BAG Urteil v. - 9 AZR 71/19

Tarifliche Altersfreizeit - Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter

Gesetze: Anh Rahmenvereinbarung § 4 Nr 2 EGRL 81/97, § 4 Abs 1 S 2 TzBfG, Art 9 Abs 3 GG, Art 28 EUGrdRCh, § 134 BGB, § 4 Abs 1 S 1 TzBfG, Anh Rahmenvereinbarung § 4 Nr 1 EGRL 81/97, § 1 TVG

Instanzenzug: ArbG Solingen Az: 4 Ca 233/18 lev Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 12 Sa 615/18 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wöchentlich eine bezahlte tarifliche Altersfreizeit von zwei Stunden zu gewähren.

2Der am geborene Kläger ist bei der Beklagten mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie e.V. und der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie geschlossene Manteltarifvertrag vom in der Fassung vom , seit in der Fassung vom (im Folgenden MTV) Anwendung.

3Der MTV regelt ua.:

4Mit seiner der Beklagten am Freitag, dem , zugestellten Klage hat der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von zwei Stunden Altersfreizeit je Woche ab Rechtshängigkeit der Klage begehrt. In der Berufungsinstanz hat er diesen Antrag nur noch als Hilfsantrag weiterverfolgt und als Hauptantrag einen Feststellungsantrag gestellt.

5Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe trotz seiner Teilzeittätigkeit ein Anspruch auf Altersfreizeit zu. § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV verletze das Benachteiligungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG und sei deshalb unwirksam. Die Tarifvertragsparteien hätten ihre Einschätzungsprärogative überschritten, weil die Differenzierung zwischen Voll- und Teilzeitkräften in § 2a Ziffer 1 MTV nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt sei. Er könne im Wege einer „Anpassung nach oben“ die Gewährung von Altersfreizeit in einem seiner regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit entsprechenden Umfang verlangen.

6Der Kläger hat zuletzt beantragt,

7Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte würden nach § 2a Ziffer 1 MTV nicht ungleich behandelt, weil auch Teilzeitbeschäftigte mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mehr als 35 Stunden Altersfreizeit zustehe und Vollzeitbeschäftigte von der Altersfreizeit ausgeschlossen seien, wenn ihre Arbeitszeit nach § 2 I Ziffer 3 auf 35 Stunden oder weniger reduziert werde. Jedenfalls sei die Differenzierung zwischen Voll- und Teilzeitkräften sachlich gerechtfertigt. Art. 9 Abs. 3 GG räume den Tarifvertragsparteien ebenso wie Art. 28 GRC das Recht ein, den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen und im Rahmen dieser Zweckbestimmung die zu regelnden Sachverhalte umfassend selbst zu ermitteln und zu bewerten. Die Altersfreizeit trage dem erhöhten Erholungsbedürfnis älterer Arbeitnehmer Rechnung und diene deren Entlastung. Die Festlegung des Schwellenwerts von 35 Wochenarbeitsstunden in § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV sei von der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien umfasst. Sie beruhe auf der Annahme, dass die Belastung älterer Arbeitnehmer, deren regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit bereits auf 35 Stunden und weniger herabgesetzt sei, in einem Umfang reduziert sei, der den Ausschluss von der Gewährung der Altersfreizeit rechtfertige.

8Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und dem Hauptantrag stattgegeben. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Gründe

9Die zulässige Revision ist nicht begründet.

10A. Die Revision ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht begründet, weil die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts vom Landesarbeitsgericht wegen einer nicht den Anforderungen von § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO genügenden Berufungsbegründung als unzulässig hätte verworfen werden müssen.

11I. Die Zulässigkeit der Berufung ist Prozessvoraussetzung für das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Berufung und deshalb vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen. Genügt die Berufungsbegründung nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO, verwirft das Landesarbeitsgericht die Berufung aber nicht als unzulässig, sondern trifft eine Sachentscheidung, hat das Revisionsgericht die Revision des Berufungsklägers mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Berufung als unzulässig verworfen wird (vgl.  - Rn. 14, BAGE 151, 66). Es ist ohne Bedeutung, dass das Berufungsgericht das Rechtsmittel für zulässig gehalten hat (vgl.  - Rn. 33, BAGE 158, 266).

