Notwendige Verbindung von Verfahren bei doppelter Rechtshängigkeit - Rechtsfolge des Verfahrensfehlers bei späterer Nichtzulassungsbeschwerde
Leitsatz
1. NV: Das Prozesshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit ist jedenfalls dann vom FG durch Verbindung der beiden Verfahren zu beseitigen, wenn beide Klagen bei ein und demselben Senat des FG eingereicht wurden.
2. NV: Der BFH kann eine vom FG verfahrensfehlerhaft unterlassene Verbindung auch für bei ihm anhängige Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren mit heilender Wirkung nachholen.
3. NV: Eine Zurückverweisung des verfahrensfehlerhaft durch Prozessurteil abgeschlossenen Verfahrens an das FG ist nicht erforderlich, wenn das parallel ergangene Sachurteil durch Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig wird.
Gesetze: FGO § 73; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; FGO § 116 Abs. 5 Satz 3; FGO § 126 Abs. 4;
Instanzenzug: , 7 K 2664/18
Gründe
1 1. Die Verbindung der beiden Beschwerdeverfahren beruht auf § 73 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 121 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
2 2. Die Beschwerde XI B 69/19 ist unbegründet. Die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
3 a) Das Finanzgericht (FG) hat nicht gegen § 96 FGO verstoßen.
4 aa) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht als „Gesamtergebnis des Verfahrens“ insbesondere den Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen der Prozessbeteiligten vollständig zur Kenntnis zu nehmen und bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom - IX B 180/10, BFH/NV 2011, 1375; vom - XI B 9/13, BFH/NV 2014, 373, Rz 6). Ein Verstoß dagegen ist ein Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (vgl. , BFH/NV 2019, 1351, Rz 10 f.).
5 bb) Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt aber nicht bereits deshalb vor, weil das FG —wie im Streitfall— den ihm vorliegenden Akteninhalt und das Vorbringen der Beteiligten nicht entsprechend den klägerischen Vorstellungen gewürdigt hat oder die Würdigung fehlerhaft erscheint; insoweit könnte es sich um einen materiell-rechtlichen Fehler handeln, nicht indes um einen Verfahrensverstoß (vgl. allgemein BFH-Beschlüsse vom - III B 156/13, BFH/NV 2014, 1208, Rz 25; vom - XI B 45/13, BFH/NV 2014, 1584, Rz 47). Selbst Verstöße gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze sind in der Regel materiell-rechtliche Fehler und können nicht als Verfahrensmangel gerügt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom - X B 1/12, BFH/NV 2012, 1616, Rz 9; vom - XI B 53/15, BFH/NV 2016, 954, Rz 36).
6 cc) Ausgehend davon liegt kein Verfahrensfehler des FG vor.
7 (1) Das FG hat, entgegen der Behauptung der Klägerin, berücksichtigt, dass der Prüfungstermin bereits am stattgefunden hat. Das FG hat diesen Umstand auf S. 6 des Urteils erwähnt. Es ist jedoch auf S. 9 des Urteils trotzdem davon ausgegangen, dass das Finanzamt . (FA G) am keine Steuerbescheide erlassen habe, weil es auf den Schriftstücken die Bezeichnung „Steuerbescheid“ durchgestrichen und den Zusatz „Berechnung im Insolvenzverfahren“ angebracht habe. Außerdem hat das FG nach den Feststellungen auf S. 9 des Urteils die Rechtsbehelfsbelehrung durchgestrichen und in den Erläuterungen ausgeführt, dass es sich nicht um eine Steuerfestsetzung, sondern um eine Steuerberechnung handele, die Grundlage für eine Anmeldung zur Insolvenztabelle sei. Dass der Prüfungstermin bereits am stattgefunden hat, ändert an den vom FG festgestellten und für das Nichtvorliegen eines Steuerbescheids von ihm als maßgeblich angesehenen Änderungen an den Schriftstücken nichts.
8 (2) Soweit die Klägerin rügt, das FG habe nicht berücksichtigt, dass das FA G am Bescheide für die Jahre 2000 bis 2010 erlassen habe, ist vorliegend Streitjahr das Jahr 2011. Selbst wenn das FA G Bescheide für die Jahre 2000 bis 2010 erlassen haben sollte, ändert dies an den vom FG als maßgeblich angesehenen Änderungen an den Schriftstücken für das Jahr 2011 nichts. Außerdem ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom , S. 2, dass das FG den Umstand berücksichtigt hat.
