BVerwG Urteil v. - 2 C 5/19

Fortsetzungsfeststellungsklage bei Kopftuchverbot für Rechtsreferendarin

Leitsatz

1. Ein für das Rechtsreferendariat ausgesprochenes Kopftuchverbot, das typischerweise nur für einige Monate einen Anwendungsbereich hat, ist auch nach seiner Erledigung gerichtlich angreifbar; das für die Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche besondere Feststellungsinteresse ergibt sich aus der Fallgruppe des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs.

2. In Bayern ist erst im Jahr 2018 mit Art. 11 BayRiStAG i.V.m. Art. 57 BayAGGVG die erforderliche gesetzliche und nach dem - (BVerfGE 153, 1) verfassungsgemäße Grundlage dafür geschaffen worden, einer Rechtsreferendarin zu verbieten, bei der Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenkontakt ein Kopftuch zu tragen.

Gesetze: Art 19 Abs 4 GG, Art 4 Abs 2 GG, Art 4 Abs 1 GG, Art 57 GVGAG BY, § 46 Abs 6 JAPO BY, Art 11 RiStAG BY, § 113 Abs 1 S 4 VwGO, § 36 VwVfG

Instanzenzug: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Az: 3 BV 16.2040 Urteilvorgehend VG Augsburg Az: Au 2 K 15.457 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin ist muslimischen Glaubens und trägt als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung ein Kopftuch. Sie begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des ihr gegenüber zu Beginn des Rechtsreferendariats ergangenen und später aufgehobenen Verbots, bei hoheitlichen Tätigkeiten im Rechtsreferendariat ein Kopftuch zu tragen.

2Mit Bescheid des Präsidenten des wurde die Klägerin zum juristischen Vorbereitungsdienst mit Beginn zum zugelassen. Die Zulassung erfolgte unter der Auflage, dass bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung (z.B. Wahrnehmung des staatsanwaltlichen Sitzungsdienstes, Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen in der Zivilrechtsstation) keine Kleidungsstücke, Symbole und andere Merkmale getragen werden dürfen, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die religiös-weltanschauliche Neutralität der Dienstausübung zu beeinträchtigen.

3Nach Antritt des Vorbereitungsdienstes nahm die Klägerin in der fünfmonatigen Zivilrechtsstation beim Amtsgericht an vier Tagen im November 2014 jeweils gemeinsam mit einer Mitreferendarin an von ihrer Ausbilderin geleiteten mündlichen Verhandlungen teil. Während der Mitreferendarin am am Richtertisch u.a. die Einführung in den Sach- und Streitstand übertragen wurde, wohnte die Klägerin der Verhandlung im Zuschauerbereich bei. An den übrigen drei Verhandlungstagen im November wurde die Klägerin genauso behandelt wie ihre Mitreferendarin; beide Referendarinnen saßen im Zuschauerraum und beobachteten den Verlauf der Verhandlungen.

4Im Januar 2015 legte die Klägerin Widerspruch gegen die Auflage ein. Der Präsident des Oberlandesgerichts wies den Widerspruch im März 2015 zurück. Im März 2015 begann auch die dreimonatige Strafrechtsstation der Klägerin, die sie bei einem Gericht absolvierte. Mit der im April 2015 erhobenen Klage beantragte die Klägerin zunächst, die Auflage aufzuheben. Nachdem mit Ablauf des Mai 2015 die Strafrechtsstation beendet war, hob der Präsident des Oberlandesgerichts München die Auflage im Juni 2015 auf, weil die Auflage nicht mehr erforderlich sei. Daraufhin beantragte die Klägerin im Juli 2015 festzustellen, dass die Auflage rechtswidrig gewesen ist.

5Das Verwaltungsgericht entschied im Juni 2016 antragsgemäß. Die Klage sei zulässig, weil sich ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse der Klägerin aus der Präjudizwirkung der beantragten Feststellung für den im Juni 2016 beim Landgericht anhängig gemachten Entschädigungsanspruch aus Amtshaftung ergebe. Die Klage sei auch begründet, weil die Auflage aufgrund des Fehlens einer ihren Erlass rechtfertigenden Rechtsgrundlage rechtswidrig sei.

6Während des Berufungsverfahrens - im Juli 2017 - nahm die Klägerin die Amtshaftungsklage zurück. Die Berufung der Beklagten war erfolgreich. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt:

7Die von der Klägerin erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage sei bereits unzulässig, weil es an dem hierfür erforderlichen Feststellungsinteresse fehle. Insbesondere sei die Auflage nicht mit einem tiefgreifenden und sich typischerweise kurzfristig erledigenden Grundrechtseingriff verbunden gewesen. Die Wirkung der Auflage sei zeitlich und örtlich sowie auf die Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung beschränkt gewesen. Das Verbot habe sich in ihrem Fall nur auf den Zeitraum einer einzigen mündlichen Verhandlung ausgewirkt. Die streitige Auflage gehöre auch nicht zu den Maßnahmen, die sich typischerweise kurzfristig erledigten. Es sei der Klägerin zumutbar und grundsätzlich auch möglich gewesen, hiergegen gerichtlichen Rechtsschutz auch in der Hauptsache zu erhalten. Dass sich die Auflage vorliegend durch ihre Aufhebung untypisch frühzeitig erledigt habe, ändere daran nichts.

8Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie beantragt,

das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom zurückzuweisen.

9Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Gründe

10Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Annahme des Berufungsgerichts, die der Klägerin erteilte Auflage bewirke keinen tiefgreifenden Grundrechtseingriff, sodass ihre Fortsetzungsfeststellungsklage wegen fehlenden Feststellungsinteresses unzulässig sei, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; 1.). Die zulässige Klage ist auch begründet, weil es im Zeitraum der Geltung der streitigen Auflage an der hierfür erforderlichen gesetzlichen Grundlage fehlte, die es der Klägerin untersagt, im Rahmen ihres Rechtsreferendariats bei der Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale zu tragen, die die weltanschauliche Neutralität der Dienstausübung beeinträchtigen können (sog. Kopftuchverbot; 2.).

111. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig, weil die Klägerin das erforderliche Interesse an der begehrten Feststellung der Rechtswidrigkeit der ihr gegenüber ergangenen Auflage hat.

12Nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO spricht das Gericht dann, wenn sich ein angefochtener Verwaltungsakt durch Zurücknahme oder anders erledigt hat, auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, sofern der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

13Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein und sich insbesondere aus den Gesichtspunkten der konkreten Wiederholungsgefahr, der Rehabilitierung, der schwerwiegenden Grundrechtsbeeinträchtigung sowie der Präjudizwirkung für einen beabsichtigten Schadensersatzanspruch ergeben. Die gerichtliche Feststellung muss geeignet sein, die betroffene Position des Klägers zu verbessern ( 2 C 27.15 - BVerwGE 156, 272 Rn. 13 m.w.N.).

14Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts ist ein berechtigtes Feststellungsinteresse jedenfalls wegen eines schwerwiegenden Eingriffs in die Religionsfreiheit der Klägerin nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gegeben.

15Bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen ist im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt ( 8 C 14.12 - BVerwGE 146, 303 Rn. 32 unter Hinweis auf BVerfG, Beschlüsse vom - 2 BvR 527/99 u.a. - BVerfGE 104, 220 <232 f.> und vom - 1 BvR 461/03 - BVerfGE 110, 77 <86> m.w.N).

16Danach steht der Klägerin das erforderliche Interesse für die begehrte Feststellung zu.

17Das erforderliche Feststellungsinteresse fehlt nicht deshalb, weil der Beklagte die Auflage selbst aufgehoben hat. Der Beklagte hat seinen Bekundungen nach die streitbefangene Auflage nicht wegen einer veränderten Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit, sondern wegen ihrer Entbehrlichkeit in den weiteren Ausbildungsstationen aufgehoben; er hält die Auflage unverändert für rechtmäßig.

18Das streitgegenständliche Verbot greift, auch wenn es - wie hier - auf die Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung bezogen und hierauf beschränkt ist, in das Grundrecht der Religionsfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, ein. Dieser Eingriff wiegt schwer, fordert er doch von der Adressatin ein Handeln unter Verstoß gegen ein von ihr für sich als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot. Dies gilt unabhängig von der Anzahl der Fälle, in denen sich ein solches Verbot aktualisiert.

19Die Aufhebung der Auflage durch den Beklagten - nach Beendigung der Strafrechtsstation und zugleich nach Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage - stellt keine untypische frühzeitige Erledigung dar, die der Bejahung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses entgegensteht. Denn der Zeitraum, für den sich die Auflage Geltung beimaß, war zu kurz, um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in der Hauptsache zu erlangen (vgl. zum ähnlich gelagerten Fall des Rechtsschutzbedürfnisses einer Verfassungsbeschwerde gegen ein erledigtes Kopftuch-Verbot: - BVerfGE 153, 1 Rn. 75).

