BSG Beschluss v. - B 11 AL 72/11 B

sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Zurückverweisung - Verfahrensmangel - Teilnahme an der mündlichen Verhandlung - öffentliche Zustellung - Mobil-Telefonnummer

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 185 Nr 1 ZPO, Art 103 GG

Instanzenzug: Az: S 25 AL 944/05 Urteilvorgehend Landessozialgericht Hamburg Az: L 2 AL 36/08 Urteil

Gründe

1I. Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) und eine Erstattungsforderung der Beklagten in Höhe von 7121,16 Euro sowie gegen die Feststellung des Landessozialgerichts (LSG), das Berufungsverfahren sei durch Zurücknahme der Berufung erledigt.

2Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom über die Aufhebung der Bewilligung von Alhi und die Rückforderung von 7121,16 Euro abgewiesen (Urteil vom ). Gegen dieses Urteil hat der Kläger durch seine damalige Prozessbevollmächtigte Berufung eingelegt. Die Prozessbevollmächtigte hat die Berufung mit einem am beim LSG eingegangenen Schriftsatz zurückgenommen. Am hat der Kläger dem LSG gegenüber telefonisch erklärt, die Rücknahme sei vorschnell erfolgt und die Berufung werde nicht zurückgenommen. In einem späteren Telefonat gab der Kläger an, zum Zeitpunkt des Eingangs der Rücknahmeerklärung bei Gericht sei die Vollmacht gegenüber der Prozessbevollmächtigten schon widerrufen gewesen. Mit Schreiben vom erhob der Kläger "sofortigen Widerspruch" gegen die Berufungsrücknahme.

3Das LSG hat durch Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom festgestellt, dass das Berufungsverfahren durch Zurücknahme der Berufung erledigt ist. Zur mündlichen Verhandlung am ist der Kläger im Wege der öffentlichen Zustellung gemäß § 185 Zivilprozessordnung (ZPO) geladen worden, nachdem das LSG nach einer fehlgeschlagenen Zustellung trotz mehrfacher Nachfragen bei Meldebehörden einen Aufenthalt des Klägers nicht ermitteln konnte.

4Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG), die angeordnete öffentliche Zustellung der Ladung zum Verhandlungstermin am sei nicht zulässig und daher verfahrensfehlerhaft gewesen. Er habe durchgehend unter der Anschrift "" gewohnt; dass eine Zustellung unter dieser Anschrift mit dem unzutreffenden Vermerk zurückgekommen sei, er wohne dort nicht, liege nur daran, dass er seinerzeit im Streit mit Frau N. gewesen sei. Die weiteren Meldeamtsanfragen des LSG seien unzureichend gewesen, ua deshalb, weil das LSG unzutreffende Anschriften angegeben habe. Dem LSG sei auch bekannt gewesen, dass der Beklagten seine Mobil-Telefonnummer vorgelegen habe. Das LSG wäre deshalb zur Nachfrage verpflichtet gewesen und hätte damit auch seine zutreffende Anschrift ermitteln können. Ihm sei damit verfahrensfehlerhaft die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vom verwehrt worden. Die Entscheidung des LSG könne auch auf dem Verfahrensfehler beruhen. Denn er habe unter dem an das LSG geschrieben und mitgeteilt, dass er sein Mandatsverhältnis mit der früheren Prozessbevollmächtigten mit sofortiger Wirkung gekündigt habe. Dieses Schreiben sei von ihm per Post an die Anschrift des LSG abgesandt worden; soweit es nicht zur Akte des LSG genommen worden sei, bestehe dennoch die Möglichkeit, dass es in den Empfangsbereich des LSG gelangt sei. Bei Teilnahme an der mündlichen Verhandlung hätte er auf diese Umstände hinweisen können.

5II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

6Der Beschwerdeführer hat einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) schlüssig bezeichnet (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Der Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Die vom LSG angeordnete öffentliche Zustellung der Ladung zum Verhandlungstermin vom war unwirksam.

7Nach § 185 Nr 1 ZPO ist eine öffentliche Zustellung zulässig, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist (vgl BGHZ 149, 311 = NJW 2002, 827). Unbekannt ist der Aufenthalt, wenn er allgemein und nicht nur dem Zustellungsveranlasser nicht bekannt ist; insoweit genügen in der Regel ergebnislose Anfragen an das als zuständig anzusehende Einwohnermeldeamt sowie Nachforschungen über bekannte Telefonnummern oder E-Mail-Adressen (vgl Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 33. Aufl, § 185 RdNr 7 mwN). Nach dem Inhalt der beigezogenen Akten lagen dem LSG Unterlagen der Beklagten aus dem Jahr 2009 vor, aus denen eine Mobil-Telefonnummer ersichtlich war und es bestanden auch keine Anhaltspunkte, dass diese Telefonnummer nicht mehr aktuell war. Das LSG hatte deshalb Veranlassung, sich zunächst telefonisch an den Kläger zu wenden, bevor es den Weg der öffentlichen Zustellung wählte. Denn die öffentliche Zustellung ist nur als "letztes Mittel" zulässig, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ein Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (vgl BVerfG K 3, 264, 269; BFHE 201, 425).

8Da dem Kläger durch die Vorgehensweise des LSG die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verwehrt worden ist, geht der Senat auch davon aus, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann (vgl - Juris). Ein Fall, dass sich der Verfahrensfehler unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auf das Ergebnis - Wirksamkeit der Berufungsrücknahme - auswirken kann, liegt nicht vor.

9Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).

10Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu befinden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2012:290812BB11AL7211B0

Fundstelle(n):
DAAAH-24762