Kein Wiederaufgreifen eines vermögensrechtlichen Verfahrens
Gesetze: § 1 Abs 6 VermG, § 1 Abs 8 Buchst a VermG, § 51 Abs 1 Nr 2 VwVfG, § 108 Abs 1 VwGO
Instanzenzug: Az: 2 K 926/17 Urteil
Gründe
1Die Kläger erstreben das Wiederaufgreifen des vermögensrechtlichen Verfahrens zur Restitution eines ehemaligen Rittergutes. Es wurde im April 1945 durch die Rote Armee besetzt und zunächst durch einen sowjetischen Offizier verwaltet. Nach Kriegsende wurde der Eigentümer in die Liste der im Zuge der Bodenreform enteigneten Großgrundbesitzer des Kreises T. eingetragen. Das Gut wurde am teilweise und 1947/48 vollständig den für die Bodenreform zuständigen deutschen Stellen übergeben. Der Antrag auf Rückübertragung wurde mit rechtskräftig bestätigtem Bescheid vom abgelehnt. Mit einem ersten Wiederaufgreifensantrag legten die Rechtsnachfolger des Eigentümers eine Zeitzeugenerklärung vor und machten geltend, die Rote Armee habe das Gut am faktisch enteignet. Der Antrag wurde abgelehnt und die Klage dagegen rechtskräftig abgewiesen ( -; 8 B 13.14 -; -). Mit dem vorliegenden - zweiten - Wiederaufgreifensantrag trugen die Kläger vor, acht nachgereichte Unterlagen belegten eine faktische Enteignung am , die nach § 1 Abs. 6 VermG wiedergutzumachen sei. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt. Das Verwaltungsgericht hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
2Die Beschwerde der Kläger, die sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO beruft und Verfahrensmängel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rügt, hat keinen Erfolg.
3Das Verwaltungsgericht hat die Klageabweisung jeweils selbständig tragend auf die Unzulässigkeit des Wiederaufgreifensantrags sowie, hilfsweise, auf dessen Unbegründetheit wegen Unanwendbarkeit des § 1 Abs. 6 VermG gestützt. Daher kann die Revision nur zugelassen werden, wenn jede der beiden tragenden Erwägungen mit wirksamen Rügen angegriffen wird. Das ist nicht geschehen.
41. Die gegen die erste Erwägung erhobenen Verfahrensrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) greifen nicht durch.
5a) Die Rüge der Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör ist teils nicht prozessordnungsgemäß substantiiert (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) und im Übrigen unbegründet.
6Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verpflichten das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch, ihnen zu folgen. Insbesondere schützt das Recht auf rechtliches Gehör nicht davor, dass das Gericht Beteiligtenvorbringen aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt lässt ( - BVerfGE 96, 205 <216>; 7 C 15.09 - juris Rn. 2, je m.w.N.). Daher muss zur Substantiierung einer Gehörsverletzung gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargetan werden, dass nach der Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblicher Vortrag nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen wurde ( 4 C 10.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 267 S. 23). Das ist nicht geschehen, soweit die Beschwerdebegründung auf mehrseitige Wiedergaben angeblich übergangenen Antragsvorbringens verweist. Soweit sie konkrete Verstöße gegen das Recht auf rechtliches Gehör bezeichnet, liegen die gerügten Mängel nicht vor.
7Entgegen der Darstellung der Kläger hat das Verwaltungsgericht weder das Beweisthema des Wiederaufgreifensantrags verdreht, noch aus seiner materiell-rechtlichen Sicht erhebliches tatsächliches oder rechtliches Vorbringen der Kläger übergangen.
