Aussetzung wegen anhängiger Verfassungsbeschwerde
Leitsatz
Ist in einem Parallelverfahren eine Verfassungsbeschwerde anhängig, kann in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO eine Aussetzung der Verhandlung erfolgen, wenn dies in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG sowie zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Die Aussetzung kann zeitlich befristet werden.
Gesetze: § 148 Abs 1 ZPO, § 9 Abs 1 ArbGG, Art 93 Abs 1 Nr 4a GG, Art 267 Abs 3 AEUV, § 17 Abs 1 KSchG, § 17 Abs 3 KSchG, Art 16 EUGrdRCh, § 134 BGB
Instanzenzug: Az: 6 Ca 6859/17 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 6 Sa 363/18 Urteil
Gründe
1I. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung.
2Der Kläger war seit März 1988 bei der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG (Schuldnerin) bzw. deren Rechtsvorgängerin als Pilot beschäftigt. Die Schuldnerin bediente mit mehr als 6.000 Beschäftigten im Linienflugverkehr inner- und außereuropäische Ziele. Hierfür unterhielt sie ua. Stationen an den Flughäfen Berlin-Tegel und Düsseldorf. Der Einsatzort des Klägers war Düsseldorf.
3Am beantragte die Schuldnerin beim zuständigen Insolvenzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen bei Eigenverwaltung. Das Gericht ordnete zunächst die vorläufige Eigenverwaltung an und bestellte den Beklagten am zum vorläufigen Sachwalter.
4Der Executive Director der persönlich haftenden Gesellschafterin der Schuldnerin, der Generalbevollmächtigte der Schuldnerin und der Beklagte unterzeichneten am für die Schuldnerin eine Erklärung. Demnach war beabsichtigt, den Betrieb bis spätestens stillzulegen.
5Für das Cockpitpersonal war gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG durch Abschluss des „Tarifvertrags Personalvertretung (TVPV) für das Cockpitpersonal der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG“ eine Personalvertretung (PV Cockpit) gebildet. Mit Schreiben vom wandte sich die Schuldnerin an die PV Cockpit. Es sei beabsichtigt, die durch die Betriebsstilllegung bedingten Kündigungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Laufe des Monats Oktober 2017, voraussichtlich ab , unter Wahrung der ggf. durch § 113 InsO begrenzten Kündigungsfrist zu erklären.
6Am wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet. Das Insolvenzgericht ordnete Eigenverwaltung an und bestellte den Beklagten zum Sachwalter. Dieser zeigte noch am gleichen Tage eine drohende Masseunzulänglichkeit an. Zudem stellte er den Kläger und weitere nicht mehr einzusetzende Piloten und Kabinenpersonal von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei.
7Die Schuldnerin erstattete mit Formular und Begleitschreiben vom bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord eine Massenentlassungsanzeige bzgl. des gesamten Cockpitpersonals.
8Mit Schreiben vom kündigte sie mit Zustimmung des Beklagten gegenüber dem Kläger das Arbeitsverhältnis zum .
9Am hob das Insolvenzgericht die Eigenverwaltung auf und bestellte den Beklagten zum Insolvenzverwalter.
10Der Kläger hat sich mit seiner fristgerecht erhobenen Klage gegen die Kündigung vom gewandt. Die Kündigung sei unwirksam. Eine Betriebsstilllegung sei zum Zeitpunkt ihres Zugangs nicht beschlossen gewesen, die Schuldnerin habe vielmehr noch mit möglichen Betriebserwerbern verhandelt. Tatsächlich hätten dann Betriebsteilübergänge auf andere Luftfahrtunternehmen stattgefunden. Die PV Cockpit sei nicht ordnungsgemäß beteiligt worden. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft.
11Der Kläger hat zuletzt noch beantragt,
12Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
13Er hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei wegen der beabsichtigten und tatsächlich erfolgten Stilllegung des Flugbetriebs sozial gerechtfertigt. Ein Betriebs(teil)übergang sei nicht geplant gewesen und habe auch nicht stattgefunden. Die Rechte der PV Cockpit seien gewahrt. Die Massenentlassung sei ordnungsgemäß gegenüber der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit angezeigt worden.