12II. Die Berufungsbegründung des Klägers genügt den gesetzlichen Anforderungen (vgl. hierzu  - Rn. 34, BAGE 158, 266). Das Arbeitsgericht hat seine Entscheidung auf die Annahme gestützt, die Tarifregelung bewege sich innerhalb der Reichweite der den Tarifvertragsparteien zustehenden Einschätzungsprärogative. Mit dieser tragenden Argumentation des arbeitsgerichtlichen Urteils setzt sich der Kläger in der Berufungsbegründung hinreichend auseinander.

13B. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben.

14I. Die Klage ist zulässig.

151. Der Zulässigkeit der Klage steht nicht entgegen, dass der Kläger seine Anträge in der Berufungsinstanz geändert hat. Das Landesarbeitsgericht hat die Zulässigkeit der zuletzt gestellten Anträge nach Maßgabe von § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 533 ZPO geprüft und angenommen, es liege keine Klageänderung vor. Diese Entscheidung bindet das Revisionsgericht (vgl. zur st. Rspr.  - Rn. 14; - 2 AZR 86/17 - Rn. 23 mwN, BAGE 161, 198). Sie ist in der Revisionsinstanz in entsprechender Anwendung von § 268 ZPO nicht mehr zu überprüfen (vgl.  - Rn. 52, BAGE 159, 92).

162. Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind erfüllt.

17a) Nach § 256 Abs. 1 ZPO ist für die Zulässigkeit eines Feststellungsantrags ein besonderes rechtliches Interesse daran erforderlich, dass das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses durch eine gerichtliche Entscheidung alsbald festgestellt wird. Es handelt sich um eine auch noch im Revisionsverfahren zu prüfende echte Prozessvoraussetzung für das stattgebende Urteil (vgl.  - Rn. 18, BAGE 154, 337; - 5 AZR 567/14 - Rn. 39, BAGE 154, 8). Das Feststellungsinteresse kann auch dann bestehen, wenn sich die begehrte Feststellung auf einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit bezieht. Der erforderliche Gegenwartsbezug kann dadurch hergestellt werden, dass der Kläger die Erfüllung konkreter Ansprüche aus einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum und damit einen gegenwärtigen rechtlichen Vorteil anstrebt. Ist das angestrebte Feststellungsurteil geeignet, den Konflikt der Parteien endgültig beizulegen und weitere Prozesse zwischen ihnen zu vermeiden, liegt das erforderliche Feststellungsinteresse vor. Es genügt jedoch nicht, dass sich die begehrte Feststellung auf eine bloße Vorfrage eines aktuell möglicherweise bestehenden Anspruchs bezieht ( (F) - Rn. 22).

18b) Der Kläger hat ein besonderes Interesse an der begehrten Feststellung, weil die Beklagte den von ihm behaupteten Anspruch auf tarifliche Altersfreizeit bestreitet (vgl.  - Rn. 10; - 9 AZR 321/16 - Rn. 19). Dies gilt, obgleich sich der Feststellungsantrag teilweise auf die Vergangenheit bezieht. Der Gegenwartsbezug wird dadurch hergestellt, dass der Kläger gegenwärtige rechtliche Vorteile in Form der Gewährung von Altersfreizeit auch aus einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum erstrebt (vgl.  - Rn. 13). Die Entscheidung über den Feststellungsantrag ist geeignet, weitere gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen den Parteien auszuschließen, denn zwischen ihnen besteht allein Streit über die Frage, ob die Beklagte gemäß § 2a Ziffer 1 MTV iVm. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG verpflichtet ist, dem Kläger tarifliche Altersfreizeit zu gewähren.

19II. Die Klage ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht entschieden, dass die Beklagte seit dem nach § 2a Ziffer 1 und Ziffer 5 MTV iVm. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG verpflichtet ist, den Kläger zwei Stunden je Woche von der Arbeitspflicht unter Fortzahlung des Entgelts freizustellen. § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV, dem zufolge die Altersfreizeit entfällt, wenn die Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der regelmäßigen tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit liegt, ist wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG nach § 134 BGB nichtig. Dem Kläger ist daher bezahlte Altersfreizeit in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht.

201. Ein Anspruch des Klägers auf Gewährung der tariflichen Altersfreizeit besteht nicht unmittelbar nach § 2a Ziffer 1 MTV. Der Kläger hat zwar das 57. Lebensjahr vollendet und damit die in § 2a Ziffer 1 Abs. 1 MTV geregelten Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Er ist jedoch nach § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 MTV von der tariflichen Leistung ausgeschlossen, weil seine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit mit 30 Stunden um mehr als zweieinhalb Stunden unterhalb der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden liegt.

