Anwendung des § 44a Abs. 5 EStG
1. Allgemeines
Nach § 44a Abs. 5 Satz 1 EStG ist bei Kapitalerträgen i. S. d. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 bis 7 und 8 bis 12 sowie Satz 2 EStG, die einem unbeschränkt oder beschränkt einkommensteuerpflichtigen Gläubiger zufließen, kein Steuerabzug vorzunehmen, wenn die Kapitalerträge Betriebseinnahmen des Gläubigers sind und die Kapitalertragsteuer bei ihm aufgrund der Art seiner Geschäfte auf Dauer höher wäre als die gesamte festzusetzende Einkommensteuer oder Körperschaftsteuer (sog. „Dauerüberzahler“). Dies ist durch eine Bescheinigung des für den Gläubiger der Kapitalerträge zuständigen Finanzamts nachzuweisen (§ 44a Abs. 5 Satz 4).
Mit dieser Regelung wird eine zeitweilige Überbesteuerung bei solchen Unternehmen vermieden, die große Wertpapierbestände besitzen, aufgrund der Art ihrer Geschäfte aber auf Dauer weniger Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer zu zahlen haben, als ihnen in Gestalt der Kapitalertragsteuer von den Wertpapiererträgen einbehalten wird.
Als typischer Beispielsfall für einen derartigen Sachverhalt wird in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucksache 12/2501) der Abzug der Kapitalertragsteuer von Wertpapiererträgen der Lebensversicherungsunternehmen angeführt. Diese Wertpapiererträge werden größtenteils an die Versicherten weitergegeben. Die Vorbelastung der Versicherungsunternehmen durch den Kapitalertragsteuerabzug wäre folglich ständig höher als die letztlich für die Gewinne zu zahlende Körperschaftsteuer. Eine ähnliche Überbesteuerungsproblematik besteht bei Zinserträgen von Verwertungsgesellschaften gemäß Urheberrechtswahrnehmungsgesetz. Diese ausdrückliche Benennung von Unternehmen aus Bereichen, in denen regelmäßig Gewinn erzielt wird, zeigt, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 44a Abs. 5 EStG "Verlustbranchen" oder Unternehmen, die - auch für längere Zeit - Verluste machen, nicht generell vom Kapitalertragsteuerabzug befreien wollte.
Das Tatbestandsmerkmal "aufgrund der Art seiner Geschäfte" ist jedenfalls dann nicht erfüllt, wenn die Überzahlung auf der jeweiligen Marktsituation (z. B. Gewinnlosigkeit, Preisverfall, Insolvenz, schlechte Absatzlage) oder auf individuellen rechtlichen Gestaltungen (z. B. Gewinnabführungsvertrag mit der Folge der Organschaft) beruht. Im Einzelnen vgl. (BStBl 1996 II S. 199), (BStBl 1997 II S. 38) und (BStBl 1997 II S. 817).
Unter dem Tatbestandsmerkmal "auf Dauer" ist ein bis zum Zeitpunkt der Beurteilung nicht feststehender und nicht absehbarer Zeitraum zu verstehen, vgl. o. a. .
In der Regel erfüllen lediglich folgende Unternehmen die Voraussetzungen des § 44a Abs. 5 EStG:
Lebens- und Krankenversicherungsunternehmen,
Verwertungsgesellschaften nach dem Urheberrechtswahrnehmungsgesetz,
Holdinggesellschaften, soweit diese nicht der Vorschrift des § 8b Abs. 7 KStG unterliegen und fast ausschließlich qualifizierte Beteiligungen halten (vgl. Einzelheiten unter Punkt 2 und 3a).
2. Holdinggesellschaften
Nach § 8b Abs. 1 und 2 KStG werden sowohl Beteiligungseinkünfte (vorbehaltlich § 8b Abs. 4 KStG) als auch Veräußerungsgewinne von Holdinggesellschaften nicht besteuert. Damit können Holdinggesellschaften die Voraussetzungen des § 44a Abs. 5 EStG erfüllen, wenn ihre Einkünfte ganz wesentlich durch steuerfreie Beteiligungseinkünfte geprägt werden. Geringe steuerpflichtige Gewinne aus anderer Tätigkeit (z. B. Zinseinnahmen) stehen der Erteilung einer Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 EStG nicht entgegen. Bei der Erteilung einer Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 EStG bitte ich Folgendes zu beachten:
Durch das Gesetz zur Umsetzung des sind seit dem Dividendenerträge bei einer Beteiligung von weniger als 10 % (sog. Streubesitz) nach § 8b Abs. 4 KStG steuerpflichtig. Trotz der Gesetzesänderung bleiben Holdinggesellschaften vom Anwendungsbereich des § 44a Abs. 5 EStG weiterhin grundsätzlich erfasst. Eine NV 2 - Bescheinigung kann jedoch nur dann erteilt werden, wenn eine Dauerüberzahlersituation insgesamt vorliegt.
