Sexueller Übergriff gegenüber einem Jugendlichen: Anforderungen an eine "Zwangslage"
Gesetze: § 182 Abs 1 Nr 1 StGB, § 182 Abs 3 Nr 1 StGB
Instanzenzug: LG Magdeburg Az: 22 KLs 15/18
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Übergriffs in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Auf die erhobenen Verfahrensrügen kommt es damit nicht mehr an.
21. Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte an zwei Tagen im Zeitraum zwischen dem und dem sexuelle Handlungen an dem am geborenen geistig behinderten Nebenkläger vor. Dieser war in seinem lokalen Umfeld als leidenschaftlicher Sammler von Pfandflaschen und Schrott bekannt. Er fuhr „seit seinem 14. Lebensjahr“ allein mit seinem Fahrrad und einem Fahrradanhänger durch die Straßen. Teilweise sprach er Personen auf Flaschen und Schrott an, teilweise wurden ihm die Sachen angeboten. Das aus der Abgabe der Flaschen und des Schrotts erlöste Geld nutzte er zur Aufbesserung seines Taschengelds.
3Der Angeklagte wusste von der Intelligenzminderung des Nebenklägers; ihm war auch dessen „Sammelleidenschaft“ bekannt. Er sprach den Jungen auf der Straße an, ob er Flaschen wolle, die er zu Hause habe. Der arglose Nebenkläger folgte ihm in seine Wohnung. Der Angeklagte, der von Anfang an vorhatte, sich die Unbedarftheit des Jungen zunutze zu machen und sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen, forderte ihn dort auf, sich auszuziehen. Das tat der Nebenkläger. Der Angeklagte fasste ihm nun gegen seinen Willen in den Intimbereich und manipulierte an seinem Penis. Dann führte er an ihm den Oralverkehr durch. Dabei hielt er es zumindest für möglich, dass der Nebenkläger mit sexuellen Handlungen nicht einverstanden war und dessen Überraschung den Sexualkontakt ermöglichte oder zumindest erleichterte (Fall 1).
4An einem anderen Tag bot der Angeklagte dem Nebenkläger ein weiteres Mal an, er könne sich Pfandflaschen aus seiner Wohnung abholen. Der Junge, „der die Pfandflaschen um jeden Preis haben wollte und sich nichts dabei dachte,“ folgte dem Angeklagten in die Wohnung. Nachdem er sich auf Anweisung des Angeklagten ausgezogen hatte oder von diesem ausgezogen worden war, verlangte der Angeklagte von ihm, sich auf das Bett zu legen. Der Geschädigte, der nicht wusste, wie er reagieren sollte, kam dem nach. Der Angeklagte versuchte, seinen Penis in den After des Nebenklägers einzuführen. Dies gelang ihm nicht, weil der Junge seine „Pobacken“ zusammenkniff. Auch ein Versuch, den Analverkehr nunmehr unter Verwendung von Creme durchzuführen, scheiterte am Widerstand des Nebenklägers (Fall 2).
52. Der Schuldspruch wegen sexuellen Übergriffs hält in beiden Fällen sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Der Generalbundesanwalt weist zutreffend darauf hin, dass die vom Landgericht angewendeten Vorschriften des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB (Ausnutzen eines Überraschungsmoments) und des § 177 Abs. 1 StGB (Vornahme sexueller Handlungen gegen den erkennbaren Willen des Opfers) erst am in Kraft getreten sind (50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom , BGBl. I S. 2460). Da das Landgericht nicht auszuschließen vermochte, dass die Taten vor Inkrafttreten der genannten Regelungen begangen wurden (Beginn des Tatzeitraums: ), verletzt die gleichwohl erfolgte Verurteilung das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 1, 2 Abs. 1 StGB).
63. Die Feststellungen legen nahe, dass sich der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen strafbar gemacht hat, indem er bewusst eine Zwangslage des Nebenklägers (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder auch dessen ihm gegenüber fehlende Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung (§ 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB) zu sexuellen Handlungen ausnutzte.
7a) Die nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB erforderliche „Zwangslage” setzt eine ernste persönliche oder wirtschaftliche Bedrängnis des Opfers voraus; sie ist anzunehmen bei bedrängenden Umständen von Gewicht, denen in spezifischer Weise die Gefahr anhaftet, sexuellen Übergriffen gegenüber einem Jugendlichen in einer Weise Vorschub zu leisten, dass sich der Jugendliche ihnen nicht ohne weiteres entziehen kann (vgl. , BGHSt 42, 399, 400 f. mwN; Beschluss vom - 1 StR 11/19, Rn. 9). Erforderlich sind gravierende, das Maß des für Personen im Alter und in der Situation des Jugendlichen Üblichen deutlich übersteigende Gegebenheiten, die geeignet sind, dessen Entscheidungsmöglichkeiten gerade über sein sexuelles Verhalten einzuschränken (vgl. , NStZ-RR 2008, 238).
8Der Gesetzgeber hatte als typische Fälle der Zwangslage die „Notsituation“ drogenabhängiger oder von zu Hause fortgelaufener Jugendlicher im Blick (vgl. BT-Drucks. 12/4584 S. 8). Dem kann die Situation eines geistig behinderten (vgl. dazu LK-StGB/Hörnle, 12. Aufl., § 182 Rn. 19), die Straßen zur Aufbesserung seines Taschengelds ohne Aufsicht „leidenschaftlich“ nach Schrott und Altglas durchstreifenden und dabei in eine fremde Wohnung gelockten Minderjährigen entsprechen. Hat der Angeklagte den Nebenkläger in der Absicht in seine Wohnung gelockt, „sich die Unbedarftheit des Jungen zunutze zu machen und sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen,“ so spricht dies für eine bewusste Ausnutzung einer Zwangslage (vgl. Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 182 Rn. 5).
9b) Denkbar ist ferner eine Strafbarkeit nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB (zum Konkurrenzverhältnis in Bezug auf § 182 Abs. 1 StGB vgl. SSW-StGB/Wolters, 4. Aufl., § 182 Rn. 24 mwN). Insoweit hat der Generalbundesanwalt das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung (§ 182 Abs. 5 StGB) bejaht.
104. Der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden. Denn er vermag nicht auszuschließen, dass sich der die Taten pauschal bestreitende Angeklagte gegen den anders gearteten Tatvorwurf bei Erteilung eines entsprechenden rechtlichen Hinweises in tatsächlicher Hinsicht wirksamer als geschehen verteidigt hätte (§ 265 StPO).
11Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Insoweit ist auf Folgendes hinzuweisen:
12a) Das angefochtene Urteil geht im Ergebnis zutreffend davon aus, dass auf der Grundlage der dortigen Feststellungen andere Tatbestände des § 177 StGB nicht in Betracht kommen. Gleiches gälte für die Strafvorschriften des § 179 StGB in der bis zum geltenden Fassung (vgl. im Einzelnen die Antragsschrift des Generalbundesanwalts).
13b) Der Senat versteht das angefochtene Urteil trotz irreführender Formulierungen (vgl. UA S. 37, 21) dahin, dass das Landgericht als Beginn des Tatzeitraums nicht den Anfang, sondern die Vollendung des 14. Lebensjahres des Geschädigten (also dessen 14. Geburtstag) bestimmt hat. Das neue Tatgericht wird sich hierzu eindeutig zu äußern haben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:160620B6STR82.20.0
Fundstelle(n):
ZAAAH-57678