14Die Vorinstanzen haben sowohl den Kündigungsschutzantrag als auch einen im Berufungsverfahren noch anhängigen Antrag auf Auskunftserteilung abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Mit dieser verfolgt der Kläger beschränkt auf den Kündigungsschutzantrag sein Klageziel weiter.
15Der Senat hat am in mehreren Verfahren mit identischen Sachverhalten entschieden, dass die streitbefangenen Kündigungen des Cockpitpersonals der Schuldnerin vom unwirksam sind (vgl. ua. - Rn. 29 ff.). Hiergegen hat der Beklagte Verfassungsbeschwerden erhoben und deswegen die Aussetzung der Verhandlung im vorliegenden Verfahren angeregt. Der Kläger hat dieser Anregung widersprochen.
16II. Die Verhandlung kann auch gegen den Willen des Klägers jedenfalls bis zum ausgesetzt werden. Die Revision ist nach derzeitigem Stand zwar zulässig und begründet. Der Senat wäre an einer Entscheidung auch nicht durch eine Verpflichtung zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden Gerichtshof) nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gehindert. In entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO ist aber wegen der anhängigen Verfassungsbeschwerden eine Aussetzung der Verhandlung bis zum gerechtfertigt.
171. Die streitgegenständliche Kündigung ist wegen Fehlerhaftigkeit der Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts erstattete die Schuldnerin die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige wegen Verkennung des unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriffs nicht ordnungsgemäß iSd. § 17 Abs. 3 KSchG. Dies hat der Senat in einem Parallelverfahren bereits entschieden und nimmt auf die Begründung dieses Urteils Bezug ( - Rn. 70 ff.). Es wurde eine inhaltlich nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige bei der örtlich unzuständigen Agentur für Arbeit Berlin Nord erstattet. Eine Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit Düsseldorf erfolgte vor Zugang der Kündigung beim Kläger hingegen nicht. Der Vortrag des Beklagten im vorliegenden Verfahren gibt keinen Anlass für eine andere Beurteilung.
18a) Der Senat hat die seitens des Beklagten angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Betriebsbegriff der Richtlinie 98/59/EG (im Folgenden MERL) bereits vollständig berücksichtigt ( - Rn. 32 ff., 54). Soweit der Beklagte im vorliegenden Verfahren zum maßgeblichen Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG bzw. der MERL nur seine abweichende Rechtsansicht wiederholt, welche der Senat bereits im führenden Verfahren gewürdigt hat, besteht kein Anlass zu weitergehenden Ausführungen. Soweit er erstmals unter Berufung auf die Ausführungen des Gerichtshofs in Rn. 54 seiner Entscheidung vom (- C-392/13 - [Rabal Cañas]) geltend macht, die MERL schließe es nicht aus, im nationalen Recht unter bestimmten Voraussetzungen auf das Unternehmen als größere Organisationseinheit abzustellen, hat der deutsche Gesetzgeber von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Dementsprechend hat der Beklagte die Massenentlassung in einer Betriebsstruktur vorgenommen, die allerdings, wie der Senat bereits ausgeführt hat, nicht den Vorgaben der MERL entsprach.
19b) Bezüglich der Zwecksetzung der nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG zu erstattenden Massenentlassungsanzeige und den Rechtsfolgen einer fehlerhaften Anzeige wird ebenfalls auf die Begründung der Leitentscheidung verwiesen ( - Rn. 97 ff.). Die weiteren Argumente des Beklagten verfangen nicht.
20aa) Die Meldepflicht des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB III ersetzt keine ordnungsgemäße Anzeige der geplanten Massenentlassung. Auch verwirklicht die Freistellung der Mehrzahl der Piloten vor den Kündigungen entgegen der Annahme des Beklagten den Schutzzweck der MERL nicht und macht eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers nicht überflüssig (vgl. - Rn. 133).
