Umfang der deliktischen Haftung eines Automobilherstellers gegenüber dem Käufer eines vom sog. Abgasskandal betroffenen Gebrauchtfahrzeugs: Anrechnung von Nutzungsvorteilen; Aufwendungsersatz; Verzugs- und Deliktszinsen; außergerichtliche Rechtsanwaltskosten
Leitsatz
Zum Umfang der Haftung eines Automobilherstellers nach §§ 826, 31 BGB gegenüber dem Käufer des Fahrzeugs in einem sogenannten Dieselfall (hier: Anrechnung von Nutzungsvorteilen, Aufwendungsersatz, Verzugs- und Deliktszinsen, außergerichtliche Rechtsanwaltskosten).
Gesetze: § 31 BGB, § 249 BGB, § 826 BGB, § 849 BGB, Nr 2300 RVG-VV, § 13 RVG, § 14 RVG, Art 3 Nr 10 EGV 715/2007, Art 5 Abs 1 EGV 715/2007
Instanzenzug: Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt Az: 12 U 91/19 Urteilvorgehend LG Magdeburg Az: 10 O 757/18
Tatbestand
1Die Klägerin erwarb am zu einem Preis von 11.697,70 € von einem Dritten einen Gebrauchtwagen VW Golf Variant 2.0 TDl, der mit einem Dieselmotor des Typs EA189 ausgestattet ist. Die Beklagte ist die Herstellerin des Fahrzeugs. Die Fahrleistung beim Erwerb betrug 106.000 km.
2Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt. Der Umfang der Stickoxidemissionen des Fahrzeugs hängt davon ab, in welchem Ausmaß Abgase über ein Abgasrückführungsventil in den Ansaugtrakt des Motors zurückgeführt werden. Die das Abgasventil steuernde Software des Motorsteuerungsgeräts erkannte, ob sich das Fahrzeug innerhalb oder außerhalb der Bedingungen des zur Erlangung der Typengenehmigung durchgeführten Testlaufs nach dem NEFZ (Neuer Europäischer Fahrzyklus) befand. Befand sich das Fahrzeug außerhalb der Bedingungen des NEFZ, wurden relativ weniger Abgase in den Ansaugtrakt des Motors zurückgeleitet, als wenn das Fahrzeug sich innerhalb der Bedingungen des NEFZ befand.
3Das Kraftfahrt-Bundesamt verpflichtete die Beklagte, die aus seiner Sicht gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtung bei allen betroffenen Fahrzeugen mit Dieselmotoren vom Typ EA189 zu entfernen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorschriftsmäßigkeit herzustellen. Ein daraufhin von der Beklagten angebotenes Software-Update wurde auf das streitgegenständliche Fahrzeug am aufgespielt. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht betrug die Laufleistung 242.000 km.
4Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von 11.697,70 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem Zug um Zug gegen "Rückgabe" des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten ab dem , die Erstattung von Aufwendungen (Inspektionskosten etc.) in Höhe von insgesamt 474,83 € nebst Zinsen sowie die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.245,69 € nebst Zinsen.
5Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht die Entscheidung des Landgerichts abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 3.497,25 € nebst Zinsen in beantragter Höhe seit dem Zug um Zug gegen "Rückgabe" des Fahrzeugs zu zahlen. Ferner hat es die begehrte Feststellung - allerdings mit Verzugsbeginn erst am - ausgesprochen und die Beklagte zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 413,64 € nebst Zinsen seit dem verurteilt. Wegen der weitergehend geltend gemachten Ansprüche hat es die Klage abgewiesen. Dagegen haben beide Parteien die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt. Die Klägerin verfolgt ihre Klageanträge in vollem Umfang weiter. Die Beklagte hat ihre Revision zurückgenommen.
Gründe
I.
6Das Berufungsgericht, dessen Urteil bei juris und unter BeckRS 2019, 36859 veröffentlicht ist, hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Klägerin stehe gegen die Beklagte gemäß § 826 BGB in Verbindung mit § 31 BGB ein Schadensersatzanspruch zu. Die geltend gemachten Aufwendungen seien allerdings nicht ersatzfähig. Die Klägerin müsse sich außerdem die gezogenen Nutzungen anrechnen lassen. Die erwartete Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs der streitgegenständlichen Art werde auf 300.000 km geschätzt. Der Gebrauchsvorteil errechne sich, indem der von der Klägerin gezahlte Bruttokaufpreis (11.697,70 €) mit den von ihr gefahrenen Kilometern (136.000) multipliziert und der sich ergebende Wert durch die erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt (194.000 km) geteilt werde. Somit ergebe sich eine von dem Schadensersatzanspruch abzuziehende Nutzungsentschädigung in Höhe von 8.200,45 €.