Voraussetzung hierfür ist, dass die Kapitalertragsteuer auf Dauer höher als die gesamte festzusetzende Steuer ist. Das ist maßgeblich von der Beteiligungsstruktur der Holdinggesellschaft abhängig.
Daher ist vor Erteilung einer Bescheinigung genau zu prüfen, ob es sich um eine Holdinggesellschaft handelt, die qualifizierte Beteiligungen ≥10%) und keine Kleinbeteiligungen hält.
Die Beteiligungssituation sollte seitens der Steuerpflichtigen dargelegt werden. Dies dient dazu, den Ausfall der einzubehaltenden Kapitalertragsteuer auf Streubesitzdividenden auszuschließen.
Ferner sollte die Antragstellerin hierzu eine Erklärung abgeben, dass sie diese Beteiligungsstruktur unterjährig auch nicht verändern (unterschreiten) und etwaige doch eintretende Veränderungen unverzüglich mitteilen wird.
3. Anwendung des § 44a Abs. 5 EStG auf verschiedene Unternehmensgruppen
a) Anwendung des § 44a Abs. 5 EStG auf Finanzierungs- und Wertpapierhandelsunternehmen
Finanzierungs- und Wertpapierhandelsunternehmen (Unternehmen im Sinne des § 8b Abs. 7 KStG) erfüllen die Voraussetzungen des § 44a Abs. 5 EStG regelmäßig nicht.
Es sind Fälle bekannt geworden, in denen Finanzierungs- und Wertpapierhandelsunternehmen Bescheinigungen nach § 44a Abs. 5 EStG beantragt haben und solche Bescheinigungen - unberechtigterweise - ausgestellt worden sind.
Einige dieser Unternehmen erwerben kurz vor dem Dividendenstichtag Aktien im Rahmen sog. „Leerverkäufe“, d. h. es werden Wertpapiere von Veräußerern erworben, die im Veräußerungszeitpunkt selbst noch nicht über diese Wertpapiere verfügen. Die Aktien werden dann erst nach dem Dividendenstichtag tatsächlich geliefert. Ist die für den Veräußerer der Aktien den (Verkaufs-)Auftrag ausführende Stelle kein inländisches Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut i. S. d. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchstabe b EStG (Verwahrung im Ausland), besteht die Gefahr einer mehrfachen Bescheinigung von Kapitalertragsteuer in Steuerbescheinigungen i. S. d. § 45a Abs. 3 EStG, obwohl nur einmal Kapitalertragsteuer zu Lasten des rechtlichen Eigentümers der Aktien einbehalten worden ist und kein weiterer Abzug von Kapitalertragsteuer nach § 44 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG erfolgte. Dadurch kann es zu einer überhöhten Kapitalertragsteuererstattung kommen. Zum Thema Leerverkäufe vgl. im Einzelnen (BStBl 2009 I S. 631), (BStBl 2010 I S. 753) und ofix: EStG/45a/28. V. g. BMF-Schreiben wurden mit mit Wirkung ab aufgehoben.
Wird Kapitalertragsteuer bei einem Leerverkaufsgeschäft über den Dividendenstichtag durch die Bank bescheinigt, so hat der Steuerpflichtige grds. nur die Möglichkeit, die Kapitalertragsteuer im Rahmen der Veranlagung auf die festzusetzende Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer anzurechnen. Ist der Steuerpflichtige jedoch im Besitz einer Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 EStG, kann er die Erstattung der Kapitalertragsteuer nach § 44b EStG beim BZSt bzw. bei seiner Depotbank beantragen. Das für seine Ertragsbesteuerung zuständige Finanzamt hat keine Möglichkeit, von diesem Sachverhalt Kenntnis zu erlangen.
Sollten gleichgelagerte Fälle aufgetreten sein, sind die zu Unrecht erteilten Bescheinigungen mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen (§ 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) und sämtliche Ausfertigungen zurückzufordern.
b) Anwendung des § 44a Abs. 5 EStG auf kommunaler Verkehrs- und Versorgungsbetriebe
Nach dem Besprechungsergebnis der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder liegen die Voraussetzungen des § 44a Abs. 5 EStG bei kommunalen Verkehrs- und Versorgungsbetrieben nicht vor, da die u. a. durch den Kapitalertragsteuerabzug eintretende Überbesteuerung auch unter Berücksichtigung der dort erwirtschafteten Dauerverluste sowie der diesen Unternehmen auferlegten Grundpflichten nicht auf die "Art der Geschäfte" zurückzuführen ist.
