Benachteiligung wegen Schwerbehinderung - Tarifliche Ausgleichszahlung bei Inanspruchnahme vorgezogener Altersrente
Gesetze: § 1 AGG, § 7 Abs 1 AGG, § 7 Abs 2 AGG, § 10 AGG, § 1 TVG
Instanzenzug: ArbG Aachen Az: 4 Ca 1057/18 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 10 Sa 676/18 Urteil
Tatbestand
1Die Klägerin nimmt die Beklagten auf eine tarifliche Ausgleichszahlung nach der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente in Anspruch.
2Die Klägerin stand vom bis zum bei den Beklagten in einem Arbeitsverhältnis. Unter dem / trafen die Parteien eine Altersteilzeitvereinbarung, die ua. folgende Regelungen enthält:
3Das zwischen dem Arbeitgeberverband der Versicherungsunternehmen in Deutschland eV und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di vereinbarte Altersteilzeitabkommen für das private Versicherungsgewerbe vom (ATzA) in der ab dem geltenden Fassung sieht ua. folgende Bestimmungen vor:
4Der von § 8 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung in Bezug genommene „Sozialplan für Arbeitnehmer der Direktion“ (SozPl Dir) vom regelt ua. Folgendes:
5Anlage C zu Ziffer IV Absatz (2) des Sozialplans Direktion vom enthält ua. folgende Regelungen:
6In dem „Sozialplan Betriebsübergang Zentrale Dienste“ vom (SozPl ZD) vereinbarten die Betriebsparteien ua. Folgendes:
7Anlage B zu Teil B Ziff. VIII Absätze (2) und (3) des Sozialplans Betriebsübergang Zentrale Dienste vom bestimmt ua. Folgendes:
8Die am geborene Klägerin ist als schwerbehinderter Mensch iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX anerkannt. Sie nimmt seit dem vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach § 236a SGB VI in Anspruch.
9Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagten seien zum hälftigen Ausgleich der Rentennachteile verpflichtet, die ihr, der Klägerin, infolge der Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente entstünden. § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA enthalte eine unbewusste Regelungslücke, die im Wege der ergänzenden Auslegung dahingehend zu schließen sei, dass schwerbehinderten Mitarbeitern, die nach der Vollendung des 60. Lebensjahres vorgezogene Altersrente in Anspruch nähmen, ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zustehe. Die Tarifnorm verstoße außerdem gegen das Diskriminierungsverbot der §§ 1, 7 AGG, da sie schwerbehinderte Arbeitnehmer mittelbar wegen ihrer Behinderung benachteilige.
10Die Klägerin hat beantragt,
11Die Beklagten haben die Abweisung der Klage mit der Begründung beantragt, § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA führe nicht zu einer Ungleichbehandlung von schwerbehinderten und anderen Arbeitnehmern, da die Tarifbestimmung einheitlich auf die Vollendung des 63. Lebensjahres abstelle. Im Übrigen sei die tarifliche Differenzierung sachlich gerechtfertigt.
12Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. In der Revisionsinstanz hat die Klägerin vorgetragen, die Beklagten verwendeten bei Abschluss von Altersteilzeitvereinbarungen unterschiedliche Vertragsformulare. Während einige Verträge Klauseln wie die in § 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung der Parteien enthielten, fehle in anderen eine entsprechende Bestimmung. Die Beklagten erklärten, Bestimmungen wie in § 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung der Parteien in die von ihr verwendeten Verträge nicht aufgenommen zu haben, wenn die Voraussetzungen für eine Ausgleichszahlung nach dem ATzA oder für eine Leistung nach einem Sozialplan erfüllt waren.
Gründe
13Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob der Klägerin die von ihr geltend gemachte Ausgleichszahlung zusteht.
14I. Die Revision ist nicht schon deshalb zurückzuweisen, weil - wie die Beklagten meinen - bereits die Berufung der Klägerin mangels ausreichender Begründung unzulässig gewesen ist.
151. Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergibt. Gemäß § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG sind die Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Begründung der Berufung auch im Urteilsverfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen anwendbar. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll. Die Regelung des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO soll gewährleisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfassung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird.
162. Diesen Anforderungen genügt die Berufungsbegründung der Klägerin. Sie setzt sich mit der Argumentation des Arbeitsgerichts hinreichend auseinander.
