Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses; fehlendes Rechtsschutzbedürfnis bei Antrag auf Änderung eines AdV-Beschlusses
Leitsatz
1. NV: Die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt ausnahmsweise dann, wenn ein solcher Beschluss auf einem offensichtlichen Irrtum beruht (bzw. offensichtlich fehlerhaft ist) und zu einem mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zu vereinbarenden —d.h. im Ergebnis willkürlichen— Ausschluss des gesetzlichen Richters führen würde.
2. NV: Zu den ungeschriebenen Sachentscheidungsvoraussetzungen einer jeden Anrufung eines Gerichts gehört das Vorhandensein eines Rechtsschutzbedürfnisses. Dies fehlt u.a. dann, wenn es für den Rechtsbehelfsführer einen verfahrensmäßig einfacheren und/oder schnelleren Weg gibt, das angestrebte Rechtsschutzziel zu erreichen.
3. NV: Hat ein Gericht AdV für die Dauer des Einspruchsverfahrens gewährt, fehlt einem auf § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO gestützten Antrag des FA auf Aufhebung der AdV das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Einspruch entscheidungsreif ist und das FA die AdV auch ohne Anrufung des Gerichts schneller und einfacher durch Erlass der Einspruchsentscheidung beenden könnte.
Gesetze: FGO § 69 Abs. 6 Satz 2; FGO § 70 Satz 1; GVG § 17a Abs. 2 Satz 3; GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2;
Tatbestand
I.
1 Der Senat hatte dem Antragsgegner (dem Steuerpflichtigen und damaligen Antragsteller und Beschwerdeführer) mit Beschluss vom X B 16/17 (BFHE 257, 523) hinsichtlich der streitgegenständlichen Steuernachforderungen in überwiegendem Umfang Aussetzung der Vollziehung (AdV) ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder einen Monat nach anderweitiger Erledigung des Einspruchsverfahrens gewährt. Dies beruhte insbesondere darauf, dass der Senat den Sachverhalt seinerzeit als noch nicht hinreichend aufgeklärt angesehen hatte.
2 Am forderte der Antragsteller des vorliegenden Verfahrens (das Finanzamt —FA—) den Antragsgegner zur Vorlage zahlreicher Unterlagen auf. In einer Besprechung mit den Prozessbevollmächtigten (P) des Antragsgegners am wiederholte das FA diese Aufforderung. P entgegnete, es seien bereits 141 Arbeitsstunden auf das Verfahren verwendet worden; das entsprechende Honorar sei „in den Sand gesetzt“ worden, da der Antragsgegner es nicht bezahlen könne. Aus wirtschaftlichen Gründen könne P daher die vom FA beabsichtigte erneute Prüfung der Aufzeichnungen des Antragsgegners nicht begleiten. Die vom FA angeforderten Unterlagen würden daher nicht vorgelegt.
3 Am stellte das FA beim Finanzgericht (FG) den vorliegend streitgegenständlichen Antrag auf Änderung des AdV-Beschlusses des Senats in BFHE 257, 523 gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen veränderter Umstände. Diese Umstände seien hier darin zu sehen, dass der Antragsgegner die Mitwirkung verweigere, die für die Aufklärung der vom Senat im angeführten Beschluss aufgezeigten offenen Sachverhaltsfragen erforderlich sei.
4 Das FG verwies das Verfahren —nach Anhörung der Beteiligten— mit Beschluss vom an den Bundesfinanzhof (BFH). Hierfür stützte es sich auf § 70 Satz 1 FGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) und führte zur Begründung aus, es sei sachlich unzuständig. Gericht der Hauptsache sei vorliegend nicht das FG, sondern der BFH, da dieser in seinem Beschluss über die Beschwerde eine eigenständige, von derjenigen des FG abweichende Entscheidung über die AdV für die Dauer des Einspruchsverfahrens getroffen habe. Da das FG noch nicht mit der Hauptsache befasst sei, wirke die Beschlusszuständigkeit (Abänderungsbefugnis) des BFH fort (, BFHE 230, 208, BStBl II 2010, 935). Zwar beziehe sich diese Entscheidung nur auf § 69 Abs. 6 Satz 1 FGO. Allerdings werde die Änderungsbefugnis im Streitfall maßgebend durch den eigenständigen Tenor des vorangegangenen BFH-Beschlusses über die Beschwerde vorgegeben. Eine Bündelung der Zuständigkeit beim Beschwerdegericht sei auch zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen geboten. Außerdem erhalte das Beschwerdegericht auf diese Weise Kenntnis von den zur Prüfung erforderlichen Umständen.