212. Der Anspruch des Klägers auf Gewährung der tariflichen Altersfreizeit folgt jedoch aus § 2a Ziffer 1 MTV iVm. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG.

22a) Ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer darf nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG wegen der Teilzeitarbeit nicht schlechter behandelt werden als ein vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, es sei denn, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG ist einem teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer Arbeitsentgelt oder eine andere teilbare geldwerte Leistung mindestens in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Das in § 4 Abs. 1 TzBfG geregelte Diskriminierungsverbot steht gemäß § 22 Abs. 1 TzBfG nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien (vgl. für die st. Rspr.  - Rn. 47 mwN).

23b) § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV benachteiligt in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer wegen ihrer Teilzeittätigkeit gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten entgegen § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 TzBfG ohne sachlichen Grund.

24aa) Teilzeitbeschäftigte werden wegen der Teilzeitarbeit ungleich behandelt, wenn die Dauer der Arbeitszeit das Kriterium darstellt, an das die Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen anknüpft (vgl.  - Rn. 46, BAGE 158, 360; - 9 AZR 564/14 - Rn. 15).

25bb) § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV sieht eine an die Dauer der Arbeitszeit anknüpfende Ungleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten vor.

26(1) Nach § 2a Ziffer 1 Abs. 1 MTV haben in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer, deren wöchentliche Arbeitszeit nach § 2 I Ziffer 1 MTV 37,5 Stunden beträgt, Anspruch auf eine zweieinhalbstündige Altersfreizeit je Woche, wenn sie das 57. Lebensjahr vollendet haben. § 2a Ziffer 1 MTV begründet nicht nur einen Freistellungsanspruch, sondern als finanziellen Aspekt des Anspruchs auf Altersfreizeit auch einen Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts gemäß § 2a Ziffer 5 MTV. Der Tarifvertrag verlangt, dass die Zeit der Freistellung von der Arbeitspflicht „bezahlt“ sein muss.

27(2) § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV schließt Arbeitnehmer, deren Arbeitszeit um zweieinhalb Stunden oder mehr unter der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit liegt, von der Gewährung der bezahlten tariflichen Altersfreizeit aus. Diesen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern wird entgegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG eine teilbare geldwerte Leistung nicht in dem Umfang gewährt, der dem Anteil ihrer Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Infolgedessen wird die nach § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV ausgeschlossene Gruppe teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer bei gleicher Arbeitsleistung schlechter vergütet als in Vollzeit tätige Arbeitnehmer. Die Herabsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit nach § 2a Ziffer 1 Abs. 1 MTV unter Fortzahlung des Entgelts nach Maßgabe von § 2a Ziffer 5 MTV führt bei den Begünstigten zu einer Erhöhung des Arbeitsentgelts pro Arbeitsstunde. Teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, denen nach § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV eine anteilmäßige Ermäßigung der Arbeitszeit vorenthalten wird, obwohl sie das 57. Lebensjahr vollendet haben, erhalten eine geringere Vergütung pro geleisteter Stunde, weil ihr Monatsentgelt nicht entsprechend angehoben wird. Die Tarifregelung lässt es zB zu, dass ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer nach Vollendung seines 57. Lebensjahres als Folge der Gewährung von Altersfreizeit ohne Einkommenseinbuße statt 37,5 Stunden nur noch 35 Stunden wöchentlich arbeiten muss, während ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer, der arbeitsvertraglich in demselben Stundenumfang zur Arbeitsleistung verpflichtet ist, nur Anspruch auf das vereinbarte Entgelt für 35 Wochenarbeitsstunden hat.

28(3) Entgegen der Ansicht der Beklagten führt der Ausschluss Vollzeitbeschäftigter von der Altersfreizeit, wenn ihre Arbeitszeit durch Kurzarbeit oder nach § 2 I Ziffer 3 MTV auf 35 Stunden oder weniger reduziert wird, vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Vergleichsgruppe iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 TzBfG sind für den Kläger die mit der tariflichen Normalarbeitszeit in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer (vgl. HWK/Schmalenbers 8. Aufl. § 2 TzBfG Rn. 5), deren regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit nach § 2 I Ziffer 1 MTV 37,5 Stunden beträgt.

