BSG Beschluss v. - B 12 R 12/19 B

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Wirksamkeit einer Einverständniserklärung im Sinne des § 124 Abs 2 SGG - Erfordernis der Zustimmung aller Prozessbeteiligten - Zurückverweisung)

Gesetze: § 62 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 11 R 1415/15 Urteilvorgehend Landessozialgericht Hamburg Az: L 3 R 58/17 Urteil

Gründe

1I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten über den sozialversicherungsrechtlichen Status der Klägerin in ihrer Tätigkeit für die Beschwerdeführerin.

2Die zu 1. beigeladene GmbH (Beschwerdeführerin) ist ein zertifizierter Bildungsträger nach dem SGB III und führt Maßnahmen zur Reintegration und Vermittlung von Erwachsenen auf den Arbeitsmarkt im Auftrag der zu 4. beigeladenen Bundesagentur für Arbeit (BA) durch. Die Klägerin übernahm zwischen 2009 und 2012 wochenweise auf der Grundlage jeweils gesonderter "Honorarverträge" Lehrtätigkeiten und Lernbegleitung für die Beschwerdeführerin. Auf den Statusfeststellungsantrag der Klägerin stellte die beklagte Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund fest, dass die Tätigkeit keine abhängige Beschäftigung sei und eine Versicherungspflicht in der Kranken- (GKV), Pflege- (sPV) und Rentenversicherung (GRV) sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung nicht bestehe (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Die dagegen gerichtete Klage ist erfolglos geblieben (). Das LSG Hamburg hat die mündliche Verhandlung am nach Erklärung des Einverständnisses zur Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung durch Klägerin, Beklagte und Beschwerdeführerin wegen weiteren Sachaufklärungsbedarfs vertagt. Die Beigeladenen zu 2. bis 5. haben mit Schreiben vom bzw ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt. Klägerin und Beschwerdeführerin haben mit Schreiben vom und sowie weiter vorgetragen und Lehrpläne sowie weitere Unterlagen vorgelegt. Die Beschwerdeführerin hat sich eingangs des Schriftsatzes vom , die Klägerin und die Beklagte haben sich mit Schreiben vom und mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Das LSG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass die Klägerin in ihrer für die Beschwerdeführerin ausgeübten Tätigkeit der Versicherungspflicht in allen Zweigen der Sozialversicherung unterlag (Urteil des LSG ohne mündliche Verhandlung vom ).

3Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Beigeladene zu 1. gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.

4II. 1. Die Beschwerde der Beigeladenen zu 1. gegen die Nichtzulassung der Revision in dem ist zulässig. Insbesondere bezeichnet sie die Tatsachen, aus denen sich der geltend gemachte Verfahrensmangel (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt.

5Weitergehender Ausführungen zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler bedarf es nicht, wenn - wie hier - eine Beschwerdeführerin behauptet, um ihr Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl - juris RdNr 8 mwN; - juris RdNr 3; - juris RdNr 8).

62. Die Beschwerde ist begründet. Das LSG hat das Recht der Beschwerdeführerin auf eine mündliche Verhandlung und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

7a) Allein mit der mündlichen Verhandlung vom ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör nicht erfüllt gewesen. Ein Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten in einer mündlichen Verhandlung äußern konnten, § 128 Abs 2, § 124 Abs 1 SGG (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 124 RdNr 2). Eine schriftliche Anhörung ist grundsätzlich auch dann nicht ausreichend, wenn bereits ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden hat (vgl Bergner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 124 SGG RdNr 41). Wenn ein erster Termin zur mündlichen Verhandlung nicht alle Entscheidungsgrundlagen zum Gegenstand hat, muss das Gericht ggf mehrere Termine zur mündlichen Verhandlung durchführen. Gegenüber der Vorschrift, das gerichtliche Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abzuschließen (§ 106 Abs 2 SGG), hat die Gewährung rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen Vorrang (Bergner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 124 SGG RdNr 42). Der Termin zur mündlichen Verhandlung am hat nicht alle Entscheidungsgrundlagen zum Gegenstand gehabt. Zum Ergebnis der nachfolgenden Beweisaufnahme, insbesondere zu den von der Klägerin erteilten Auskünften und vorgelegten Unterlagen, hat sich die Beschwerdeführerin in diesem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht äußern können.