7Die Klägerin könne nur die Zahlung von Prozesszinsen gem. §§ 291, 288 BGB und nicht von Verzugszinsen verlangen, da die Beklagte vorprozessual nicht in Verzug gesetzt worden sei. Ein Anspruch auf Zahlung von Zinsen gem. § 849 BGB bestehe nicht, da die Klägerin im Austausch für den gezahlten Kaufpreis das Fahrzeug habe nutzen können.
8In Annahmeverzug sei die Beklagte erst aufgrund des Schreibens der Klägerin geraten, in dem diese zur Rücknahme des Fahrzeugs aufgefordert habe und nicht dadurch, dass sie das Fahrzeug in den Rechtsverkehr entlassen habe.
9Von den entstandenen außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten könne die Klägerin - ausgehend von einem Gegenstandswert in Höhe von 3.497,25 € entsprechend der Höhe des tatsächlich bestehenden Schadensersatzanspruchs - Freistellung nur in Höhe von 413,64 € entsprechend einer 1,3 Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV-RVG, §§ 13, 14 RVG nebst Post- und Telekommunikationspauschale sowie Umsatzsteuer verlangen. Es sei nicht zu erkennen, dass die außergerichtliche anwaltliche Tätigkeit umfangreich oder schwierig gewesen wäre. Mit der nur formelhaften Behauptung, die dem Sachverhalt zugrundeliegenden tatsächlichen Aspekte und teilweise auch rechtlichen Fragen seien überdurchschnittlich komplex und schwierig, könne ein Überschreiten der Schwellengebühr nicht begründet werden.
II.
10Die Revision der Klägerin ist teilweise bereits unzulässig und im Übrigen unbegründet.
111. Unzulässig ist die Revision der Klägerin, soweit sie sich nach ihrem Antrag auch gegen die teilweise Abweisung ihres Feststellungsantrags zum Annahmeverzug wendet. Denn die Revision rügt insoweit weder die Verletzung materiellen Rechts noch macht sie einen Verfahrensmangel geltend, sodass es an der notwendigen Begründung gemäß § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO fehlt.
122. Das Berufungsgericht hat frei von Rechtsfehlern angenommen, dass der Schadensersatzanspruch der Klägerin gem. § 826 BGB in Verbindung mit § 31 BGB analog auf Erstattung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs (vgl. hierzu Senatsurteil vom - VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rn.13 ff.) im Wege der Vorteilsanrechnung um die von der Klägerin gezogenen Nutzungsvorteile in Höhe von 8.200,45 € zu reduzieren ist. Die insoweit von der Revision erhobenen Einwände, mit der Vorteilsanrechnung würden die Präventionswirkung des Deliktsrechts verfehlt, das Gebot unionsrechtskonformer Rechtsanwendung verletzt, die Beklagte unangemessen entlastet und gesetzliche Wertungen missachtet, greifen nicht durch (vgl. , NJW 2020, 1962 Rn. 64 ff. mwN und vom - VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 11).
133. Bei der gemäß § 287 ZPO vorzunehmenden Bemessung der anzurechnenden Vorteile ist das Berufungsgericht von folgender Berechnungsformel ausgegangen:
14Diese Berechnungsmethode ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die vom Berufungsgericht zugrunde gelegte Gesamtlaufleistungserwartung von 300.000 km wird von der Revision nicht angegriffen und ist schon deshalb revisionsrechtlich hinzunehmen. Der Einwand der Revision, der errechnete Nutzungsvorteil sei zumindest erheblich herabzusetzen, weil die Fahrzeugnutzung rechtlich unzulässig sei, verfängt nicht, da es im Rahmen der Vorteilsausgleichung auf die tatsächlich gezogenen Vorteile ankommt (vgl. zum Ganzen: Senatsurteil vom - VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rn. 78 ff. mwN).
