Durchführung eines Disziplinarverfahrens wegen der Betätigung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung; Altersgrenze 65 Jahre
Leitsatz
Bei Betätigung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung steht die Überschreitung der Altersgrenze von 65 Jahren der Durchführung eines wehrdisziplinargerichtlichen Verfahrens und der Aberkennung des Dienstgrades nicht entgegen.
Gesetze: Art 17a GG, § 17 Abs 3 SG, § 23 Abs 2 Nr 2 Alt 1 SG, § 23 Abs 2 Nr 2 Alt 2 SG, § 75 Abs 1 S 1 WDO 2002, § 75 Abs 1 S 2 WDO 2002, § 99 Abs 1 S 2 WDO 2002, § 107 Abs 1 WDO 2002, § 108 Abs 4 WDO 2002, § 139 Abs 1 S 2 Halbs 2 WDO 2002
Instanzenzug: Truppendienstgericht Nord Az: N 6 VL 8/16 Beschluss
Tatbestand
1Die Beschwerde richtet sich gegen die Einstellung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens.
21. Der ... frühere Zeitsoldat schied ... als Stabsunteroffizier aus dem aktiven Dienstverhältnis aus. Er betätigte sich in führender Position in der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands und wurde ... wegen Volksverhetzung und ... wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener in Tateinheit mit Verleumdung strafrechtlich verurteilt. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft schuldigte ihn deswegen am an, seine nachwirkenden Dienstpflichten als früherer Soldat verletzt zu haben.
3Mit Beschluss vom stellte der Vorsitzende der 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord das gerichtliche Disziplinarverfahren wegen eines Verfahrenshindernisses ein. Die Durchführung eines Wehrdisziplinarverfahrens setze eine Wiederverwendungsmöglichkeit des früheren Soldaten voraus. Daran fehle es, weil eine Heranziehung zu militärischen Dienstleistungen nur bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres zulässig sei und der frühere Soldat dieses Alter erreicht habe. Vom Gesetzeszweck des § 23 Abs. 2 SG i.V.m. § 17 Abs. 3 SG, ein einsetzbares Korps an Offizieren und Unteroffizieren zu erhalten, sei die Durchführung eines Disziplinarverfahrens nicht mehr gedeckt, wenn eine Wiederverwendung nicht einmal mehr theoretisch in Betracht komme. Dagegen spreche auch nicht, dass die Wehrdisziplinarordnung gegen "Angehörige der Reserve" Disziplinarmaßnahmen zulasse. Entscheidend müsse der Sinn des Disziplinarrechtes sein, Ordnung und Integrität innerhalb eines Berufsstandes zu gewährleisten. Diese Grundidee gelte zwar auch für die disziplinare Maßregelung von Personen, die nicht mehr den Rechtsstatus eines Soldaten innehätten; dies jedoch nur, wenn sie ihn wiedererlangen könnten.
42. Mit ihrer fristgerecht eingelegten Beschwerde trägt die Wehrdisziplinaranwaltschaft im Wesentlichen vor, ein Verfahrenshindernis liege nicht vor. Eine wehrdisziplinargerichtliche Verfolgung sei jedenfalls in den Fällen, in denen sich der frühere Soldat mit dem angeschuldigten Verhalten zugleich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung betätigt habe, auch nach Überschreitung des 65. Lebensjahres möglich. Für die disziplinarische Relevanz einer solchen Handlung sei es ohne Bedeutung, ob der frühere Soldat noch (theoretisch) zu Dienstleistungen herangezogen werden könne. Unschädlich sei zudem, dass die Anschuldigungsschrift das Dienstvergehen lediglich auf einen Verstoß gegen § 17 Abs. 3 SG gestützt habe, weil eine umfassende gerichtliche Prüfung vorzunehmen und daher auch § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 SG zu prüfen gewesen sei.
53. Unter dem hatte der frühere Soldat dem Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr mitgeteilt, er beantrage die Entlassung aus dem Reservewehrdienstverhältnis und gebe seinen Dienstgrad zurück.