21bb) Soweit der Beklagte insbesondere durch die Komplexität der Rechtslage, die durch die in den verschiedenen Regelungsbereichen maßgeblichen, teils unionsrechtlich, teils national determinierten unterschiedlichen Betriebsbegriffe vermeintlich entsteht, eine unzulässige Beschränkung der durch Art. 16 GRC geschützten unternehmerischen Freiheit sieht, trifft das jedenfalls in der vorliegenden Fallgestaltung nicht zu.
22(1) Die MERL selbst greift nicht in die freie Entscheidung des Arbeitgebers ein, Massenentlassungen vorzunehmen ( - [AGET Iraklis] Rn. 30 ff.).
23(2) Ein solcher Eingriff kann hier auch nicht aus dem nationalen Recht abgeleitet werden. Der Beklagte verkennt, dass seine Anzeige bereits deshalb unwirksam ist, weil sie fälschlicherweise in der bezogen auf die Personalvertretung tariflich begründeten Betriebsstruktur erfolgt ist, die mit dem vom Gerichtshof zur MERL entwickelten Betriebsbegriff offenkundig nicht in Einklang stand (vgl. bereits - Rn. 114). Die angeführte Komplexität resultiert hier nicht aus gesetzlichen Vorgaben, sondern aus dem Nebeneinander von gesetzlichen und tariflichen Regelungen. Letztere sind jedoch gerade das Resultat der von der Schuldnerin in Form eines Tarifabschlusses in Anspruch genommenen unternehmerischen Freiheit. Darüber hinaus wäre es der Schuldnerin unbenommen geblieben, das Risiko einer Unwirksamkeit der Kündigung wegen Erstattung der Anzeige bei einer örtlich unzuständigen Arbeitsagentur durch eine Sammelanzeige bzw. eine Anzeige bei sämtlichen in Frage kommenden Agenturen für Arbeit wesentlich zu vermindern.
24(3) Darum kommt es auf die Ansicht des Beklagten, die sozioökonomischen Zielsetzungen der Anzeigepflicht hätten kein hinreichendes Gewicht, um eine Beschränkung des Kündigungsrechts zu rechtfertigen, nicht an. Er räumt selbst ein, dass ein solcher Eingriff vor allem dann vorliegen könne, wenn „alle materiell und verfahrensmäßig dem Kündigungsschutz dienenden Vorgaben beachtet“ worden seien. Genau daran fehlt es vorliegend jedoch.
25(4) Es kann folglich dahinstehen, ob und inwieweit der Anwendungsbereich des Art. 16 GRC in teilharmonisierten Regelungsbereichen wie denen der MERL überhaupt eröffnet ist (dazu - [Siragusa] Rn. 26; EuArbRK/Schubert 3. Aufl. GRC Art. 16 Rn. 29).
26c) Der Betriebsbegriff wird für den gesamten Bereich des Massenentlassungsrechts unionsrechtlich bestimmt. Der Beklagte kann daher auch bei der Frage, wo die Anzeige zu erstatten ist, keinen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen. Diesbezüglich wird auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom (- 6 AZR 235/19 - Rn. 147 ff.) verwiesen.
272. Zu einer Vorlage an den Gerichtshof besteht entgegen der Auffassung des Beklagten keine Verpflichtung.
28a) Ein einzelstaatliches Gericht ist, soweit gegen seine Entscheidung kein Rechtsmittel gegeben ist, grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage nach der Auslegung des AEU-Vertrags stellt. Dies ist ua. dann nicht der Fall, wenn das Gericht feststellt, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (vgl. - [Kommission/Frankreich (Steuervorabzug für ausgeschüttete Dividenden)] Rn. 108 ff. mwN) und die Rechtslage damit in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel lässt („acte éclairé“, vgl. - Rn. 29; - Rn. 88, BAGE 167, 53). Hierfür ist eine vollkommene Identität der strittigen Fragen der jeweiligen Verfahren nicht erforderlich (vgl. 283/81 - [Cilfit] Rn. 14).
29b) Hier besteht keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.
30aa) Der Senat hat eine solche bereits geprüft und verneint ( - Rn. 115). Auch der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat bezogen auf eine Kündigung im selben Insolvenzverfahren bzgl. des Betriebsbegriffs des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG bzw. der MERL keinen Klärungsbedarf durch den Gerichtshof gesehen, sondern sich insoweit der Rechtsprechung des Senats angeschlossen ( - Rn. 169 ff.).