15Entgegen der Ansicht der Revision ist die Vorteilsanrechnung auch nicht auf den Zeitraum bis zu einem etwaigen Eintritt des Schuldner- oder Annahmeverzugs der Beklagten beschränkt (zum Annahmeverzug vgl. bereits , NJW 1962, 1909 f., juris Rn. 6). Die Vorteilsanrechnung basiert darauf, dass die Klägerin mit der fortgesetzten Nutzung des Fahrzeugs einen geldwerten Vorteil erzielt. Ein etwaiger Verzug der Beklagten änderte hieran nichts (vgl. , NJW 2020, 1962 Rn. 68 und vom - VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 14).
164. Zutreffend hat das Berufungsgericht auch den von der Klägerin erhobenen Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen in Höhe von insgesamt 474,83 € verneint. Die Klägerin macht die Gebühren einer Hauptuntersuchung, Inspektionskosten einschließlich Verbrauchsmaterialien (Öl) sowie die Kosten des Austauschs von Verschleißteilen einschließlich der Kosten für einen Service-Ersatzwagen geltend, wobei die letzten dieser Aufwendungen im November 2015 getätigt wurden. Aufwendungen der hier fraglichen Art, die zu den gewöhnlichen Unterhaltungskosten zählen, sind unter den im Streitfall gegebenen Umständen nicht ersatzfähig. Da die Klägerin das Fahrzeug wie vorgesehen genutzt hat, handelt es sich insoweit nicht um vergebliche Aufwendungen (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 24).
175. Ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht der Klägerin nur Prozesszinsen gem. §§ 291, 288 BGB ab Klageerhebung zugesprochen hat. Ein weitergehender Zinsanspruch besteht nicht. Insbesondere befand sich die Beklagte nicht mit der Erstattung der Kaufpreissumme in Verzug.
18Die Klägerin hat der Beklagten im Hinblick darauf, dass sie in dem Schreiben vom die Erstattung des gesamten Kaufpreises in Höhe von 11.697,70 € nebst Aufwendungen verlangt und sich noch bis in die Revisionsinstanz gegen die Anrechnung des Nutzungsersatzes gewehrt hat, die Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs nicht zu den Bedingungen angeboten, von denen sie sie im Hinblick auf den im Wege der Vorteilsausgleichung geschuldeten und vom Kaufpreis in Abzug zu bringenden Nutzungsersatz hätte abhängig machen dürfen. Sie hat damit durchgängig die Zahlung eines deutlich höheren Betrags verlangt, als sie hätte beanspruchen können. Ein zur Begründung von Schuldnerverzug geeignetes Angebot ist unter diesen Umständen nicht gegeben, weil der Schuldner nur in Verzug geraten kann, wenn der Gläubiger die ihm obliegende Gegenleistung ordnungsgemäß anbietet (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rn. 85 f. mwN).
19Entgegen der Ansicht der Revision liegen auch keine besonderen Gründe vor, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Parteien den sofortigen Verzugseintritt ohne Mahnung rechtfertigen würden, § 286 Abs. 2 Nr. 4 BGB. Insbesondere ist der Streitfall mit den unter der Bezeichnung "fur semper in mora" erörterten Sachverhaltskonstellationen nicht vergleichbar (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 22).
206. Von der Revision wird nicht angegriffen, dass das Berufungsgericht auch einen Zinsanspruch gemäß § 849 BGB zutreffend verneint hat (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 17 ff.).
217. Schließlich hält das Berufungsurteil den Angriffen der Revision auch insoweit stand, als darin die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nur in einer Höhe von 413,64 € entsprechend einer 1,3 Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV-RVG, §§ 13, 14 RVG nebst Post- und Telekommunikationspauschale sowie Umsatzsteuer aus einem Gegenstandswert von 3.497,25 € entsprechend der Höhe des tatsächlich bestehenden Schadensersatzanspruchs als ersatzfähig angesehen wurden.
22Der gesetzliche Gebührentatbestand in Nr. 2300 VV-RVG bestimmt, dass eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Ob dies der Fall ist, ist anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls zu beurteilen. Die Revision zeigt keine Gesichtspunkte auf, die die Bewertung des Berufungsgerichts als rechtsfehlerhaft erscheinen lassen könnten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:190121UVIZR8.20.0
Fundstelle(n):
WM 2021 S. 358 Nr. 7
ZIP 2021 S. 414 Nr. 8
VAAAH-70307