Gründe
6Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Entscheidung des Vorsitzenden, das Verfahren gemäß § 108 Abs. 4 WDO außerhalb der Hauptverhandlung und ohne die nach § 75 Abs. 1 Satz 2 WDO grundsätzlich vorgesehene Mitwirkung ehrenamtlicher Richter einzustellen, ist rechtsfehlerhaft.
71. Das angenommene Verfahrenshindernis steht der Durchführung eines wehrgerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht entgegen.
8a) Der Vorsitzende der Truppendienstkammer ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass die Durchführung eines wehrgerichtlichen Disziplinarverfahrens gegen den früheren Stabsunteroffizier wegen des Vorwurfs unwürdigen Verhaltens im Sinne des § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 SG nicht zulässig ist. Denn diese Vorschrift setzt die Möglichkeit einer Wiederverwendung des früheren Soldaten als Vorgesetzter voraus. Daran fehlt es bei dem über 65 Jahre alten Reservisten, weil wegen dessen Alters selbst eine theoretische Wiederverwendungsmöglichkeit ausscheidet (vgl. 2 WD 35.09 - NZWehrr 2011, 72 <73> und vom - 2 WD 4.15 - BVerwGE 154, 163 Rn. 19, 62 ff.).
9b) Die Annahme des Truppendienstgerichts, die Anschuldigungsschrift beschränke die gerichtliche Prüfung darauf, ob ein Dienstvergehen nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 SG vorliege, beruht jedoch auf einem fehlerhaften Verständnis des § 99 Abs. 1 Satz 2 und des § 107 Abs. 1 WDO. Zwar dürfen gemäß § 107 Abs. 1 WDO zum Gegenstand der Urteilsfindung nur Pflichtverletzungen gemacht werden, die einem Soldaten in der Anschuldigungsschrift zur Last gelegt worden sind; in ihr sind jedoch gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO nur die Tatsachen darzustellen, in denen ein Dienstvergehen erblickt wird. Nur durch sie wird der Prozessstoff, d.h. der Sachverhalt, der allein zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht werden darf, bestimmt ( 2 WD 5.12 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 44 Rn. 30). Allein in diesem Umfang wird eine Bindung des Wehrdienstgerichts begründet. Nicht erforderlich ist hingegen die Bezeichnung der Rechtsnorm, gegen die der frühere Soldat verstoßen haben soll. Für den Vorsitzenden des Truppendienstgerichts war somit nicht die Feststellung in der Anschuldigungsschrift bindend, das Verhalten des früheren Soldaten sei rechtlich als Dienstvergehen gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 SG zu würdigen. Zu prüfen war auf Grund des in der Anschuldigungsschrift ausführlich und konkret beschriebenen Tatverhaltens zusätzlich, ob der frühere Soldat sich dadurch im Sinne von § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 SG gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes betätigt hat und ob auch im Hinblick darauf ein Verfahrenshindernis besteht.
10c) Entgegen der Rechtsansicht des Truppendienstgerichts steht der Durchführung eines Disziplinarverfahrens wegen der Betätigung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 SG auch nicht das Verfahrenshindernis der fehlenden Wiederverwendungsmöglichkeit entgegen. Gegen diese Annahme spricht bereits der Gesetzeswortlaut, weil sich in der ersten Alternative der Regelung eine derartige Einschränkung nicht findet und weil sich der Zusatz "für seine Wiederverwendung als Vorgesetzter" von der Syntax her ausschließlich auf die zweite Alternative bezieht. Eine Erstreckung dieses Verfahrenshindernisses auf die erste Alternative ergibt sich auch nicht aus der Systematik des Gesetzes.
