbZG nicht entnehmen, dass damit zugleich jede werktägliche Begrenzung der Höchstarbeitszeit gemäß § 3 ArbZG ausgeschlossen werden soll.

28b) Die Entstehungsgeschichte des § 21a ArbZG spricht gegen einen abschließenden Charakter der Regelung. Sie dient der Umsetzung der Fahrpersonalrichtlinie, die laut Art. 1 nur Mindestvorschriften für die Gestaltung der Arbeitszeit des Fahrpersonals festlegt. Nach Art. 10 Satz 1 der Richtlinie bleibt die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt, günstigere Vorschriften für das Fahrpersonal zu erlassen und ein im Vergleich zur Richtlinie höheres Schutzniveau der Arbeitnehmer zu gewähren. Art. 10 Satz 2 der Richtlinie verbietet ausdrücklich, deren Umsetzung als Begründung für ein Absenken des generellen Schutzniveaus der Arbeitnehmer heranzuziehen.

29Dementsprechend ging der nationale Gesetzgeber bei Erlass des § 21a ArbZG davon aus, dass dessen Absatz 4 die wöchentliche Höchstarbeitszeit des Fahrpersonals "ergänzend zu § 3" des Gesetzes regele. "Neben" der dort normierten werktäglichen Höchstarbeitszeit dürfe die Höchstarbeitszeit pro Woche 48 Stunden nicht übersteigen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom , BT-Drs. 16/1685 S. 13). Auch im Übrigen hielt er nur einige Anpassungen - etwa bei der Definition der Woche (vgl. § 21a Abs. 2 ArbZG; Art. 3 Buchst. g der Fahrpersonalrichtlinie) - für erforderlich, weil das Arbeitszeitgesetz im Wesentlichen bereits den Vorgaben der Fahrpersonalrichtlinie entspreche (BT-Drs. 16/1685 S. 12). Er ließ damit deutlich erkennen, dass er den bislang durch das Arbeitszeitgesetz gewährten Schutz für die von der Fahrpersonalrichtlinie erfassten Arbeitnehmer nicht aus Anlass der Richtlinienumsetzung absenken, sondern die über das Schutzniveau der Richtlinie hinausgehende Höchstarbeitszeitregelung auch für diese Arbeitnehmergruppe beibehalten wollte. Andernfalls würde die werktägliche zeitliche Inanspruchnahme solcher Arbeitnehmer nur durch die Lenk- und Ruhezeitenregelungen begrenzt. Danach dürfte die tägliche Lenkzeit bis zu zweimal wöchentlich von höchstens neun auf höchstens zehn Stunden verlängert werden, ohne dass am selben Tag eine Beschäftigung mit außerhalb der Lenkzeit zu erbringenden, nach § 2 Abs. 1 i.V.m. § 21a Abs. 3 ArbZG ebenfalls als Arbeitszeit anzurechnenden anderen Arbeiten ausgeschlossen wäre (vgl. § 1 Abs. 1 FPersG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 561/2006).

30c) Der systematische Zusammenhang spricht ebenfalls für eine ergänzende Anwendbarkeit des § 3 ArbZG. Nach § 21a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 ArbZG kann in einem Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrages in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung zugelassen werden, die Arbeitszeit abweichend von Absatz 4 sowie den §§ 3 und 6 Abs. 2 festzulegen, wenn objektive, technische oder arbeitszeitorganisatorische Gründe vorliegen. Das setzt voraus, dass § 3 ArbZG für die in den Anwendungsbereich des § 21a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 ArbZG fallenden Fahrer und Beifahrer gilt.

31Dies führt auch nicht zu systematischen Widersprüchen. Die Begrenzung der werktäglichen Höchstarbeitszeit auf zehn Stunden gemäß § 3 Satz 2 ArbZG vermittelt den Fahrern auch, wenn die Modifizierung des Arbeitszeitbegriffs durch § 21a Abs. 3 ArbZG berücksichtigt wird, einen über die Begrenzung der kalenderwöchentlichen Höchstarbeitszeit gemäß § 21 Abs. 4 ArbZG hinausgehenden Schutz.

32d) Für die ergänzende Anwendbarkeit des § 3 ArbZG und gegen dessen völlige Verdrängung durch § 21a Abs. 4 ArbZG sprechen schließlich Sinn und Zweck der Regelungen. Die im Jahr 1918 eingeführte werktägliche Regelarbeitszeit von acht Stunden dient dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. Bei Erlass des Arbeitszeitgesetzes 1994 hielt der Gesetzgeber an dem Grundsatz des Acht-Stunden-Tages ausdrücklich fest, weil er nach den bisherigen arbeitswissenschaftlichen und arbeitsmedizinischen Erkenntnissen und Erfahrungen eine gesetzliche Regelung der täglichen Höchstarbeitszeit zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer für erforderlich hielt (vgl. den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts - Arbeitszeitrechtsgesetz - vom - BT-Drs. 12/5888 S. 20, 22, insbesondere S. 24). Diese Überlegungen trafen und treffen auch auf das Fahrpersonal zu. Dessen Gesundheit wird - ebenso wie die anderer Arbeitnehmer - durch eine über die Grenzen des § 3 ArbZG hinausgehende werktägliche Arbeitszeit beeinträchtigt. Außerdem wirkt sich eine Überbeanspruchung bei Übermüdung auch auf die Straßenverkehrssicherheit aus. Dass die Fahrpersonalrichtlinie unter anderem bezweckt, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden (vgl. Erwägungsgrund 10 und Art. 1 der Richtlinie), steht der ergänzenden Anwendung des § 3 ArbZG nicht entgegen. Art. 1 und 10 der Fahrpersonalrichtlinie lassen keinen Zweifel daran, dass Wettbewerbsverzerrungen nicht durch ein Absenken des Schutzstandards beseitigt werden sollen, sondern durch die Gewährleistung unionsweit gleicher Mindeststandards ohne Reduzierung des mitgliedstaatlich bereits erreichten Schutzniveaus.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:111120B8C24.19.0

Fundstelle(n):
LAAAH-73378