Unwirksamkeit einer durch Einlegen in den Briefkasten vorgenommenen Ersatzzustellung bei fehlender Nutzung der Wohn- oder Geschäftsräume
Leitsatz
1. NV: Voraussetzung für die Wirksamkeit einer durch Einlegung in den zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten ist u.a., dass die Wohnung oder der Geschäftsraum von dem Adressaten der Zustellung tatsächlich genutzt wird (Anschluss an , BGHZ 190, 99).
2. NV: Der BFH kann durch Zwischen-Gerichtsbescheid gemäß §§ 97, 121, 90a FGO aussprechen, dass eine Revision zulässig ist.
Gesetze: FGO § 90a; FGO § 97; ZPO § 180;
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb in den Streitjahren 2010 und 2011 sowohl ein Eiscafé als auch einen Imbiss im selben Gebäude. Mit dem Eiscafé erzielte er Verluste, mit dem Imbiss hingegen Gewinne. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) nahm an, dass es sich um getrennte Betriebe handele und erließ sowohl für das Eiscafé als auch für den Imbiss jeweils eigenständige Gewerbesteuermessbescheide. Dies hatte zur Folge, dass die Gewinne aus dem Imbiss ohne Verrechnung mit den Verlusten aus dem Eiscafé der Gewerbesteuer unterworfen wurden.
2 Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Auf die Beschwerde des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom die Revision zugelassen. In der Urkunde, die über die Zustellung dieses Beschlusses an den früheren Prozessbevollmächtigten (P) des Klägers aufgenommen wurde, heißt es, da eine Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung nicht möglich gewesen sei, sei es am in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt worden.
3 Mit Schreiben vom , dessen Einlegung in den Briefkasten des P am in gleicher Weise beurkundet worden ist, wies die Geschäftsstelle des erkennenden Senats auf den zwischenzeitlichen Ablauf der gesetzlichen Frist zur Begründung der Revision sowie die Möglichkeit zur Stellung eines Antrags auf Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hin. Die Deutsche Post AG teilte am mit, dass dieser Brief —ohne dass die näheren Umstände aufklärbar seien— in ihrem Bereich aufgefunden worden sei. Sie sandte den Brief an den Bundesfinanzhof (BFH) zurück.
4 Am bestellte die zuständige Rechtsanwaltskammer von Amts wegen (§ 53 Abs. 5 der Bundesrechtsanwaltsordnung —BRAO—) einen anderen Rechtsanwalt als Vertreter (V) für die Kanzlei des P. V wandte sich mit einem am eingegangenen Schreiben an das Finanzgericht (FG) und bat um Mitteilung des Sachstands. Das FG übermittelte ihm am das klageabweisende Urteil und teilte mit, der BFH habe die Revision zugelassen.
5 Die Geschäftsstelle des erkennenden Senats, die zwischenzeitlich von der Bestellung des V erfahren hatte, stellte diesem am u.a. das Hinweisschreiben vom zu. Noch am selben Tage bat V um Übermittlung der von P eingereichten Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde, der Gegenäußerung des FA sowie des Beschlusses über die Zulassung der Revision. Diese Unterlagen erhielt V am per Telefax.
6 Am ist beim BFH die Revisionsbegründung sowie ein Antrag des V auf Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eingegangen. Er trägt vor, P sei bereits seit längerer Zeit psychisch schwer erkrankt und nicht in der Lage gewesen, sich selbst um eine Vertretung zu bemühen. Der gegenwärtige Aufenthaltsort des P sei V nicht bekannt; es bestehe kein Kontakt zu ihm. P sei als Einzelanwalt von seiner Wohnung aus tätig geworden und habe kein Personal beschäftigt. Bereits im Jahr 2016 habe die Staatsanwaltschaft gegen P ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts u.a. der Strafvereitelung eingeleitet, weil dieser in mehreren Fällen Akten, die ihm überlassen worden seien, nicht zurückgesandt habe. Parallel dazu sei gegen P u.a. wegen dieser Vorgänge ein Verfahren beim Anwaltsgericht für den Bezirk der zuständigen Rechtsanwaltskammer eingeleitet worden. Das Anwaltsgericht habe am beschlossen, ein Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob und inwieweit eine depressive Erkrankung des P dessen Fähigkeiten, seinen berufsrechtlichen Pflichten nachzukommen, im Zeitraum von Januar bis September 2016 beeinträchtigt habe.