20Zwar war die Auflage ihrem Wortlaut nach nicht auf die Zivilrechts- und die Strafrechtsstation beschränkt, sondern erstreckte sich auf das gesamte Referendariat und erfasste Tätigkeiten in der Zivilrechts- und der Strafrechtsstation nur beispielhaft ("insbesondere"). Allerdings hatte sie außerhalb der Zivilrechts- und der Strafrechtsstation typischerweise keinen Anwendungsbereich. Im Fall der Klägerin beschränkte sich ihr Anwendungsbereich sogar nur auf die Zivilrechtsstation. Denn im Zulassungsbescheid für den Vorbereitungsdienst wurde die Klägerin für die Strafrechtsstation einem Gericht zugewiesen. § 10 GVG schließt aber für Strafsachen ausdrücklich aus, dass Referendare Verfahrensbeteiligte anhören, Beweise erheben und die mündliche Verhandlung leiten. Es kann nicht angenommen werden, dass der hiernach verbleibende Zeitraum zur Erlangung verwaltungsgerichtlichen Hauptsacherechtsschutzes gegen die Auflage ausreichend war, zumal auch der Zeitraum für ein der Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage vorausgehendes Widerspruchsverfahren in die Betrachtung einzubeziehen ist. Dem steht nicht entgegen, dass im streitgegenständlichen Zeitraum der Geltungsdauer der Auflage im beklagten Freistaat die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens nicht zwingend, sondern nur fakultativ vorgesehen war. Denn wenn ein Bürger die Erhebung einer gerichtlichen Klage gegen eine ihn beschwerende Verwaltungsentscheidung möglicherweise durch die gesetzlich geregelte vorgerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit dieser Verwaltungsentscheidung vermeiden kann, muss er eine solche normativ vorgesehene Möglichkeit auch tatsächlich wahrnehmen können.

212. Die zulässige Klage ist auch begründet. Im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Geltung gab es im beklagten Freistaat Bayern keine gesetzliche Grundlage für die streitgegenständliche Kopftuchauflage.

22a) Der Eingriff in die Religionsfreiheit durch das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, bedarf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Das normative Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsgütern der positiven Religionsfreiheit der von dem Verbot betroffenen Rechtsreferendarin einerseits und dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, dem Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und möglichen Kollisionen mit der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter andererseits unter Berücksichtigung des Toleranzgebots aufzulösen, obliegt dem demokratischen Gesetzgeber. Er - nicht die Exekutive - hat im öffentlichen Willensbildungsprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu finden und dabei die einschlägigen Normen des Grundgesetzes zusammen zu betrachten, ihre Interpretation und ihren Wirkungsbereich aufeinander abzustimmen ( - BVerfGE 153, 1 Leitsätze 2 und 7 sowie Rn. 101 m.w.N.)

23b) Eine solche gesetzliche Grundlage fehlte hier zur Zeit des Erlasses der streitgegenständlichen Auflage (September 2014) wie des Widerspruchsbescheids (März 2015).

24Die im Widerspruchsbescheid genannte Rechtsgrundlage - der Ausgangsbescheid benennt keine Rechtsgrundlage für die Auflage - des Art. 36 BayVwVfG i.V.m. § 46 Abs. 6 BayJAPO genügt ersichtlich nicht den dargestellten Anforderungen. Art. 36 BayVwVfG als allgemeine Norm des Verwaltungsverfahrensrechts, wonach u.a. ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung (nur) versehen werden darf, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsakts sicherstellen soll, ist zwar ein Parlamentsgesetz, beinhaltet aber keine spezifische, die vorliegende Kollision der Verfassungsgüter erfassende und austarierende Regelung. § 46 Abs. 6 BayJAPO, wonach die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst versagt werden kann, wenn Tatsachen vorliegen, die den Bewerber als ungeeignet erscheinen lassen, ist keine parlamentsgesetzliche Norm und außerdem ebenfalls zu unspezifisch. Die vom Verwaltungsgericht des Weiteren noch erwogene entsprechende Anwendung des für Lehrkräfte im Unterricht geltenden Art. 59 Abs. 2 Satz 3 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) für Referendare im juristischen Vorbereitungsdienst kommt ersichtlich nicht in Betracht. Schließlich stellen auch aus allgemeinen gesetzlichen Vorschriften folgenden Neutralitätspflichten für Richter keine taugliche Grundlage dar, die eine solche Auflage gegenüber einer Rechtsreferendarin rechtfertigen; sie erfassen Rechtsreferendarinnen nicht und sind zu unspezifisch.

25Erst mit Art. 11 BayRiStAG in der Fassung vom (GVBl. S. 118 <122>) i.V.m. Art. 57 AGGVG in der Fassung vom (GVBl. S. 118 <143>, geändert durch § 2 Nr. 36 des Gesetzes vom (GVBl. S. 545 <548>), wonach neben u.a. Richterinnen und Richtern auch Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare in Verhandlungen sowie bei allen Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke tragen dürfen, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen können, ist die erforderliche gesetzliche und nach dem - (BVerfGE 153, 1) verfassungsgemäße Grundlage für den Erlass einer solchen Auflage auch gegenüber einer Rechtsreferendarin geschaffen worden.

263. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:121120U2C5.19.0

Fundstelle(n):
LAAAH-70345