17a) Das Arbeitsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, eine ergänzende Auslegung des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA komme nicht in Betracht, da die Tarifnorm einen Regelungsspielraum eröffne, den nicht die Gerichte für Arbeitssachen, sondern nur die Tarifvertragsparteien zu nutzen befugt seien. Im Übrigen benachteilige die Tarifbestimmung schwerbehinderte Arbeitnehmer weder unmittelbar noch mittelbar. Es fehle an einer Vergleichsgruppe, deren Mitglieder - wie die Klägerin - eine vorgezogene Altersrente aufgrund einer Schwerbehinderung in Anspruch nehmen könne.
18b) Die Klägerin hat ihrer Begründungsobliegenheit genügt, indem sie diese Argumentation unter zwei Gesichtspunkten angegriffen hat. Zum einen hat sie ausgeführt, der seitens des Arbeitsgerichts angenommene Regelungsspielraum finde seine Grenze in zwingendem Gesetzesrecht, zu dem nicht zuletzt die Regelungen des AGG gehörten. Zum anderen hat sie geltend gemacht, sie sei mit nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern vergleichbar, die zum frühestmöglichen Zeitpunkt Altersrente in Anspruch nähmen. Das genügt.
19II. Die Revision der Klägerin hat Erfolg, weil die Klage mit der gegebenen Begründung nicht abgewiesen werden durfte. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Tarifnorm des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA sei mangels Regelungslücke einer ergänzenden Auslegung nicht zugänglich. Die Tarifvertragsparteien hätten einen Anspruch auf Ausgleich von Rentennachteilen, die ein Arbeitnehmer infolge der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente erleide, ausdrücklich an die Voraussetzung geknüpft, dass der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Renteneintritts das 63. Lebensjahres vollendet habe. Die Bestimmungen des AGG führten nicht zu einer ausfüllungsbedürftigen Lücke in der Tarifregelung, da eine Ungleichbehandlung zu Lasten schwerbehinderter Arbeitnehmer jedenfalls nach § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG sachlich gerechtfertigt sei. Diese Begründung hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.
201. Die Klägerin macht im Streitfall nicht eine Benachteiligung wegen des Alters, sondern eine solche wegen ihrer Behinderung geltend. Sie wendet sich nicht dagegen, dass § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA Ausgleichsansprüche solchen - auch nicht behinderten - Arbeitnehmern vorbehält, deren Altersteilzeitvereinbarung vor der Vollendung des 63. Lebensjahr endet. Als diskriminierend erachtet sie vielmehr die Verkürzung von Ausgleichsansprüchen, die schwerbehinderten Arbeitnehmern zustehen, die von der durch das Rentenrecht eingeräumten Befugnis Gebrauch machen, nach § 236a Abs. 1 Satz 2 SGB VI eine vorgezogene Rente wegen Alters in Anspruch zu nehmen. Diese Ungleichbehandlung von schwerbehinderten und anderen Arbeitnehmern kann ihre Rechtfertigung nicht in der Vorschrift des § 10 Satz 3 Nr. 4 AGG finden, die allein zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung wegen des Alters herangezogen werden kann.
212. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts ist die Tarifbestimmung des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam, soweit sie dazu führt, dass schwerbehinderten Arbeitnehmern, die eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen und hierdurch Rentennachteile erleiden, kein Anspruch auf Ausgleichszahlungen zusteht. Die Tarifnorm benachteiligt in diesen Fällen schwerbehinderte Arbeitnehmer mittelbar wegen ihrer Behinderung gegenüber anderen Arbeitnehmern.
22a) Nach § 7 Abs. 2 AGG sind Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG verstoßen, unwirksam. Die Bestimmung in § 7 Abs. 1 Halbs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des AGG eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Im Hinblick auf schwerbehinderte Beschäftigte enthielt zudem § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in der bis zum geltenden Fassung (§ 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF; nunmehr § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX), ein an den Arbeitgeber gerichtetes Benachteiligungsverbot. Im Einzelnen galten hierzu die Regelungen des AGG (§ 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX aF). Der Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbots des § 7 Abs. 1 AGG erstreckt sich gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG auf Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich des in kollektivrechtlichen Vereinbarungen geregelten Arbeitsentgelts.
