BSG Beschluss v. - B 4 AS 23/20 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Revisionszulassung - Verfahrensmangel - Verletzung rechtlichen Gehörs - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss wegen Unzulässigkeit vor Ablauf der Anhörungsfrist

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 158 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 4 AS 1995/14vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 18 AS 872/19 Beschluss

Gründe

1I. Die Kläger wenden sich gegen die Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.

2Die Kläger haben gegen das klageabweisende und ihnen am zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom beim SG Berufung eingelegt. Das LSG hat den Klägern mit Schreiben vom mitgeteilt, dass die Berufung(en) am eingegangen sei(en). Es hat um Vorlage der Berufungsbegründung innerhalb eines Monats gebeten. Zugleich hat es darauf hingewiesen, dass die Berufung verfristet sein dürfte und Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen gegeben. Es werde erwogen, die Berufung(en) als unzulässig zu verwerfen.

3Mit Beschluss vom hat das LSG die Berufung(en) wegen Verfristung als unzulässig verworfen. Am ging beim LSG die Berufungsbegründung der Kläger ein.

4Mit ihren Nichtzulassungsbeschwerden rügen die Kläger unter Vorlage eines Faxberichtes vom zum einen einen Verstoß gegen § 158 SGG; die Berufung sei bereits am beim SG eingelegt worden. Außerdem rügen die Kläger eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör; das LSG habe durch die Aufforderung zur Berufungsbegründung binnen eines Monats zu verstehen gegeben, dass vor Ablauf dieser Frist keine Entscheidung erfolgen werde. Sie hätten nicht damit rechnen müssen, dass das LSG dennoch nach Ablauf von 20 Tagen eine Entscheidung erlassen würde. Sie hätten ohne die Entscheidung des LSG innerhalb der gesetzten Frist den Faxbericht beim LSG eingereicht und zusätzlich vorsorglich einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt.

5II. Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im sind zulässig, denn sie haben mit ihnen einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 GG und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Die Beschwerden sind insoweit auch begründet.

61. a) Wenn ein Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung binnen einer bestimmten Frist setzt, verlangt das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich, dass das Gericht den Ablauf der Äußerungsfrist abwartet, bevor es entscheidet ( - BVerfGE 12, 110, 113, juris RdNr 8; - BVerfGE 42, 243, 247, juris RdNr 10; - juris RdNr 7 mwN; - juris RdNr 8). Dies gilt auch dann, wenn dem Gericht die Sache entscheidungsreif erscheint ( - BVerfGE 12, 110, 113, juris RdNr 8). Ausnahmsweise muss es den Ablauf der von ihm gesetzten, angemessenen Frist zur Stellungnahme dann nicht abwarten, wenn ein Beteiligter sich vor Fristablauf abschließend geäußert hat ( - juris RdNr 7 mwN; - juris RdNr 8) und weitere Stellungnahmen nach Lage der Dinge nicht zu erwarten sind ( - juris RdNr 8). Die Fristsetzung muss eindeutig sein. Dem Beteiligten muss klar sein, welche Frist für ihn gilt. Setzt das Gericht in einem Schreiben unterschiedliche Fristen, muss es den Ablauf der längeren Frist abwarten.

7b) Diesen Anforderungen genügt der Beschluss des LSG nicht. Das LSG hat den Klägern mit Schreiben vom den Eingang ihrer Berufung(en) bestätigt. In diesem Schreiben hat es sie um Übersendung der Berufungsbegründung innerhalb eines Monats gebeten. Zugleich hat es darauf hingewiesen, dass die Berufungsschrift verfristet eingegangen sein dürfte, und Gelegenheit zur Äußerung binnen zwei Wochen eingeräumt. Es werde erwogen, die Berufung(en) als unzulässig zu verwerfen, sofern keine Wiedereinsetzungsgründe glaubhaft gemacht würden.

8Bei dieser Sachlage durften die Kläger darauf vertrauen, dass vor Ablauf der längeren Frist von einem Monat eine Entscheidung des LSG nicht ergehen würde. Nach dem unwiderlegten Vorbringen der Kläger ist ihnen das Schreiben des am zugegangen, sodass sie davon ausgehen durften, dass ihnen eine Äußerung bis zum Ablauf des (§ 64 Abs 1, Abs 2 Satz 1 SGG) möglich gewesen wäre. Das LSG hat indes die Berufung(en) der Kläger bereits mit Beschluss vom als unzulässig verworfen.

9Die Kläger haben auch darlegt, welches Vorbringen durch die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (vgl zu diesem Erfordernis - juris RdNr 10; - juris RdNr 12; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 160a RdNr 14 mwN; zum Beruhenszusammenhang auch Höfling/Burkiczak in Friauf/ Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art 103 RdNr 104 ff <April 2009>; allgemein Karmanski in Roos/Wahrendorf, 2014, SGG, § 160a RdNr 85 f mwN). Denn sie haben in der Beschwerdebegründung behauptet, die Berufung bereits am per Telefax beim SG eingelegt zu haben, und einen entsprechenden Faxbericht vorgelegt. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG Ermittlungen zum Zeitpunkt des Eingangs der Berufungsschrift angestellt hätte, wenn es den Klägern möglich gewesen wäre, den im Beschwerdeverfahren erfolgten Vortrag bereits vor der Entscheidung des LSG zu unterbreiten. Dass sich die Kläger in der am beim LSG eingegangen Berufungsbegründung zur Frage der Wahrung der Berufungsfrist nicht geäußert haben, kann ihnen im hier gegebenen konkreten Fall nicht entgegengehalten werden, da zu diesem Zeitpunkt die maßgebliche Äußerungsfrist noch nicht abgelaufen war.

10Ob weitere Verfahrensmängel vorliegen, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung.

112. Der Senat macht von dem ihm durch § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, den Beschluss des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses zurückzuverweisen.

123. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2020:190320BB4AS2320B0

Fundstelle(n):
FAAAH-48620