29cc) Die in § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV vorgesehene Beschränkung des Anspruchs auf bezahlte Altersfreizeit auf Arbeitnehmer, deren wöchentliche Arbeitszeit mehr als 35 Stunden beträgt, verstößt auch unter Berücksichtigung des den Tarifvertragsparteien zustehenden Gestaltungsspielraums gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG.

30(1) § 4 Abs. 1 TzBfG setzt § 4 Nr. 1 und Nr. 2 des Anhangs der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (ABl. EG L 14 vom S. 9; im Folgenden Rahmenvereinbarung) um. Für das Verständnis von § 4 Abs. 1 TzBfG ist daher die für das Unionsrecht ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen.

31(2) Das in Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete Recht auf Kollektivverhandlungen muss im Geltungsbereich des Unionsrechts im Einklang mit diesem ausgeübt werden ( - Rn. 22). Wenn die Sozialpartner Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich der Rahmenvereinbarung fallen, müssen sie diese beachten. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union werden Teilzeitbeschäftigte gegenüber vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern unmittelbar ungleichbehandelt, wenn eine identische Belastungsgrenze für Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte festgelegt und infolgedessen für Teilzeitbeschäftigte eine höhere individuelle Belastungsgrenze gezogen wird. Teilzeitbeschäftigte werden in diesem Fall ungleichbehandelt, wenn sich die Grenze der Entstehung ihres Anspruchs nicht proportional zu ihrer Arbeitszeit vermindert (vgl. zu einem identischen Mindestbeschäftigungsumfang von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten für Mehrarbeitsvergütung im Beamtenrecht:  - [Voß] Rn. 36; - C-285/02 - [Elsner-Lakeberg] Rn. 17). Nach § 4 der Rahmenvereinbarung kann die unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten im Verhältnis zu vergleichbaren in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmern nur durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden (vgl.  - [Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols] Rn. 41 ff.). Für die Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten reicht es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht aus, dass sie in einer allgemeinen und abstrakten Norm vorgesehen ist. Vielmehr muss die Ungleichbehandlung einem echten Bedarf entsprechen und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sein ( - [O‘Brien] Rn. 64; - C-486/08 - [Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols] Rn. 44). Dementsprechend hat sich die Prüfung, ob die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt ist, am Zweck der Leistung zu orientieren ( - Rn. 25 mwN). Es ist Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob objektive Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen ( - [O‘Brien] Rn. 64 ff.; - C-300/06 - [Voß] Rn. 36 ff.; - C-285/02 - [Elsner-Lakeberg] Rn. 18).

32(3) § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG regelt - entsprechend § 4 Nr. 1 Rahmenvereinbarung - kein absolutes Benachteiligungsverbot. Die Vorschrift konkretisiert das allgemeine Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG für den Bereich des Arbeitsentgelts oder einer anderen teilbaren geldwerten Leistung. § 4 Abs. 1 TzBfG verbietet eine Abweichung vom Pro-rata-temporis-Grundsatz zum Nachteil Teilzeitbeschäftigter, wenn dafür kein sachlicher Grund besteht ( - Rn. 50, BAGE 158, 360). Allein das unterschiedliche Arbeitspensum berechtigt allerdings nicht zu einer unterschiedlichen Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitkräften. Die Rechtfertigungsgründe müssen anderer Art sein ( - Rn. 21 mwN). Eine Schlechterstellung von Teilzeitbeschäftigten kann sachlich gerechtfertigt sein, wenn sich ihr Grund aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit herleiten lässt ( - Rn. 55 mwN, aaO). Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich am Zweck der Leistung zu orientieren.