23b) § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA macht den Anspruch auf Ausgleichszahlungen bei Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente von der Vollendung des 63. Lebensjahres abhängig. Damit benachteiligt sie schwerbehinderte Arbeitnehmer der Jahrgänge 1952 bis 1963, die - wie die Klägerin - eine vorzeitige Rente vor der Vollendung des 63. Lebensjahres beziehen, mittelbar wegen deren Behinderung.
24aa) Unzulässig sind neben unmittelbaren auch mittelbare Benachteiligungen behinderter Arbeitnehmer. Nach § 3 Abs. 2 AGG liegt eine mittelbare Benachteiligung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. Das Verbot der mittelbaren Benachteiligung ist eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes und setzt daher voraus, dass die benachteiligten und die begünstigten Personen miteinander vergleichbar sind (vgl. - Rn. 39, BAGE 155, 88).
25bb) Die Voraussetzungen einer mittelbaren Benachteiligung wegen der Behinderung sind vorliegend erfüllt. Die tarifliche Regelung des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA führt dazu, dass diese Arbeitnehmer - anders als nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer - keine Ausgleichszahlung erhalten, obwohl sie wie jene zum frühestmöglichen Zeitpunkt vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen.
26(1) Bei den Ausgleichszahlungen gemäß § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA handelt es sich um Arbeitsentgelt iSd. § 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG.
27(a) Der Begriff des Arbeitsentgelts umfasst insbesondere alle gegenwärtigen oder künftigen in bar gewährten Vergütungen, vorausgesetzt, dass der Arbeitgeber sie dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Arbeitsverhältnisses gewährt, sei es aufgrund eines Arbeitsvertrags, aufgrund von Rechtsvorschriften oder freiwillig (vgl. zu Art. 157 Abs. 2 AEUV - [Bedi] Rn. 33 mwN). Zu den Rechtsvorschriften im genannten Sinne zählen ua. Tarifverträge (vgl. - Rn. 15, BAGE 167, 382).
28(b) Nach § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA haben Arbeitnehmer, die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, Anspruch auf einen wirtschaftlichen Ausgleich, der dazu führt, dass der Rentenabschlag, den sie nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a SGB VI beim vorzeitigen Eintritt in die Altersrente erhalten, zur Hälfe ausgeglichen wird, soweit der in § 2 Abs. 9 Satz 2 ATzA bestimmte Höchstbetrag nicht überschritten wird.
29(2) Schwerbehinderte Arbeitnehmer, die nach dem Ausscheiden aus einem Altersteilzeitarbeitsverhältnis vor der Vollendung des 63. Lebensjahres eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen, und nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer, die vor dem Erreichen der für sie geltenden Regelaltersgrenze vorgezogene Rente beziehen, befinden sich in einer vergleichbaren Situation. Mit der Schaffung der Tarifvorschrift des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA verfolgten die Tarifvertragsparteien den Zweck, Rentenabschläge, die mit der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente einhergehen, durch Ausgleichszahlungen abzumildern. Findet das Altersteilzeitarbeitsverhältnis nicht mit dem Zeitpunkt sein Ende, in dem der Arbeitnehmer Anspruch auf die Regelaltersrente (§ 38 SGB VI) hat (§ 238 SGB VI), sondern endet zu einem davorliegenden Zeitpunkt, können sowohl nicht schwerbehinderte als auch schwerbehinderte Beschäftigte - wie die Klägerin - vorgezogene Altersrente unter den in den §§ 236 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 236a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 SGB VI genannten Voraussetzungen in Anspruch nehmen. In diesem Fall liegt der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat 0,003 niedriger als 1,0 (§ 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a SGB VI). Die relative Rentenminderung ist wie das Interesse, diesen Nachteil auszugleichen, für diese so hoch wie für jene.
30(3) Unter Berücksichtigung der rentenrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen zum Bezug einer vorgezogenen Altersrente führt § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA zu einer finanziellen Schlechterstellung der schwerbehinderten Arbeitnehmer der Jahrgänge 1952 bis 1963 gegenüber anderen Arbeitnehmern, wenn diese wie jene vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen.