9 (3) Die Rüge der Klägerin, das FG habe die Verlustfeststellungsbescheide der späteren Jahre nicht berücksichtigt, die den Betrag nennen, der aus Sicht der Klägerin im April 2013 für das Streitjahr festgesetzt worden sei, ändert auch dieser Umstand an den vom FG als maßgeblich angesehenen Änderungen an den Schriftstücken nichts. Die Frage, ob im Lichte des § 155 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) vor Erlass des Grundlagenbescheids ein Folgebescheid hätte erlassen werden dürfen, betrifft die Rechtmäßigkeit des Folgebescheids (vgl. Klein/Rüsken, AO, 14. Aufl., § 155 Rz 39 ff.; zur weiter bestehenden Anpassungsverpflichtung s. dort Rz 42). Außerdem ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom , S. 2, dass das FG den Vortrag der Klägerin berücksichtigt hat.
10 (4) Die Hinweise auf weitergehende Ausführungen in den Schriftstücken (S. 4 der Beschwerdebegründung) ändern an den vom FG tatsächlich festgestellten, und für das Nichtvorliegen eines Steuerbescheids als maßgeblich angesehenen Änderungen an den Schriftstücken ebenfalls nichts. Insbesondere ist auch beim Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer zum das Wort „Bescheid“ gestrichen und der Hinweis „Berechnung im Insolvenzverfahren“ angebracht worden.
11 (5) Das FG hat auch nicht übersehen, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) keinen Verböserungshinweis erteilt hat. Vielmehr hat sich das FG mit dieser Frage auf S. 11 des Urteils auseinandergesetzt. Außerdem ergibt sich auch aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom , S. 2, dass das FG den Hinweis der Klägerin berücksichtigt hat.
12 b) Die Rechtssache XI B 69/19 hat auch keine grundsätzliche Bedeutung; denn die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage ist im Streitfall nicht klärbar.
13 aa) Grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO kommt einer Rechtssache zu, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Außerdem muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärbar sein (vgl. BFH-Beschlüsse vom - XI B 89/18, BFH/NV 2019, 945, Rz 16; vom - XI B 29/19, BFH/NV 2019, 1363, Rz 11).
14 bb) Die Klägerin wirft auf S. 5 der Beschwerdebegründung mit Bezug auf angebliche Bescheide vom April 2012 (für die Jahre 2000 bis 2010) und April 2013 (für das Streitjahr 2011) folgende Rechtsfrage auf: „Dürfen Steuerbescheide (Verlustfeststellungsbescheide als Grundlagenbescheide), die Zeiträume vor Insolvenzeröffnung betreffen, nach dem Prüfungstermin und nach Feststellung [zur] Insolvenztabelle . erlassen werden, wenn diese als Grundlagenbescheide für die [Verlustfeststellungsbescheide] nach Insolvenzeröffnung Wirkung erzeugen und damit die Steuer auf die Insolvenzmasse beeinflussen?“
15 cc) Diese Rechtsfrage ist im Streitfall nicht klärbar.
16 (1) Für die Bescheide vom (betreffend 2000 bis 2010) gilt dies schon deshalb, weil diese nicht das Streitjahr betreffen und daher nicht Verfahrensgegenstand sind (s.o. 2.a cc (2)). Dass das FA die Bindungswirkung des § 182 Abs. 1 AO in Bezug auf die Feststellungsbescheide der Vorjahre verletzt haben könnte, wurde mit der Klage nicht geltend gemacht. Die Rechtsschutzfrage der Klägerin betrifft jene Jahre, nicht das Streitjahr.
17 (2) Soweit es um angebliche Bescheide für das Streitjahr vom April 2013 geht, hat das FG verneint, dass es sich dabei um Bescheide handelt. Fragen, die sich nur stellen könnten, wenn man von einem anderen als dem vom FG festgestellten Sachverhalt ausgeht, können im Revisionsverfahren nicht geklärt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom - XI B 37/17, BFH/NV 2017, 1635, Rz 13; in BFH/NV 2019, 945, Rz 18).
18 3. Der von der Klägerin im Verfahren XI B 70/19 gerügte Verfahrensfehler liegt zwar vor; er führt indes nur zu der unter 1. erfolgten Verbindung der Beschwerdeverfahren XI B 69/19 und XI B 70/19. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG kommt im vorliegenden Verfahrensstadium nicht in Betracht; sie wäre im Ergebnis erfolglos.