7 P habe sich vielfach verfolgt gesehen und sich seit ungefähr Mitte 2017 nur noch unregelmäßig und selten in seiner Wohnung (Kanzlei) aufgehalten. Diese Wohnung sei am nach dem sog. „Berliner Modell“ (gemeint wohl: nach Maßgabe des § 885a der Zivilprozessordnung —ZPO—) geräumt worden. Ab diesem Zeitpunkt habe P keinen Zugang mehr zu der Wohnung (Kanzlei) gehabt. Postsendungen, die sich im Briefkasten befunden hätten, seien vom Vermieter in den Postrücklauf gegeben worden.
8 V hat eidesstattlich versichert, am —dem Folgetag seiner Bestellung zum Kanzleivertreter— vom Vermieter Zugang zu der vormaligen Wohnung des P erhalten zu haben. Dort sei eine chaotische Situation festzustellen gewesen. Nahezu überall hätten sich Staub und Spinnweben befunden. Stapel von Akten und Post seien sowohl in der Diele und Küche als auch —vor allem— im Wohnzimmer vorgefunden worden. Der Schreibtisch und die Regale seien von frei flottierenden Unterlagen übergequollen. Insgesamt habe V ca. 500 Briefsendungen festgestellt, davon ca. 220 gerichtliche Schreiben. Über 60 davon seien förmlich zugestellt worden. Von den zugestellten Sendungen sei etwa ein Drittel noch ungeöffnet gewesen; der Inhalt der geöffneten Sendungen sei unbearbeitet wieder in den Umschlag verbracht worden. Der Computer des P habe nicht mehr gestartet werden können. Insgesamt habe V Unterlagen im Volumen von ca. 20 Umzugskartons aus der vormaligen Wohnung des P in seine eigene Kanzlei mitgenommen. Der Beschluss über die Zulassung der Revision habe aber nicht aufgefunden werden können.
9 V ist zwischenzeitlich zum Abwickler (§ 55 BRAO) der Kanzlei des P, der seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verloren hat, bestellt worden.
10 Der Kläger beantragt sinngemäß,
unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für die versäumte Revisionsbegründungsfrist das angefochtene Urteil sowie die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben und die für den Imbiss ergangenen Gewerbesteuermessbescheide 2010 und 2011 vom dahingehend zu ändern, dass die Gewerbesteuermessbeträge auf 185,50 € (2010) bzw. 343 € (2011) herabgesetzt werden.
11 Das FA beantragt sinngemäß,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
12 Es hält die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für nicht gegeben.
Gründe
II.
13 Der Senat entscheidet über die Frage der Zulässigkeit der Revision durch Zwischen-Gerichtsbescheid gemäß §§ 97, 121, 90a der Finanzgerichtsordnung (FGO).
14 1. Nach § 97 FGO kann über die Zulässigkeit der Klage durch Zwischenurteil vorab entschieden werden. Diese Regelung ist gemäß § 121 Satz 1 FGO auch in Bezug auf die Zulässigkeit der Revision anzuwenden (, BFHE 189, 573, BStBl II 2000, 235, unter II.1.), sofern die Revision nicht unzulässig ist und daher gemäß § 126 Abs. 1 FGO zwingend durch Beschluss verworfen werden muss (, BFH/NV 2013, 213, Rz 22).
15 In den Fällen des § 97 FGO kann die Entscheidung auch durch einen Gerichtsbescheid ergehen, da das Gesetz keine Regelung enthält, die den Anwendungsbereich des § 90a FGO insoweit einschränken würde (ebenso zum damaligen Vorbescheid , BFHE 104, 493, BStBl II 1972, 425, unter 1.).
16 2. Der Erlass einer Zwischenentscheidung gemäß § 97 FGO ist im vorliegenden Verfahren sachgerecht. Hierdurch wird die zwischen den Beteiligten bestehende Ungewissheit über die Zulässigkeit der Revision beseitigt, so dass sich der Rechtsstreit im weiteren Verlauf auf die materiell-rechtlichen Fragen konzentrieren kann.
III.