8Das angegriffene Urteil geht nicht davon aus, Beweisthema sei die Besetzung des Gutes oder deren Zeitpunkt. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen, die Beweismittel sollten einen Vermögensverlust auf andere Weise im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG und damit den Enteignungscharakter - schon - der Besetzung des Gutes durch die Rote Armee belegen (vgl. Seite 13 des angegriffenen Urteils). Es verneint lediglich die Eignung der Urkunden zu einem solchen Nachweis. Ihnen seien nur Hinweise auf die tatsächliche Situation des Gutes vom Herbst 1945 bis zum Frühjahr 1946 sowie auf Konflikte um den Vollzug des Schenkungsvertrags von 1944 und die Bodenreformzuteilung 1948 zu entnehmen, die keine aussagekräftigen Rückschlüsse auf eine Schädigung vor dem zuließen. Diese Beweiswürdigung wurde ihrerseits nicht mit wirksamen Rügen angegriffen (dazu sogleich unter b).
9Das Verwaltungsgericht hat auch den rechtlichen Vortrag der Kläger zur faktischen Enteignung durch die Rote Armee zur Kenntnis genommen und bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt. Das ergibt sich aus dem Tatbestand des angegriffenen Urteils und aus dessen Ausführungen zum Beweisthema. Die Vorinstanz ist lediglich der Auffassung der Kläger zu den Voraussetzungen einer Enteignung gemäß § 1 Abs. 6 VermG nicht gefolgt. Zu einer näheren Auseinandersetzung damit war sie nach Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO nicht verpflichtet. Insbesondere musste sie nicht auf die Ausführungen der Kläger zum 8 C 14.14 - (BVerwGE 152, 26) eingehen. Nach ihrer materiell-rechtlichen Auffassung war diese Entscheidung, die eine nationalsozialistische Schädigung und keine Besetzung durch alliierte Truppen betraf, hier nicht einschlägig.
10b) Zu Unrecht rügen die Kläger, die vorinstanzliche Würdigung ihres Vorbringens verstoße gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO), insbesondere gegen das Verbot selektiver Beweiswürdigung und das Willkürverbot.
11(Vermeintliche) Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Sie können daher grundsätzlich keinen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO begründen. Eine Ausnahme kommt nur bei Mängeln in Betracht, die allein die Tatsachenfeststellung und nicht auch die Subsumtion unter die materiell-rechtliche Norm betreffen. Zu diesen Mängeln gehören Verstöße gegen das Verbot selektiver Verwertung des Prozessstoffs sowie denkfehlerhafte, aus Gründen der Logik schlechterdings unmögliche oder sonst willkürliche Schlussfolgerungen von Indizien auf Haupttatsachen (stRspr; vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 7 B 13.08 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 54 S. 17, vom - 9 B 34.07 - Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 65 und vom - 8 B 106.09 - [insoweit in Buchholz 428 § 3 VermG Nr. 77 nicht abgedruckt], juris Rn. 31). Solche Mängel zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf.
12aa) Der Vorwurf, die Vorinstanz habe die Schlüssigkeit des Antragsvorbringens nicht verneinen dürfen, ohne die Enteignung des Gutes selbst zu datieren, betrifft keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Er bezieht sich auf die Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, der revisionsrechtlich zum sachlichen Recht zählt. Danach durfte das Verwaltungsgericht zunächst prüfen, ob die vorgelegten Beweismittel geeignet waren, die von den Klägern behauptete faktische Enteignung durch die Rote Armee zu belegen. Da es dies verneinte, hatte es keinen Anlass zu einer eigenen Überprüfung des im bestandskräftigen Bescheid angenommenen Enteignungszeitpunkts.