8b) Die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Urteil ohne weitere mündliche Verhandlung haben nicht vorgelegen. Nach § 124 Abs 2 SGG kann das Gericht mit Einverständnis aller Beteiligten iS des § 69 SGG, also Klägerin, Beklagte und alle Beigeladenen (vgl - SozR 1500 § 62 Nr 6), ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Klägerin und Beklagte haben jedenfalls mit Schreiben vom und in Kenntnis des weiteren Vortrags der Beschwerdeführerin bzw der Klägerin wirksam ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die (erneute) Einverständniserklärung der Beschwerdeführerin im Schreiben vom trotz gleichzeitigen Beweisvorschlags und Verbindung der Erklärung mit der Erwartung, das LSG werde ihrer Argumentation folgen, hinreichend klar, eindeutig und vorbehaltlos (vgl zu diesem Erfordernis - juris RdNr 17 mwN; - juris RdNr 5) gewesen ist, um eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zu ermöglichen.

9Jedenfalls fehlt es an wirksamen Einverständniserklärungen der Beigeladenen zu 2. bis 5. Sie haben zwar mit Schreiben vom 10. bzw ihr Einverständnis zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt. Diese Erklärungen haben ihre Wirksamkeit jedoch durch eine wesentliche Änderung der Prozesssituation verloren. Eine Einverständniserklärung iS des § 124 Abs 2 SGG verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich ändert. Das ist zB der Fall, wenn Zeugen vernommen, Beteiligte angehört, Auskünfte eingeholt oder Akten beigezogen werden. Dasselbe wird für den Fall angenommen, dass ein Schriftsatz des Rechtsmittelgegners mit erheblichem neuen Vorbringen oder neuen Beweismitteln oder Anträgen eingereicht wird (zum Ganzen - juris RdNr 18 mwN; - juris RdNr 6). So liegt es hier. Durch das erst am an die übrigen Beteiligten versandte Schreiben der Klägerin vom , die Schriftsätze der Beschwerdeführerin vom und sowie die jeweiligen Anlagen sind erheblicher weiterer Sachvortrag der als Gegner im Prozess auftretenden Beteiligten und neue Beweismittel in den Prozess eingeführt worden, die eine Veränderung der Prozesssituation bewirkt haben. Die Beigeladenen zu 2. bis 5. haben sich danach nicht erneut mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

10c) Das fehlende Einverständnis der Beigeladenen zu 2. bis 5. verletzt auch die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf rechtliches Gehör in einer mündliche Verhandlung. In der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass es nicht darauf ankommt, ob es gerade - auch - an der Zustimmung des Rechtsmittelführers oder - nur - an der eines anderen Beteiligten fehlt. Denn für das Verfahren nach § 124 Abs 2 SGG ist die Zustimmung aller Prozessbeteiligten erforderlich. Die Vorschrift dient aus rechtsstaatlichen Gründen dem Schutz der Verfahrensrechte sämtlicher Beteiligten ( - SozR 1500 § 62 Nr 6). Der Beteiligte, der sein Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt hat, kann damit rechnen und darf darauf vertrauen, dass ein Urteil nur aufgrund mündlicher Verhandlung erlassen wird, wenn nicht alle anderen Beteiligten ebenfalls zugestimmt haben ( - juris RdNr 8; Bergner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl 2017, § 124 RdNr 69; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 124 RdNr 4a).

113. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache - unabhängig von der inhaltlichen Richtigkeit der mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung - zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

124. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:120520BB12R1219B0

Fundstelle(n):
KAAAH-57845