17 Die Revision ist zulässig.
18 Sie ist fristgerecht begründet worden (dazu unten 1.). Auch die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen sind erfüllt (unten 2.).
19 1. Die vom Senat zugelassene Revision ist fristgerecht begründet worden. Der Zulassungsbeschluss ist am nicht wirksam zugestellt worden (unten a). Die von V eingereichte Revisionsbegründung ist rechtzeitig beim BFH eingegangen (unten b). Damit kommt es auf die weiteren Fragen, ob P am überhaupt geschäftsfähig war oder dem Kläger aufgrund einer krankheitsbedingt unverschuldeten Fristversäumnis des P jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden könnte, nicht an.
20 a) Die am vorgenommene Ersatzzustellung des Zulassungsbeschlusses durch Einlegen in den zu den Wohn- und Geschäftsräumen des P gehörenden Briefkasten war nicht wirksam.
21 aa) Gemäß § 180 ZPO kann ein Schriftstück u.a. in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten eingelegt werden und gilt mit der Einlegung —im Wege der Ersatzzustellung— als zugestellt, wenn die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO nicht ausführbar ist.
22 Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Wohnung oder der Geschäftsraum tatsächlich von dem Adressaten genutzt wird. Ein bloßer Anschein der Unterhaltung einer Wohnung —etwa durch einen mit dem Namen des Adressaten gekennzeichneten Briefkasten— genügt auch dann nicht, wenn er dem Adressaten zurechenbar sein sollte (zum Ganzen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs —BGH— vom - III ZR 342/09, BGHZ 190, 99, Rz 13, und vom - X ZR 94/18, Neue Juristische Wochenschrift 2019, 2942, Rz 6 ff.).
23 Die Beweiskraft der Zustellungsurkunde gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO erstreckt sich nicht auf die Frage, ob der Adressat unter der angegebenen Anschrift tatsächlich eine Wohnung unterhält; diese Angabe des Zustellers kann jedoch ggf. eine gewisse Indizwirkung entfalten (BGH-Urteil in BGHZ 190, 99, Rz 18).
24 bb) Angesichts der nachfolgend dargelegten Umstände hat der Senat nicht die erforderliche Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) gewinnen können, dass der Briefkasten, in den der Zulassungsbeschluss eingelegt worden ist, am noch zu einer von P genutzten Wohnung bzw. einem von ihm genutzten Geschäftsraum gehörte.
25 V hat vorgetragen, P habe sich seit ungefähr Mitte 2017 dort nur noch unregelmäßig aufgehalten. V hat zudem eidesstattlich versichert, bei seiner ersten Besichtigung der Wohnung am hätten sich nahezu überall Staub und Spinnweben befunden. Zudem hätten sich in den Sanitäranlagen dicke Ränder gebildet. Im Telefaxgerät der Kanzlei hätten sich zu diesem Zeitpunkt eingegangene Telefaxsendungen von September 2016 befunden. Der Senat hat keinen Anlass, den Wahrheitsgehalt dieses —von V, soweit möglich, durch Fotos und Kopien belegten— Tatsachenvortrags zu bezweifeln. All diese Umstände deuten mit hinreichender Eindeutigkeit darauf hin, dass P seine vormaligen Wohn- und Geschäftsräume bereits seit längerer Zeit nicht mehr genutzt hatte.
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Dies wird durch die Einsichtnahme des Senats in die Akten des zivilrechtlichen Räumungsverfahrens bestätigt. In diesem Räumungsverfahren sind —in zeitlicher Nähe zum maßgebenden Datum des — sechs Ersatzzustellungen durch Einlegen in den Briefkasten vorgenommen worden. In keinem Fall hat der Zusteller den P persönlich in dessen Wohn- und Geschäftsräumen angetroffen: | |
- | : Zustellung des —u.a. auf Zahlungsverzug gestützten— Kündigungsschreibens des Vermieters; |
- | : Zustellung der Räumungsklage; |
- | : Zustellung des —die Verurteilung zur Räumung enthaltenden— Versäumnisurteils des Amtsgerichts; |
- | : Zustellung der Ladung zum Gütetermin und zur mündlichen Verhandlung; |
- | : Zustellung der Mitteilung über den Räumungstermin; |
- | : Zustellung der Umladung zum Gütetermin und zur mündlichen Verhandlung. |
27 Da sich ein Rechtsanwalt, der eine „Wohnzimmerkanzlei“ betreibt, während der üblichen Postzustellzeiten häufig in seinen Wohn- und Kanzleiräumen aufzuhalten pflegt, deutet der Umstand, dass der Postzusteller den P bei zahlreichen Zustellversuchen nicht ein einziges Mal persönlich angetroffen hat, darauf hin, dass P die Räume nicht mehr genutzt hat. Hinzu kommt, dass der Vermieter seine Kündigung nicht allein mit Zahlungsverzug begründet hat, sondern ergänzend vorgebracht hat, er habe P mehrfach aufgefordert, ihm wegen der Erneuerung der Dachfenster und der Ablesung des Wasserzählers Zutritt zur Wohnung zu ermöglichen. Hierauf habe P nicht reagiert.