19 a) Zutreffend weist die Klägerin im Verfahren XI B 70/19 darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des BFH das Prozesshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit jedenfalls dann vom FG durch Verbindung der beiden Sachen zu beseitigen ist, wenn —wie hier— beide Klagen bei ein und demselben Senat des FG eingereicht wurden (vgl. , BFH/NV 2006, 2086; Brandis in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 66 FGO Rz 3). Das FG hätte daher am die Klage 7 K 2664/18 nicht mit der Begründung als unzulässig abweisen dürfen, die erlassenen Steuerbescheide seien gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Kla-geverfahrens 7 K 2998/17 geworden, ohne eine Verbindung der bei ihm anhängigen Verfahren 7 K 2998/17 und 7 K 2664/18 gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO anhand der vom BFH dazu aufgestellten Kriterien zu prüfen.
20 b) Hinsichtlich der Rechtsfolgen eines solchen Verfahrensfehlers sind jedoch verschiedene Fallgruppen zu unterscheiden:
21 aa) Falls der BFH im Beschwerdeverfahren in der Parallelsache das vorinstanzliche Urteil aufhebt und die Sache an das FG zurückverweist, ist dem FG durch Zurückweisung auch der doppelt rechtshängigen Sache Gelegenheit zu geben, die beiden Sachen miteinander zu verbinden und einheitlich zu entscheiden (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2006, 2086, Rz 19).
22 bb) Umgekehrt gilt nach der Rechtsprechung des BFH das Gebot der Verbindung der Verfahren auch für den BFH selbst (vgl. auch , BFH/NV 1997, 523, Rz 1, m.w.N., zur mehrfach eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde). Der BFH kann eine vom FG verfahrensfehlerhaft unterlassene Verbindung für bei ihm anhängige Revisionsverfahren mit heilender Wirkung nachholen (vgl. , BFHE 151, 237, BStBl II 1988, 92, Rz 11; vom - XI R 24-25/14, BFH/NV 2016, 418, Rz 21). Ebenso ist die Verbindung von mehreren Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren durch den BFH möglich (vgl. , XI B 209/07, BFH/NV 2008, 1174, Rz 1).
23 cc) In dieser Situation hat der Senat gemäß dem Tenor Ziffer 1. zur Abmilderung des Verfahrensfehlers im Hinblick auf die Verfahrenskosten die Verfahren miteinander verbunden. Weitergehende Rechtsfolgen sind indes nicht zu ziehen; denn da gemäß den Ausführungen unter 2. die Beschwerde im Verfahren XI B 69/19 unbegründet ist, insbesondere dort —trotz der Rügen der Klägerin— kein zur Zurückverweisung führender Verfahrensfehler des FG vorliegt, wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 3 FGO das Urteil 7 K 2998/17 mit Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig. Eine Zurückverweisung nur der Sache XI B 70/19 würde es bei dieser Verfahrenslage dem FG nicht ermöglichen, den Verfahrensfehler zu heilen, indem es die beiden Sachen verbindet und einheitlich entscheidet. Das FG müsste erneut (und nun zu Recht) die Klage wegen doppelter Rechtshängigkeit als unzulässig abweisen. Würde der Senat die Revision zulassen, müsste er sie wegen der Rechtskraft des Urteils 7 K 2998/17 als unbegründet zurückweisen. Das Urteil im Verfahren 7 K 2664/18 stellte sich —ab dem Zeitpunkt der Zurückweisung der Beschwerde XI B 69/19— aus anderen Gründen als richtig dar (§ 126 Abs. 4 FGO). Dies ist auch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (hier: XI B 70/19) zu berücksichtigen (vgl. allgemein BFH-Beschlüsse vom - X B 72/16, BFH/NV 2017, 765, Rz 10; vom - II B 16/17, BFH/NV 2017, 1611, Rz 3).
24 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
25 5. Die Entscheidung, von der Erhebung von Gerichtskosten für das Verfahren XI B 70/19 abzusehen, beruht auf § 21 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes. Die Kosten des Verfahrens XI B 70/19 wären nicht entstanden, wenn das FG seine Verfahren —wie nach der unter 3. genannten Rechtsprechung erforderlich— verbunden hätte.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2020:B.110220.XIB69.19.0
Fundstelle(n):
YAAAH-51164