33(4) Die Tarifvertragsparteien sind grundsätzlich darin frei, den Zweck einer tariflichen Leistung zu bestimmen. Als selbständigen Grundrechtsträgern steht ihnen bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl.  - Rn. 28 f.). Die Regelungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien finden ihre Grenzen in entgegenstehendem zwingenden Gesetzesrecht. Tarifliche Regelungen müssen mit höherrangigem Recht vereinbar sein. Verstößt eine Tarifnorm gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 TzBfG, ist sie nichtig (vgl.  - Rn. 35). Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der grundrechtlich geschützte Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien bei der Prüfung, ob sachliche Gründe eine im Tarifvertrag vorgesehene unterschiedliche Behandlung nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG rechtfertigen, nicht auswirkt. Vielmehr bestimmen die Tarifvertragsparteien im Rahmen ihrer Normsetzungskompetenz aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur den Zweck einer tariflichen Leistung ( - Rn. 34; - 6 AZR 161/16 - Rn. 55, BAGE 158, 360). Sie verfügen auch über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Regelung sowie eine Einschätzungsprärogative bezüglich der Bewertung der tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen, die eine differenzierende Regelung sachlich rechtfertigen können. Die Tarifvertragsparteien sind dabei nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn sich die Regelung am gegebenen Sachverhalt orientiert, vertretbar erscheint und nicht gegen gesetzliche Regelungen verstößt ( - Rn. 43, BAGE 162, 230; - 4 AZR 796/13 - Rn. 32 mwN, BAGE 151, 235). Der Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien darf allerdings nicht dazu führen, das Verbot der Diskriminierung in Teilzeit beschäftigter Arbeitnehmer auszuhöhlen (vgl. zu § 7 Abs. 2 AGG  - Rn. 26 mwN, BAGE 153, 348).

34(5) Mit der Regelung in § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV haben die Tarifvertragsparteien ihre durch § 4 Abs. 1 TzBfG begrenzte Rechtsetzungsbefugnis überschritten.

35(a) Die Gewährung bezahlter Altersfreizeit nach § 2a Ziffer 1 Abs. 1 und Abs. 5 MTV dient, wie die Auslegung der Regelung ergibt (zu den Auslegungsgrundsätzen vgl. etwa  - Rn. 17; zur Zweckbestimmung vgl.  - Rn. 34), der Entlastung älterer Arbeitnehmer durch eine Reduzierung ihrer wöchentlichen Arbeitszeit. Diesem Zweck folgend ist die Altersfreizeit nach § 2a Ziffer 2 MTV wöchentlich zu gewähren und eine Nachgewährung nach § 2a Ziffer 6 Abs. 1 Satz 2 MTV ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer von ihr keinen Gebrauch macht.

36(b) § 2a Ziffer 1 Abs. 1 MTV geht von einer mit zunehmendem Alter sinkenden Belastbarkeit und infolgedessen von einem gesteigerten Erholungsbedürfnis der Arbeitnehmer aus, die das 57. Lebensjahr vollendet haben. Der Tarifvertrag bestimmt in Abhängigkeit von der geschuldeten Wochenarbeitszeit differenzierte Regelungen und legt damit für Arbeitnehmer, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, unterschiedliche individuelle Belastungsgrenzen fest (vgl. hierzu  - Rn. 50; - 6 AZR 161/16 - Rn. 51, 53, BAGE 158, 360). Nach § 2a Ziffer 1 Abs. 1 und Ziffer 5 MTV haben in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmer, deren regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 37,5 Stunden beträgt, wenn sie das 57. Lebensjahr vollendet haben, Anspruch auf eine bezahlte zweieinhalbstündige Altersfreizeit je Woche. Die Arbeitszeit in Vollzeit beschäftigter Arbeitnehmer wird damit auf 35 Wochenarbeitsstunden reduziert. Für Teilzeitkräfte, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, legt der Tarifvertrag, indem er deren Arbeitszeit nicht proportional zu ihrer individuellen Arbeitszeit absenkt, eine höhere individuelle Belastungsgrenze fest als für Vollzeitbeschäftigte und regelt dementsprechend einen geringeren Entlastungsbedarf. Dies folgt für Teilzeitbeschäftigte, deren regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit mehr als 35 Stunden beträgt, aus § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 MTV, indem diese Regelung die Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit dieser Gruppe von Teilzeitbeschäftigten durch die Gewährung von Altersfreizeit nicht im gleichen Verhältnis wie bei Vollzeitkräften vorsieht, sondern beschränkt auf 35 Stunden. Bei Teilzeitkräften, deren regelmäßige Arbeitszeit 35 Stunden und weniger beträgt, folgt die höhere individuelle Belastungsgrenze aus § 2a Ziffer 1 Abs. 2 Satz 2 MTV, der sie von der Gewährung von Altersfreizeit vollständig ausschließt.