11Die von § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG geregelten nachwirkenden Dienstpflichten stehen in einem Stufenverhältnis. Die erste Alternative beschäftigt sich mit der grundlegenden politischen Treuepflicht, die jedem aktiven Soldaten nach § 8 SG und in geringerem Maße früheren Unteroffizieren und Offizieren nach § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 SG obliegt (vgl. 2 WD 26.11 - Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 39 Rn. 52). Die Achtung vor der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist für einen Reservisten gleichsam das fortwirkende Band, das ihn mit der Bundeswehr als dem "Parlamentsheer" eines demokratischen Rechtsstaats innerlich verbindet. Die zweite Alternative des § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG beschäftigt sich hingegen mit der darüber hinausgehenden Vorgesetztenpflicht zum würdigen Auftreten. Sie nimmt Bezug auf die in § 17 Abs. 3 SG niedergelegte Pflicht von Offizieren und Unteroffizieren, auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Wehrdienst der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die für ihre Wiederverwendung in ihrem Dienstgrad erforderlich sind. Überschreitet ein früherer Unteroffizier oder Offizier die Altersgrenze von 65 Jahren und kann er darum nicht mehr als Vorgesetzter verwendet werden, entfällt diese fortwirkende Vorgesetztenpflicht. Hingegen bleibt auch nach Überschreitung der Altersgrenze die Stellung als Reservist oder früherer Berufssoldat erhalten, weswegen er den früheren Dienstgrad mit dem Zusatz "d.R." bzw. "a.D." weiterführen darf (§ 2 ResG).
12Dieser fortwirkenden Verbundenheit eines Reservisten mit der Bundeswehr im gegenseitigen Treueverhältnis entspricht es, dass auch seine Grundpflicht, die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht zu bekämpfen, über die Grenze der Wiederverwendungsfähigkeit hinaus bestehen bleibt. Betätigt er sich gleichwohl gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, besteht ein Interesse daran, einen ehemaligen Unteroffizier oder Offizier aus den Reihen der Reservisten einer demokratisch-rechtsstaatlichen Armee formell auszuschließen. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG, die moralische Integrität des Reserveoffiziers- und Reserveunteroffizierkorps zu gewährleisten ( 2 WD 72.80 - BVerwGE 73, 148 <151>). Daher kann - entgegen der Rechtsauffassung des Truppendienstgerichts - auf der Grundlage dieser Vorschrift auch nach Überschreitung der Altersgrenze von 65 Jahren bei Betätigung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im wehrdisziplinargerichtlichen Verfahren der Dienstgrad gegen den Willen des Betroffenen aberkannt werden.
13d) Auf dieser fehlerhaften Auslegung des § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 SG beruht die angegriffene Entscheidung, weil die in der Anschuldigungsschrift angeführten Tatsachen auch für den Vorwurf einer Betätigung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung relevant sein können und weil der frühere Soldat seit Jahren aktiv in führender Stellung in einer Partei aktiv ist, die verfassungswidrige Ziele verfolgt (vgl. - BVerfGE 144, 20 ...).
14Im Übrigen war die Einstellung des Verfahrens durch Vorsitzendenbeschluss auch ermessensfehlerhaft. Zwar liegt es grundsätzlich nach § 108 Abs. 4 WDO im Ermessen des Vorsitzenden, außerhalb der Hauptverhandlung ein Verfahren ohne ehrenamtliche Beisitzer durch Beschluss einzustellen. Wirft die Prüfung der Frage, ob ein Verfahrenshindernis vorliegt, jedoch bislang höchstrichterlich nicht geklärte Rechtsfragen auf, ist darüber wegen der damit verbundenen Grundsatzbedeutung - wie bei der Abweichung von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung - in einer Hauptverhandlung durch die gesamte Kammer zu entscheiden (vgl. 2 WDB 2.18 - NZWehrr 2018, 248 <250>).
