(Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Verbrauch einer Einverständniserklärung gem § 124 Abs 2 SGG - wesentliche Änderung der bisherigen Prozesslage: Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung - Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung)
Gesetze: § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 MRK
Instanzenzug: Az: S 2 U 225/09 Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 4 U 225/10 Urteil
Gründe
1I. Die Beteiligten streiten darum, ob ein Verkehrsunfall des Klägers, den er auf dem Weg von der Wohnung seiner Freundin zur Arbeitsstätte erlitt, ein Arbeitsunfall war. Das SG Koblenz hat die Beklagte zur Feststellung des Ereignisses als Arbeitsunfall verpflichtet (Urteil vom ). Die Beklagte hat hiergegen Berufung zum LSG Rheinland-Pfalz eingelegt.
2Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter die Beklagte mit Schreiben vom um Prüfung gebeten, ob das Rechtsmittel im Hinblick auf die am durchgeführte Beweisaufnahme nicht zurückgenommen werden könne. Eine Abschrift dieses Schreibens haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Kenntnisnahme erhalten. Nachdem die Beklagte mitgeteilt hatte, dass und warum sie die Berufung aufrecht erhalte, haben sich die Beteiligten mit Schreiben vom 18. und mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
3Durch Verfügung vom hat der Vorsitzende des 4. Senats des LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf "Donnerstag, den , 11.10 Uhr" bestimmt. Die Ladung zu diesem Termin ist den Beteiligten jeweils am zugegangen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers gibt an, zu dieser mündlichen Verhandlung im LSG erschienen zu sein, von der Protokollführerin aber die Auskunft erhalten zu haben, es werde ohne mündliche Verhandlung entschieden. Das LSG hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom sodann die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der Senat habe im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden können.
4Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Mündlichkeitsgrundsatzes.
6Die Beklagte hat sich nicht geäußert.
7II. Die Beschwerde ist zulässig.
8Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
9Die Beschwerde ist auch begründet. Es liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruht. Denn das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das LSG nicht ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden dürfen. Infolgedessen können die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.
10Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Eine Einverständniserklärung im Sinne dieser Vorschrift, die das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung von Amts wegen zu prüfen hat, verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich geändert hat ( - Juris RdNr 14). Das war hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am der Fall.
11Das mit Schreiben der Beteiligten vom 18. und jeweils erklärte Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung war mit der Ladung vom zur mündlichen Verhandlung am verbraucht. Dadurch ist eine wesentliche Änderung in der bisherigen Prozesslage eingetreten. Denn mit der Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung hat das Gericht deutlich gemacht, von der Möglichkeit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nicht Gebrauch machen zu wollen, sondern den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht einzuräumen, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen und den Streitstoff umfassend zu erörtern. Das LSG hat auch zu keinem Zeitpunkt diese Ladung zur mündlichen Verhandlung wieder aufgehoben.
12Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG ( - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 12). Gerade die in Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Obwohl der Vorsitzende den von ihm anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung nicht aufgehoben hat, ist die mündliche Verhandlung nicht durchgeführt und damit dem Kläger die Möglichkeit genommen worden, sich selbst oder über seine Prozessbevollmächtigte zur Sach- und Rechtslage zu äußern.
13Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der gebotenen mündlichen Verhandlung zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
14Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
15Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:110413BB2U35912B0
Fundstelle(n):
MAAAH-26298