31bb) Die im vorliegenden Verfahren seitens des Beklagten schriftsätzlich oder in der Verhandlung vor dem Senat formulierten Fragen müssen dem Gerichtshof nicht gestellt werden. Sie sind entweder nicht entscheidungserheblich oder durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ausreichend geklärt. Der Beklagte hält dem Senat im Ergebnis lediglich eine fehlerhafte Subsumtion unter die Rechtsprechung des Gerichtshofs vor, die jedoch allein Aufgabe der nationalen Gerichte ist und keine Vorlagepflicht auslösen kann (vgl. - [Lyttle ua.] Rn. 52; - C-80/14 - [USDAW und Wilson] Rn. 70; EuArbRK/Höpfner 3. Aufl. AEUV Art. 267 Rn. 46; ErfK/Wißmann/Schlachter 20. Aufl. AEUV Art. 267 Rn. 6).
32cc) Soweit der Beklagte auf die unterschiedliche Beurteilung der streitgegenständlichen Massenentlassung innerhalb der Tatsacheninstanzen der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit hinweist, ist dies unbeachtlich. Das bloße Vorliegen sich widersprechender Entscheidungen anderer einzelstaatlicher Gerichte ist kein ausschlaggebendes Kriterium für das Bestehen der in Art. 267 Abs. 3 AEUV genannten Pflicht, denn maßgeblich ist hierbei die Gefahr von Divergenzen in der Rechtsprechung auf Unionsebene (vgl. - [Ferreira da Silva e Brito ua.] Rn. 39 ff.; Hering EuR 2020, 112, 121). Bezogen auf die deutsche Gerichtsbarkeit kann es bei der Rechtsanwendung schon wegen der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) und der daraus folgenden „konstitutionellen Uneinheitlichkeit der Rechtspflege“ ( ua. - zu III der Gründe, BVerfGE 78, 123) auch in gleichgelagerten Fällen zu abweichenden Entscheidungen kommen.
333. Trotz der damit grundsätzlich bestehenden Entscheidungsreife ist die Verhandlung aber jedenfalls bis zum auszusetzen.
34a) Eine Befugnis zur Aussetzung ergibt sich allerdings nicht direkt aus § 148 Abs. 1 ZPO als allein in Betracht kommender Verfahrensregelung.
35aa) Nach § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit oder dem Verwaltungsverfahren zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus. Vorgreiflichkeit ist insbesondere gegeben, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für das auszusetzende Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs- bzw. Interventionswirkung erzeugt. Der Umstand, dass in dem anderen Verfahren über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung nicht. Anderenfalls würde das aus dem Justizgewährleistungsanspruch folgende grundsätzliche Recht der Prozessparteien auf Entscheidung ihres Rechtsstreits in seinem Kern beeinträchtigt. Eine Aussetzung allein aus Zweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor ( - Rn. 7 mwN).
36bb) Eine Vorgreiflichkeit in diesem Sinne besteht hier nicht. Bei den Verfahren, deren Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, handelt es sich um unabhängige Rechtsstreitigkeiten. Es besteht lediglich eine Parallelität bzgl. der zu entscheidenden Rechtsfragen.
37b) Eine Aussetzung kann aber in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO erfolgen.
38aa) § 148 Abs. 1 ZPO ist über seinen Wortlaut hinaus auf vergleichbare Fallgestaltungen entsprechend anwendbar ( - Rn. 9; GK-ArbGG/Schütz Stand September 2017 § 55 Rn. 50). Nach ständiger Rechtsprechung ist in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO eine Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vorzunehmen (vgl. (A) - Rn. 114, BAGE 165, 233; - 4 AZR 61/14 (A) - BAGE 152, 12; - 1 ABR 62/12 (A) - BAGE 151, 131; - 5 AZR 962/13 (A) - BAGE 151, 75). Die Möglichkeit der Aussetzung wird auch bejaht, wenn die Vorlage an den Gerichtshof in einem anderen Rechtsstreit erfolgt ist ( (A) - Rn. 7 ff., BAGE 134, 307; -). Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass eine Aussetzung auch möglich ist, wenn bezogen auf die streitentscheidende Norm ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist (vgl. hierzu - zu II 3 der Gründe; - Rn. 13; - IV ZR 150/12 - Rn. 4; - X ZB 26/04 - zu II 2 b bb der Gründe, BGHZ 162, 373; - VIII ZR 323/99 - zu II 1 der Gründe mwN). Die entsprechende Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO ist bei einer Vorlage an den Gerichtshof durch eine gleichartige Interessenlage gerechtfertigt. Die Vorschrift will nach einhelliger Auffassung eine doppelte Prüfung derselben Frage in mehreren Verfahren verhindern. Das dient der Prozesswirtschaftlichkeit und der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen ( (A) - Rn. 9, aaO).