152. Die Einstellung des Verfahrens erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als rechtmäßig. Insbesondere hat der frühere Soldat nicht bereits durch seinen Entlassungsantrag vom seinen Reservistenstatus verloren. Zum einen hat er darin nur um eine Entlassung aus dem schon altersbedingt nicht bestehenden Reservewehrdienstverhältnis (§ 4 ResG) nachgesucht. Es ist auch durch die zusätzlich erklärte Dienstgradrückgabe nicht völlig zweifelsfrei, ob damit auch ein Antrag auf Entlassung aus dem Reservistenverhältnis verbunden gewesen ist. Zum anderen kann ein von wechselseitigen Treuepflichten geprägtes Soldatenverhältnis nicht durch einseitige Verzichtserklärung des Soldaten jederzeit aufgehoben werden (vgl. 8 C 60.87 - Buchholz 448.0 § 37 WPflG Nr. 1; BDH, Beschluss vom - WDB 6. 60 - BDHE 5, 212 <214>; Eichen, in: Walz/Eichen/Sohm, SG, 3. Aufl. 2016, § 26 Rn. 14; Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2017, § 62 Rn. 1; Vogelsang, in: GKÖD, Stand Februar 2007, § 26 SG Rn. 9). Dies gilt auch bei reinen Reservisten, weil die §§ 12, 13 ResG nur für die Entlassung aus dem Reservewehrdienstverhältnis Sonderregelungen enthalten.
163. Der Einstellungsbeschluss des Vorsitzenden der 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom war daher mit der Folge aufzuheben, dass die Kammer über die Sache erneut verhandeln und entscheiden muss. Dabei ist es allerdings nicht ausgeschlossen, dass das Wehrdisziplinarverfahren im weiteren Verlauf des gerichtlichen Verfahrens aus rechtlichen Gründen eingestellt wird.
17Es ist insbesondere denkbar, dass der frühere Soldat erneut unter ausdrücklichem Dienstgradverzicht hinreichend eindeutig seine Entlassung aus dem Reservistenverhältnis beantragt und dass der Dienstherr dem Begehren durch Verwaltungsakt entspricht. Eine solche Vorgehensweise kann man unbeschadet der Regelung des § 26 Satz 1 SG, nach der ein Soldat seinen Dienstgrad nur kraft Gesetzes oder durch Richterspruch verliert, als zulässig ansehen, wenn man § 26 Satz 1 SG als eine dem Rechtsbestand des Soldaten schützende Norm begreift (vgl. BT-Drs. 2/1700 S. 25), die nach ihrem Schutzzweck bei einem vom freien Willen des Soldaten getragenen Entlassungsantrag nicht eingreift. Ob dieses Normverständnis zwingend ist, kann hier offen bleiben. Eine entsprechende Auslegung ist in der Vergangenheit von der zu § 26 Satz 1 SG ergangenen Rechtsprechung jedenfalls als rechtlich vertretbar angesehen worden, sodass eine entsprechende antragsgemäße Entlassung rechtswirksam wäre (BDH, Beschluss vom - WDB 6.60 - BDHE 5, 212 <215>). Sie würde zu einem Verlust des Dienstgrads auf andere Weise im Sinne des § 127 Abs. 1 Nr. 3 WDO führen und eine Einstellung des Disziplinarverfahrens nach sich ziehen (vgl. Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2017, § 127 Rn. 6).
18Da offen ist, ob der frühere Soldat einen entsprechenden Entlassungsantrag stellt, bedarf es derzeit keiner Entscheidung, welche Auswirkungen eine ablehnende Entscheidung des Dienstherrn auf das wehrgerichtliche Verfahren hätte. Ob der Durchführung des Disziplinarverfahrens dann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entgegenstünde, weil der Dienstherr das Verfahrensziel einer Entfernung des früheren Soldaten aus dem Unteroffizierkorps mit einem milderen Mittel hätte erreichen können, kann dahinstehen. Nichts anderes gilt für die Frage, inwieweit dabei der Grundsatz zu berücksichtigen wäre, dass das Grundgesetz vom Bürger jenseits freiwillig begründeter Sonderstatusverhältnisse keine Werteloyalität abverlangt (vgl. - BVerfGE 124, 300 <320>).
194. Die Kostenentscheidung beruht auf § 139 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 WDO. Es wäre unbillig, den früheren Soldaten mit den Kosten eines Rechtsmittels zu belasten, das allein wegen der fehlerhaften Entscheidung eines vom Bund getragenen Gerichts Erfolg hat.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2019:290119B2WDB1.18.0
Fundstelle(n):
FAAAH-11599