13Ebenfalls dem materiellen Recht zuzuordnen sind die verwaltungsgerichtlichen Anforderungen an die Erheblichkeit von Tatsachen und an die Voraussetzungen einer faktischen Enteignung im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG. Dies betrifft etwa den Einwand der Kläger, das Verwaltungsgericht habe die mehrjährige Dauer der Besetzung des Gutes sowie den rigorosen Ausschluss jedes Betretens durch den Eigentümer oder deutsche Stellen ausgeblendet und die Beweiskraft der Urkunden zu Unrecht danach beurteilt, ob diese sich - mindestens retrospektiv - zu Tatsachen aus der Zeit vom 23. April bis zum äußerten. Dieser Vorwurf übersieht die materiell-rechtliche Auffassung der Vorinstanz, die deren Beweiswürdigung zugrunde liegt. Ihr zufolge setzte eine faktische Enteignung im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG voraus, dass der Eigentümer sich nicht nur vollständig, sondern endgültig aus seinem Eigentum verdrängt sehen musste. Das ergibt sich aus der zustimmenden Bezugnahme des Urteils auf die rechtskräftig bestätigte Ausgangsentscheidung. Nach dieser Rechtsauffassung konnte von einer faktischen Enteignung nur und erst die Rede sein, wenn die vollständige und endgültige Verdrängung als solche erkennbar war. Dies erklärt die Weigerung der Vorinstanz, aus nach Kriegsende eingetretenen oder erkennbar gewordenen Umständen einen Enteignungscharakter der Besetzung vor Kriegsende zu folgern. Die dem zugrunde liegende materiell-rechtliche Rechtsauffassung kann nicht mit der Verfahrensrüge angegriffen werden.
14bb) Die weiteren Einwände gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts führen ebenfalls nicht auf Verstöße gegen § 108 Abs. 1 VwGO.
15Das Verbot selektiver Verwertung des Prozessstoffs ist nicht verletzt. Das Verwaltungsgericht hat jedes der vorgelegten Beweismittel in seine Entscheidungsfindung einbezogen und gewürdigt. Es hat den Urkunden lediglich nicht den von den Klägern angenommenen Beweiswert zugemessen. Dabei hat es weder gegen die Denkgesetze noch gegen das Willkürverbot verstoßen. Die Denkgesetze sind nicht schon verletzt, wenn die Vorinstanz nach Auffassung des Beschwerdeführers unzutreffende, unwahrscheinliche oder fernliegende Schlüsse gezogen hat. Vielmehr muss es sich um Schlussfolgerungen handeln, die denklogisch schlechthin ausgeschlossen oder sonst willkürlich sind ( 8 B 154.03 - NVwZ 2004, 627). Das ist hier nicht der Fall.
16Die Gesetze der Logik hinderten das Verwaltungsgericht nicht, die Beweiskraft vom Gegenstand der Urkunden und deren unmittelbaren Bezug zu Tatsachen aus der Zeit von der Besetzung des Gutes bis zum Kriegsende abhängig zu machen. Vor dem Hintergrund der materiell-rechtlichen Auffassung der Vorinstanz zu den Anforderungen an eine faktische Enteignung im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG einerseits und an die Eignung von Beweismitteln im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG andererseits waren diese Kriterien nicht sachfremd oder sonst willkürlich gewählt.
17Ohne Verstoß gegen die Denkgesetze hat das Verwaltungsgericht auch das Schreiben vom betreffend den Vollzug des Schenkungsvertrages gewürdigt, in dem der Verfasser mitteilt, der frühere Gutsherr sei "im Mai 1945 nicht mehr Eigentümer" der verschenkten Parzelle gewesen. Die Einschätzung, dieses Schreiben sei ungeeignet, eine Enteignung vor Kriegsende zu belegen, war weder widersprüchlich noch sonst denkgesetzwidrig. Die Regeln der Logik zwangen das Verwaltungsgericht nicht dazu, den Kontext des gescheiterten Schenkungsvollzugs auszublenden, den im Schreiben verwendeten Begriff des Eigentümers nicht rechtlich, sondern faktisch zu verstehen und ihm Bedeutung für das Vorliegen einer Enteignung im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG beizumessen. Ebensowenig musste es die ungenaue Formulierung "im Mai 1945" logisch zwangsläufig nicht nur auf einen Zeitpunkt im Mai, sondern auf jeden Tag dieses Monats und damit auch und gerade auf dessen erste Tage bis zum Kriegsende beziehen. Erst recht musste es die Auseinandersetzungen um die Verzögerung der Herausgabe des Gutes durch die Rote Armee nicht logisch zwingend als Beleg einer dauerhaften Enteignung vor Kriegsende deuten. Denkgesetzlich war es nicht ausgeschlossen, sie als Streit um die Dauer und Reichweite vorübergehender militärischer Besitz- und Nutzungsbefugnisse zu verstehen und erst die Überführung der Gutsflächen in den Bodenfonds als dauerhafte Enteignung zu begreifen. Ebensowenig war es denklogisch unmöglich, den von den Klägern vorgelegten Dokumenten die Eignung zum Beweis einer faktischen Enteignung vor dem abzusprechen, ohne diese zugleich auf einen anderen Zeitpunkt zu datieren.