39bb) An dieser Rechtsprechung ist auch nach der mit Wirkung zum erfolgten Einfügung des § 148 Abs. 2 ZPO festzuhalten. Diese Gesetzesänderung schließt entgegen der Ansicht des Klägers eine entsprechende Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nicht aus.
40(1) § 148 Abs. 2 ZPO bezieht sich nur auf Musterfeststellungsverfahren und hat damit einen anderen Regelungsbereich als § 148 Abs. 1 ZPO. Mit § 148 Abs. 2 ZPO wurde lediglich eine zusätzliche Aussetzungsmöglichkeit geschaffen. Dies zeigt schon die Verwendung der Konjunktion „ferner“ (Nordholtz/Wiebking GWR 2019, 251). Die damit zum Ausdruck gebrachte Eigenständigkeit entspricht der gesetzgeberischen Zielsetzung. § 148 Abs. 2 ZPO trägt dem Umstand Rechnung, dass Unternehmer ihre Ansprüche nicht in das Klageregister eines Musterfeststellungsverfahrens eintragen lassen können. Um ihnen zumindest die Möglichkeit zu eröffnen, von dem Ausgang eines Musterfeststellungsverfahrens zu profitieren, sollen sie durch § 148 Abs. 2 ZPO die Möglichkeit erhalten, in einem Individualprozess einen Aussetzungsantrag zu stellen (vgl. BT-Drs. 19/2741 S. 24). Diese Zielsetzung weist keinen Bezug zu § 148 Abs. 1 ZPO auf.
41(2) Die Frage, ob die bisherige Rechtsprechung zur Durchführung von „Pilotverfahren“ außerhalb des Anwendungsbereichs von § 148 ZPO (vgl. hierzu - Rn. 33, BGHZ 204, 184) nach Einfügung des § 148 Abs. 2 ZPO noch fortzuführen ist, bedarf hier keiner Entscheidung (ablehnend Zöller/Greger ZPO 33. Aufl. § 148 Rn. 11; vgl. auch - zu II 2 d der Gründe).
42cc) Demnach kommt auch bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in einem Parallelverfahren eine Aussetzung der Verhandlung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO in Betracht.
43(1) In dieser prozessualen Konstellation werden wie bei einer Vorlage an den Gerichtshof oder einem Normenkontrollverfahren streitentscheidende Rechtsfragen durch ein höherrangiges Gericht geklärt. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass Vorlagen an den Gerichtshof und Normenkontrollverfahren durch ein Fachgericht eingeleitet werden. Demgegenüber wird die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als außerordentlicher Rechtsbehelf durch die unterlegene Partei eingelegt. Schon deshalb kommt eine gleichsam automatische Aussetzung der Verhandlung in Parallelverfahren nicht in Betracht. Anderenfalls könnte die unterlegene Partei durch die bloße Einlegung der Verfassungsbeschwerde in einem durch die Fachgerichtsbarkeit bereits letztinstanzlich entschiedenen Verfahren die Aussetzung in zahlreichen Parallelverfahren herbeiführen. Eine solche Wirkung kann der Verfassungsbeschwerde, die die Rechtskraft des angegriffenen Urteils nicht hemmt ( - zu B der Gründe, BVerfGE 93, 381; Walter in Maunz/Dürig GG Stand August 2018 Art. 93 Rn. 332), nicht beigemessen werden (vgl. auch zu Verfassungsbeschwerden gegen Zwischenentscheidungen - Rn. 14).