28 Aufgrund der vom Vermieter ausgesprochenen, offensichtlich berechtigten Kündigung des Mietverhältnisses und des hierauf ergangenen amtsgerichtlichen Räumungsurteils hatte P zudem bereits vor dem letztlichen Räumungstermin () sowohl objektiv als auch subjektiv Veranlassung, sich eine andere Wohnung zu suchen.
29 Damit spricht eine Vielzahl von Umständen deutlich dafür, dass P die Wohn- und Geschäftsräume am nicht mehr genutzt hat. Angesichts dessen wird die entsprechende Überzeugung des Senats nicht dadurch erschüttert, dass P mit Schreiben vom Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt hatte. Dies lässt sich damit erklären, dass er die Räume an diesem Tag bzw. kurz vor diesem Tag noch einmal aufgesucht hatte, deutet aber in Anbetracht der dargestellten Gesamtumstände nicht darauf hin, dass er sie weiterhin als Wohnung bzw. Geschäftsräume nutzte.
30 b) Da die am versuchte Zustellung des Zulassungsbeschlusses unwirksam war, ist dieser Mangel gemäß § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als geheilt anzusehen, zu dem V —als amtlich bestellter Vertreter des P— diesen Beschluss tatsächlich erhalten hat. Dies war der . Damit war die einmonatige Revisionsbegründungsfrist beim Eingang der Revisionsbegründung am noch nicht abgelaufen.
31 2. Auch die weiteren Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Revision sind erfüllt.
32 Insbesondere genügt die Revisionsbegründung den Anforderungen des § 120 Abs. 3 FGO. Das FA weist zwar zutreffend darauf hin, dass die Revisionsbegründung weitestgehend wortgleich mit der im Verfahren über die Zulassung der Revision eingereichten Beschwerdebegründung ist. Sie enthält zudem einige Passagen, mit der ausschließlich Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 FGO) dargelegt werden und die daher nicht in sinnvoller Weise Teil einer Revisionsbegründung sein können. Insgesamt lässt sich der —sehr ausführlich gehaltenen— Revisionsbegründung aber eindeutig entnehmen, in welchen Punkten und aus welchen Gründen der Kläger das angefochtene Urteil für unzutreffend hält.
33 Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung genügt selbst eine bloße Bezugnahme auf die Beschwerdebegründung den an eine Revisionsbegründung zu stellenden Anforderungen, wenn bereits die Beschwerdebegründung eine ausreichende kritische Würdigung des angefochtenen Urteils unter dem Gesichtspunkt seiner materiell-rechtlichen Richtigkeit enthielt (BFH-Entscheidungen vom - VII R 15/03, BFHE 205, 22, BStBl II 2004, 566, unter 1.b, und vom - VIII R 22/14, BFH/NV 2016, 1054, Rz 8; vgl. für den Zivilprozess auch § 551 Abs. 3 Satz 2 ZPO). Dies ist hier der Fall, wobei V sich nicht auf eine bloße Bezugnahme beschränkt, sondern einen eigenständigen und im Vergleich zur Beschwerdebegründung leicht überarbeiteten Schriftsatz eingereicht hat.
34 3. Da der Senat lediglich eine Zwischenentscheidung erlassen hat, bleibt die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehalten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2019:U.051119.XR15.18.0
Fundstelle(n):
AO-StB 2020 S. 142 Nr. 5
BFH/NV 2020 S. 526 Nr. 5
MAAAH-44215