37(c) Diese von der konkreten Tätigkeit unabhängige, sich allein am Umfang der wöchentlichen Arbeitszeit von älteren Arbeitnehmern orientierende Differenzierung bei der Gewährung vergüteter Altersfreizeit ist nicht durch Unterschiede im Tatsächlichen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 TzBfG sachlich gerechtfertigt. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, der die Annahme rechtfertigen könnte, bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden bestehe für alle Arbeitnehmer ab Vollendung des 57. Lebensjahres eine qualitative Belastung, die bei Teilzeitbeschäftigten derselben Altersgruppe nicht in einem Maß auftritt, der dem Umfang ihrer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit entspricht. Ebenso wenig existiert ein allgemeiner Erfahrungssatz, dass die mit der Erbringung der Arbeitsleistung einhergehende Belastung erst dann ansteigt, wenn der Schwellenwert von 35 Wochenarbeitsstunden überschritten ist, und sich das gesteigerte Erholungsbedürfnis von Arbeitnehmern, die das 57. Lebensjahr vollendet haben, mit sinkender Zahl der zu leistenden Wochenarbeitsstunden nicht linear vermindert, sondern bei einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden und weniger vollständig entfällt. Der Zweck der tariflichen Altersfreizeit, älteren Arbeitnehmern zu ihrer Entlastung bezahlte Freistellung zu gewähren, rechtfertigt es deshalb nicht, gleichaltrige in Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer, deren Wochenarbeitszeit eine bestimmte Stundenzahl unterschreitet, entgegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG von dieser geldwerten Leistung generell auszuschließen.

38(6) Aufgrund der durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bereits erfolgten Auslegung des Unionsrechts (vgl.  - [Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols] Rn. 41 ff.; - C-300/06 - [Voß] Rn. 36; - C-285/02 - [Elsner-Lakeberg] Rn. 17) bedarf es keines Vorlageverfahrens an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV („acte éclairé“; zu den Vorlagevoraussetzungen vgl.  - [C.I.L.F.I.T.];  - Rn. 29;  - Rn. 36 mwN).

39c) Als Rechtsfolge des Verstoßes gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG ist dem Kläger die ihm seit dem zu Unrecht vorenthaltene vergütete Altersfreizeit in dem Umfang zu gewähren, der dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht. Zwar folgt aus § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG nur, dass die diskriminierende Regelung nach § 134 BGB nichtig ist. Jedoch kann die Diskriminierung allein durch eine „Anpassung nach oben“ beseitigt werden (vgl. ausf.  - Rn. 44 ff., BAGE 159, 92; - 9 AZR 534/15 - Rn. 29 ff.).

40aa) Dies gilt auch, soweit sich der Feststellungsantrag auf die Vergangenheit bezieht. Die Altersfreizeit ist den von der Tarifregelung begünstigten Arbeitnehmern nach § 2a Ziffer 2 MTV vom Arbeitgeber wöchentlich zu gewähren. Eine Nachgewährung ist nach § 2a Ziffer 6 Abs. 1 Satz 2 MTV im Ausnahmefall ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer von der Altersfreizeit - obwohl der Arbeitgeber diese gewährt hat - keinen Gebrauch macht. § 2a Ziffer 6 Abs. 2 MTV steht diesem Verständnis nicht entgegen. § 2a Ziffer 6 Abs. 2 MTV bestimmt eine spätere Fälligkeit des Anspruchs, wenn die Altersfreizeit auf Verlangen des Arbeitgebers aus dringenden betrieblichen Gründen nicht am vorgesehenen Tag gegeben wird, schließt aber eine Nachgewährung nicht aus, wenn die Altersfreizeit dem Arbeitnehmer nicht gewährt wurde, obwohl der Anspruch nach § 2a Ziffer 1 MTV entstanden ist und nach § 2a Ziffer 2 MTV fällig war.

41bb) Bei einer vereinbarten wöchentlichen Regelarbeitszeit des Klägers von 30 Stunden und einer regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit von wöchentlich 37,5 Stunden entspricht die dem Kläger zu gewährende Altersfreizeit wie beantragt zwei Stunden pro Woche.

42III. Der nur für den Fall ihres Unterliegens gestellte Hilfsantrag des Klägers ist dem Senat nicht zur Entscheidung angefallen.

43C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2019:221019.U.9AZR71.19.0

Fundstelle(n):
BB 2020 S. 372 Nr. 7
FAAAH-40623