44(2) Andererseits kann bei parallel gelagerten Fällen eine einzelne Verfassungsbeschwerde ausreichen, um eine umfassende Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Das ist der Fall, wenn weitere zu erwartende Verfassungsbeschwerden nicht zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen würden (vgl. zum Vorlageverfahren (A) - Rn. 10, BAGE 134, 307). Zahlreiche weitere Verfassungsbeschwerden in Parallelverfahren würden im Gegenteil nur zu einer unnötigen Belastung des Bundesverfassungsgerichts führen und könnten im Extremfall die Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde, das auch dem Ziel dient, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden ( - Rn. 35, BVerfGE 126, 1), gefährden (zum Gedanken der Schonung der Ressourcen des höherrangigen Gerichts vgl. - Rn. 9).
45(3) In diesem Spannungsfeld ist im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist bei der nach § 148 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Ermessenausübung anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. - Rn. 5). Zur Vermeidung einer überlangen Verfahrensdauer bedarf es einer Einschätzung der Gesamtdauer des Verfahrens (vgl. - Rn. 20; - 1 BvR 314/11 - Rn. 7; - 1 BvR 1707/08 - Rn. 20). Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist stets im Lichte der aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, zu beurteilen ( - Rn. 27 mwN). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt dabei allerdings ebenso wenig wie das Bundesverfassungsgericht feste Fristen vor, sondern stellt auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls ab ( - Rn. 6).
46dd) Ausgehend von diesen Grundsätzen erscheint hier eine Aussetzung der Verhandlung bis zum angemessen.
47(1) Wird § 148 Abs. 1 ZPO entsprechend angewendet, kommt auch eine befristete Aussetzung der Verhandlung in Betracht (vgl. - Rn. 23). Die Ermessensausübung bezieht sich nicht nur auf die Aussetzung als solche, sondern auch auf ihre Dauer. Dies ergibt sich schon aus § 150 ZPO, wonach das Gericht die Anordnung einer Aussetzung jederzeit wieder aufheben kann. Erst recht kann es die Aussetzung von vornherein nur auf eine begrenzte Dauer festsetzen, wenn dies der prozessualen Situation entspricht.
48(2) Hier ist eine Aussetzung der Verhandlung bis zum angebracht. Zur Vermeidung der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen ist es angesichts der identischen Rechtsfragen für beide Parteien sinnvoll, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die anhängigen Verfassungsbeschwerden abzuwarten. Nach weiteren Entscheidungen des Senats zu erwartende Verfassungsbeschwerden würden nicht zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen. Eine Aussetzung der Verhandlung ohne zeitlichen Rahmen wäre mit dem arbeitsgerichtlichen Beschleunigungsgrundsatz jedoch schwerlich zu vereinbaren. Der Senat hält eine Aussetzung der Verhandlung bis zum für angemessen. Es darf davon ausgegangen werden, dass das Bundesverfassungsgericht bis dahin über die Annahme der Verfassungsbeschwerden entschieden haben wird (§ 93a BVerfGG). Dieser befristeten Aussetzung stehen gewichtige Interessen des Klägers nicht entgegen. Eine Weiterbeschäftigung als Pilot kommt bei dem Beklagten wegen der Einstellung des Flugbetriebs ohnehin nicht in Betracht, etwaige Annahmeverzugsansprüche wären wegen der Masseunzulänglichkeit des Insolvenzverfahrens schwerlich in nennenswerter Höhe zu realisieren. Zudem haben die Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der Verhandlung vor dem Senat erklärt, dass gegenüber dem vormaligen Cockpitpersonal der Schuldnerin zwischenzeitlich Folgekündigungen erklärt wurden.
49c) Das erforderliche rechtliche Gehör ist den Parteien mit Schreiben vom und in der mündlichen Verhandlung gewährt worden.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2020:100920.B.6AZR136.19A.0
Fundstelle(n):
BB 2021 S. 115 Nr. 2
NJW 2021 S. 10 Nr. 3
NJW 2021 S. 339 Nr. 5
VAAAH-66948