182. Unabhängig davon kann die Beschwerde mangels durchgreifender Rügen bezüglich der zweiten, alternativ selbständig tragenden Erwägung des Verwaltungsgerichts keinen Erfolg haben. Der Rechtssache kommt die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht zu.
19Die von den Klägern sinngemäß aufgeworfene Frage,
ob § 1 Abs. 6 VermG nur Ansprüche wegen Vermögensverlusten begründet, die auf eine (im Übrigen tatbestandsmäßige) Verfolgung "konkret und ausschließlich durch das NS-Regime" zurückzuführen sind, oder ob er auch Ansprüche wegen Vermögensverlusten aufgrund entsprechender Verfolgung "durch jedwede Staatsgewalt (hier die Sowjetunion)" normiert,
wäre im angestrebten Revisionsverfahren nicht zu klären, weil sie von Tatsachen ausgeht, die das Verwaltungsgericht nicht festgestellt hat.
20Sie unterstellt erstens, dass der Zugriff der Roten Armee bereits einen endgültigen Verlust des Gutes und nicht nur eine Verdrängung des Eigentümers für die Dauer der militärischen Besetzung zur Folge hatte. Dies widerspricht den Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz, die in Übereinstimmung mit der rechtskräftig bestätigten Ausgangsentscheidung davon ausgeht, der Eigentümer habe das Gut erst im Zuge der Bodenreform endgültig verloren.
21Außerdem würde sich die Frage, ob § 1 Abs. 6 VermG auch auf Verfolgungsmaßnahmen der Sowjetunion anzuwenden ist, im angestrebten Revisionsverfahren nur stellen, wenn der Zugriff der Roten Armee - seine enteignende Wirkung unterstellt - auf eine Verfolgung aus einem der in § 1 Abs. 6 VermG aufgezählten Gründe zurückzuführen wäre. Davon könnte gemäß § 137 Abs. 2 VwGO im angestrebten Revisionsverfahren nicht ausgegangen werden, weil das Verwaltungsgericht dazu keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat. Eine Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung kommt nicht in Betracht, wenn die Vorinstanz eine Tatsache nicht festgestellt hat, aus der sich erst die Entscheidungserheblichkeit der Frage im Revisionsverfahren ergeben würde (BVerwG, Beschlüsse vom - 6 B 27.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 35 S. 2 und vom - 8 B 77.09 - juris Rn. 2).
22Auf die weitere sinngemäß gestellte Frage,
ob sich der zeitliche Geltungsbereich des § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG auf sowjetische Eigentumszugriffe vor dem erstreckt,
käme es für die Entscheidung im Revisionsverfahren nur an, wenn ohne die Anwendbarkeit des § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG von einer vermögensrechtlichen Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 6 VermG auszugehen wäre. Wie eben dargelegt, ist dies mangels entsprechender Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz nicht der Fall. Wirksame Verfahrensrügen wurden insoweit nicht erhoben.
23Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 159 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 und Abs. 4 Nr. 3 GKG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:210420B8B62.19.0
Fundstelle(n):
LAAAH-49052