c) Anwendung des § 44a Abs. 5 EStG bei Versicherungsunternehmen, die Organgesellschaften sind
Die subjektive persönliche Steuerpflicht der Organgesellschaft wird durch die Organschaft zwar nicht beeinträchtigt. Die Organgesellschaft bleibt eine unbeschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaft, deren eigenes Einkommen getrennt vom Einkommen des Organträgers zu ermitteln ist und diesem lediglich zugerechnet wird, soweit nicht die Organgesellschaft Ausgleichszahlungen an außenstehende Aktionäre oder Minderheitsgesellschafter nach § 16 KStG selbst zu versteuern hat. Die Organgesellschaft bleibt auch Gläubiger der Kapitalerträge. Da jedoch die Versteuerung des zugerechneten Einkommens beim Organträger erfolgt, kann es bei der Organgesellschaft zu keiner Überzahlung i. S. d. § 44a Abs. 5 EStG kommen. Der Organgesellschaft kann daher keine Bescheinigung i. S. d. § 44a Abs. 5 EStG erteilt werden.
Bei Begründung eines Organschaftsverhältnisses ist die Überzahlungssituation bei der Organgesellschaft zivilrechtlich mit der Wirksamkeit des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags durch Eintragung in das Handelsregister entfallen. Sobald das Finanzamt Kenntnis vom Handelsregistereintrag erhalten hat, ist eine ggf. vorher erteilte Bescheinigung im Sinne des § 44a Abs. 5 EStG nach § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Wirkung für die Zukunft zu widerrufen.
Zusatz OFD:
Bei einer nach den §§ 319 bis 327 Aktiengesetz eingegliederten Aktiengesellschaft oder Kommanditgesellschaft auf Aktien tritt die zivilrechtliche Wirksamkeit des Gewinnabführungsvertrags schon dann ein, sobald er in Schriftform abgeschlossen ist (vgl. § 324 Abs. 2 Aktiengesetz, R 60 Abs. 1 Satz 3 KStR 2004).
Eine Ausnahme hierzu ist in § 44a Abs. 5 Satz 2 EStG für Lebens- oder Krankenversicherungsunternehmen geregelt.
4. Verfahren zur Erteilung einer Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 EStG
a) Ausstellung der NV-Bescheinigung
Die NV-Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 EStG ist von dem Veranlagungsteilbezirk, der für die jeweilige Körperschaft zuständig ist, unter dem Vorbehalt des Widerrufs (§ 44a Abs. 5 Satz 5 EStG) auszustellen.
Die Gültigkeitsdauer der NV-Bescheinigung ist gesetzlich nicht eingeschränkt. Eine Beschränkung der Gültigkeit ist jedoch in besonders gelagerten Einzelfällen möglich.
Die Erteilung der Bescheinigung erfolgt unter UNIFA über ein Speicherkonto mit gültiger Steuernummer. Bzgl. der einzelnen Bearbeitungsschritte wird auf das Schulungskonzept, Tz. 4.1 für die Anwenderschulungen im Projekt KONSENS I (Seiten 58 - 61) - Modul 3 verwiesen.
b) Überwachung der Voraussetzungen
Im Rahmen der Veranlagung ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Erteilung der NV-Bescheinigung weiterhin vorliegen. Auch außerhalb der Veranlagung sind Anhaltspunkte (Ergebnisabführungsverträge, Umstrukturierungen im Konzern, Änderung des Gesellschaftszwecks), die einen Widerruf nach sich ziehen könnten, zu beachten.
c) Widerruf und Rückforderung der Bescheinigung
Wird festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der NV-Bescheinigung weggefallen sind, so ist die Bescheinigung zu widerrufen und die Kapitalgesellschaft aufzufordern, sämtliche Ausfertigungen zurückzugeben. Der Widerruf einer NV-Bescheinigung dürfte in der Regel mit Wirkung ab Beginn des folgenden Kalenderjahres ausgesprochen werden (vgl. § 131 Abs. 2 Nr. 1 AO).
Der Widerruf der maschinell erteilten NV-Bescheinigungen erfolgt ebenfalls im maschinellen Verfahren. Sofern die zu widerrufende NV-Bescheinigung jedoch vor August 2011 erteilt wurde, ist diese mittels eines formlosen Schreibens (mit Rechtsbehelfsbelehrung) zu widerrufen. Der Bescheid über den Widerruf wird zweifach ausgedruckt. Eine Ausfertigung erhält der Steuerpflichtige. Die zweite Ausfertigung verbleibt beim Finanzamt und ist zu den Steuerakten zu nehmen.
Gegen den Bescheid über den Widerruf der NV-Bescheinigung ist der Einspruch gegeben.
Bei weiteren Verfahrensfragen zur Erteilung/Widerruf einer NV-Bescheinigung wird auf ofix: EStG/44a/19 verwiesen.
OFD Frankfurt/M. v. - S 2405 A-2-St 54
Fundstelle(n):
SAAAH-34999