31(a) Während schwerbehinderte Arbeitnehmer bestimmter Jahrgänge vorgezogene Altersrente mit Vollendung des 60. Lebensjahres beanspruchen können (§ 236a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB VI; das maßgebliche Alter wird für die Jahrgänge ab 1952 nach Maßgabe des § 236a Abs. 2 Satz 2 SGB VI angehoben), ist dies bei nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern, die eine Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben, frühestens mit Vollendung des 63. Lebensjahres möglich (§ 236 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Mit diesen Vorgaben korrelieren die für schwerbehinderte und nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer geltenden unterschiedlichen Regelaltersgrenzen. Während die Regelaltersgrenze für schwerbehinderte Arbeitnehmer bestimmter Jahrgänge unter den in § 236a Abs. 1 Satz 1 SGB VI genannten Voraussetzungen bei 63 Jahren liegt (das maßgebliche Alter wird für die Jahrgänge ab 1952 nach Maßgabe des § 236a Abs. 2 Satz 2 SGB VI angehoben), haben nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer gemäß § 235 Abs. 1 Satz 2 SGB VI erst frühestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf eine abschlagsfreie Rente (das maßgebliche Alter wird für die Jahrgänge ab 1947 nach Maßgabe des § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI angehoben). Im Ergebnis führt dies dazu, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer bestimmter Jahrgänge, die vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen, anders als nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer von den tariflichen Ausgleichsansprüchen ausgeschlossen sind. Denn nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer haben frühestens Anspruch auf vorgezogene Altersrente, wenn sie das 63. Lebensjahr vollendet haben. Zu diesem Zeitpunkt erhalten sie, sofern sie die übrigen Voraussetzungen des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA erfüllen - anders als schwerbehinderte Arbeitnehmer -, die zu diesem Zeitpunkt bereits Anspruch auf eine ungekürzte Altersrente haben, einen hälftigen Ausgleich ihrer Rentennachteile.
32(b) Rechtlich ist es unerheblich, dass es den schwerbehinderten Arbeitnehmern der Jahrgänge 1952 bis 1963 freisteht, ein ihnen seitens des Arbeitgebers angetragenes Altersteilzeitarbeitsverhältnis abzulehnen, das zu einem Zeitpunkt endet, zu dem sie zwar eine vorgezogene Altersrente beziehen können, aber das 63. Lebensjahres noch nicht vollendet haben. Denn die Ungleichbehandlung besteht bereits darin, dass § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA ihnen - anders als nichtbehinderten Beschäftigten - die rechtliche Option vorenthält, aus dem Altersteilzeitarbeitsverhältnis auszuscheiden und ihre Rentenverluste durch die Inanspruchnahme tariflicher Ausgleichszahlungen zu mindern.
33(4) Für die dargelegte Ungleichbehandlung schwerbehinderter und anderer Arbeitnehmer bestehen keine sachlichen Gründe. Soweit die Beklagten darauf verweisen, die geringere Ausgleichszahlung, die schwerbehinderte Arbeitnehmer wie die Klägerin erhalten, werde durch rentenrechtliche Vorteile kompensiert, die ua. darin bestünden, dass sie ab einem Alter, das drei Jahre niedriger sei als bei nichtbehinderten Arbeitnehmern, eine Altersrente in Anspruch nehmen könnten, so vermag dieser Umstand eine unterschiedliche Behandlung nicht zu rechtfertigen. Zum einen liegt eine Diskriminierung wegen der Behinderung vor, wenn die streitige Maßnahme nicht durch objektive Faktoren, die nichts mit dieser Diskriminierung zu tun haben, gerechtfertigt ist. Zum anderen liefe diese Argumentation darauf hinaus, das gesetzgeberische Ziel zu konterkarieren, schwerbehinderten Arbeitnehmern einen rentenrechtlichen Vorteil gegenüber anderen Arbeitnehmer einzuräumen, um auf diesem Wege den Schwierigkeiten und besonderen Risiken Rechnung zu tragen, mit denen schwerbehinderte Arbeitnehmer konfrontiert sind (vgl. - Rn. 18 unter Bezugnahme auf - [Odar] Rn. 67).
34III. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO). Auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts und des zwischen den Parteien unstreitigen Sachverhalts vermag der Senat nicht zu beurteilen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe der Klägerin ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen gegen die Beklagten zusteht.
351. Das Landesarbeitsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent - nicht geprüft, ob die seitens der Klägerin beanstandete Tarifvorschrift des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA auf das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der Parteien anzuwenden ist. Das Landesarbeitsgericht wird die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachzuholen und dabei Folgendes zu beachten haben:
36a) Die Vorschriften des ATzA wirken nicht gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend auf das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der Parteien. Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin hat nicht vorgetragen, dass sie zum Zeitpunkt der Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di und damit tarifgebunden war (zur Darlegungs- und Beweislast vgl. - zu I 1 der Gründe, BAGE 92, 229).
37b) Es fehlen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zu der Frage, ob § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme auf das Altersteilzeitarbeitsverhältnis Anwendung findet.
38aa) Nach § 8 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung gelten die Bestimmungen des Altersteilzeitabkommens nur „im Übrigen“. Die Bestimmungen des ATzA sollen demnach nicht insgesamt gelten, sondern nur maßgebend sein, soweit nicht der Altersteilzeitvertrag abweichende Regelungen enthält. Eine abweichende Regelung findet sich in § 6 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung, der zufolge „Kompensationsleistungen für … entstehende Nachteile … nicht erbracht“ werden.
39bb) Diese Bestimmung kann die Anwendung des ATzA allerdings nur ausschließen, wenn sie wirksamer Bestandteil der die Parteien verbindenden Altersteilzeitvereinbarung geworden ist. Dies setzt ua. eine benachteiligungsfreie Auswahl der Vertragsformulare voraus, die im Unternehmen der Beklagten bei der Begründung von Altersteilzeitarbeitsverhältnissen zur Anwendung kamen. Eine § 1 AGG widersprechende Benachteiligung von schwerbehinderten Arbeitnehmern käme etwa in Betracht, wenn die Beklagten ihre Entscheidung, eine § 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung entsprechende Klausel in die Altersteilzeitverträge aufzunehmen, an der benachteiligenden Tarifnorm des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA orientiert hätten. Nachdem weder das Landesarbeitsgericht noch die Parteien bislang diesen Gesichtspunkt in den Blick genommen haben, gebieten der Anspruch auf rechtliches Gehör und der Grundsatz der Gewährleistung eines fairen Verfahrens (dazu - Rn. 30; - 10 AZR 859/16 - Rn. 20, BAGE 160, 57), den Parteien im Rahmen des fortgesetzten Berufungsverfahrens Gelegenheit zu geben, hierzu ergänzend vorzutragen.
402. Sollte die arbeitsvertragliche Bestimmung des § 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung unwirksam sein, hätte die Klägerin, die die sonstigen in § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA genannten Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Arbeitnehmern, die aufgrund der tariflichen Regelung einen wirtschaftlichen Ausgleich für Rentennachteile erhalten, die ihnen durch die Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente entstehen.
41a) Zwar ist eine gegen das Benachteiligungsverbot nach § 7 Abs. 1 AGG verstoßende Regelung gemäß § 7 Abs. 2 AGG unwirksam. Dies gilt auch für Tarifverträge (vgl. - Rn. 44, BAGE 159, 92). Die Unwirksamkeit bewirkt aber, dass den benachteiligten Arbeitnehmern für die Vergangenheit ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist (sog. „Anpassung nach oben“, - Rn. 48). Den Angehörigen der mittelbar benachteiligten Gruppe sind dabei dieselben Vorteile zu gewähren wie den nicht benachteiligten Arbeitnehmern. Kann der Arbeitgeber - wie im Streitfall die Beklagten - den Begünstigten die gewährten Leistungen nicht mehr entziehen, ist eine solche zur Beseitigung der Diskriminierung erforderliche „Anpassung nach oben“ selbst dann gerechtfertigt, wenn sie zu erheblichen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers führt (vgl. - Rn. 21).
42b) Die in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich verbürgte Tarifautonomie steht dem nicht entgegen.
43aa) Grundsätzlich ist es Aufgabe der Tarifvertragsparteien, eine benachteiligungsfreie Regelung zu treffen, wofür ihnen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind aber für den Fall, dass gesetzliche oder tarifliche Regelungen eine mit der Richtlinie unvereinbare Diskriminierung vorsehen, die nationalen Gerichte gehalten, die Diskriminierung auf jede denkbare Weise und insbesondere dadurch auszuschließen, dass sie die Regelung für die nicht benachteiligte Gruppe auch auf die benachteiligte Gruppe anwenden, ohne die Beseitigung der Diskriminierung durch den Gesetzgeber, die Tarifvertragsparteien oder in anderer Weise abzuwarten (vgl. so bereits zur Richtlinie 76/207/EWG - [Kutz-Bauer] Rn. 75). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zudem darauf hingewiesen, dass die Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt worden ist und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, nur dadurch gewährleistet werden kann, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie die, die den Angehörigen der privilegierten Gruppe zugutekommen, wobei diese Regelung, solange das Unionsrecht nicht richtig durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt (vgl. - [Landtová] Rn. 51).
44bb) Das gültige Bezugssystem ist vorliegend die Tarifbestimmung des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA, die Ausgleichsansprüche daran knüpft, das Arbeitnehmer „mit Vollendung des 63. Lebensjahres“ einen Rentenabschlag erhalten. Diesen Arbeitnehmern sind schwerbehinderte Arbeitnehmer wie die Klägerin gleichzustellen, die gemäß § 236a Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB VI eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen. Auch unter Berücksichtigung von Art. 9 Abs. 3 GG kommt bei solchen nur eine Anpassung „nach oben“ in Betracht. Die Benachteiligung der Klägerin kann, da sie in der Vergangenheit liegt, nicht auf andere Weise ausgeschlossen werden. Der von §§ 1, 7 AGG bzw. Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG verfolgte Zweck, Benachteiligungen zu verhindern oder zu beseitigen, würde ansonsten nicht erreicht (vgl. zu einer Benachteiligung wegen des Alters - Rn. 31).
45c) Die konkreten Ausgleichsansprüche sind - die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA unterstellt - anhand von Pauschalbeträgen zu berechnen. In diesem Zusammenhang wird das Landesarbeitsgericht zu prüfen haben, ob der der Klägerin zustehende Ausgleich anhand der Regelungen des SozPl Dir oder der Bestimmungen des SozPl ZD zu bestimmen ist.
46aa) Gemäß Nr. 3.1 Abs. b Unterabs. (2) Satz 1 der Anlage B zu Teil B Ziff. VIII Absätze (2) und (3) SozPl ZD erhält ein Arbeitnehmer, der die Voraussetzungen des § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA erfüllt, pro 0,3 Prozentpunkte Minderung der gesetzlichen Altersrente - begrenzt auf maximal die Hälfte des prozentualen Rentenabschlags der gesetzlichen Altersrente - pauschal 720,00 Euro brutto als einmalige Ausgleichszahlung. Die Anwendbarkeit dieser Regelung auf das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der Parteien hängt ua. davon ab, ob die Klägerin zu den Arbeitnehmern gehört, denen Ansprüche nach dem Interessenausgleich vom und nach der „Vereinbarung Eckpunkte zum Projekt Betriebsübergang Zentrale Dienste“ vom zustehen (Präambel SozPl ZD) und in den sachlichen Geltungsbereich des SozPl ZD fallen (Teil A Ziffer I Absatz (1) SozPl ZD).
47bb) Sollte § 6 Abs. 2 der Altersteilzeitvereinbarung unwirksam sein und die Klägerin nicht unter die Regelungen des SozPl ZD fallen, wäre der Ausgleich gemäß § 8 Satz 2 der Altersteilzeitvereinbarung nach den Bestimmungen des SozPl Dir zu berechnen. Gemäß Nr. 3.1 Abs. 2 Unterabs. b Satz 1 der Anlage C zu Ziffer IV Absatz (2) SozPl Dir erfolgt der Ausgleich, auf den ein Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 9 Satz 1 ATzA Anspruch hat, im Wege einer einmaligen Bruttozahlung iHv. 640,00 Euro pro 0,3 % Minderung der gesetzlichen Altersrente, wobei der Prozentsatz auf maximal die Hälfte des prozentualen Rentenabschlags der gesetzlichen Altersrente beschränkt ist.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR266.19.0
Fundstelle(n):
GAAAH-67844