5 Das FA beantragt,
den Senatsbeschluss in BFHE 257, 523 dahingehend zu ändern, dass die Gewährung von AdV rückwirkend ab dem aufgehoben werde.
6 Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, ihn als unbegründet abzulehnen.
Gründe
II.
7 Der Verweisungsbeschluss des FG hat in bindender Weise die Zuständigkeit des BFH für die Entscheidung über den Antrag des FA begründet.
8 Dabei kann offen bleiben, ob der Senat der vom FG vertretenen Auffassung zur Zuständigkeitsfrage in der Sache folgen könnte (vgl. § 35 FGO). Denn gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, bindend. Diese Regelung betrifft zwar unmittelbar nur die Rechtswegzuständigkeit. § 70 Satz 1 FGO erstreckt den Anwendungsbereich des § 17a GVG für die Finanzgerichtsbarkeit aber auch auf die sachliche (instanzielle) Zuständigkeit.
9 Zwar entfällt die in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG vorbehaltlos gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausnahmsweise dann, wenn ein solcher Beschluss auf einem offensichtlichen Irrtum beruht (bzw. offensichtlich fehlerhaft ist) und zu einem mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) nicht zu vereinbarenden —d.h. im Ergebnis willkürlichen— Ausschluss des gesetzlichen Richters führen würde, weil dann das einfache Gesetz hinter den Rechtsgedanken des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zurücktreten muss (BFH-Beschlüsse vom I S 4/93, BFH/NV 1993, 676, unter II.3.d, m.w.N., und vom I S 1/00, BFH/NV 2000, 1350, unter II.2.). Dasselbe gilt, wenn ein Verweisungsbeschluss auf einem schweren Verfahrensfehler beruht, insbesondere eine erforderliche Anhörung der Beteiligten unterblieben ist (Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom L 1 B 77/06 KR ER).
10 Ein Verfahrensfehler oder eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit des Verweisungsbeschlusses im Sinne eines objektiv willkürlichen Handelns des FG ist hier nicht erkennbar, zumal das FG —nach Anhörung der Beteiligten— seine Auffassung zur Zuständigkeitsfrage ausführlich begründet hat. Damit bleibt es bei der in § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG angeordneten Bindungswirkung.
III.
11 Der Antrag ist unzulässig, da es dem FA an dem hierfür erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
12 1. Zu den ungeschriebenen Sachentscheidungsvoraussetzungen einer jeden Anrufung eines Gerichts gehört das Vorhandensein eines Rechtsschutzbedürfnisses (vgl. , BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, unter II.1.b). Das anfängliche Fehlen oder der spätere Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses bewirkt die Unzulässigkeit des gewählten gerichtlichen Rechtsbehelfs (, BFHE 174, 446, BStBl II 1994, 756, unter II.1.).
13 Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt u.a. dann, wenn es für den Rechtsbehelfsführer einen verfahrensmäßig einfacheren und/oder schnelleren Weg gibt, das angestrebte Rechtsschutzziel zu erreichen (vgl. u.a. BFH-Entscheidungen vom II B 35/83, BFHE 139, 508, BStBl II 1984, 210; vom III B 84/85, BFH/NV 1986, 476, unter 2., und vom III R 53/13, BFHE 246, 437, BStBl II 2015, 282, Rz 10).
14 2. Dies ist hier der Fall.
15 In seinem Beschluss in BFHE 257, 523 hatte der Senat die AdV bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung befristet. Das Einspruchsverfahren ist auch gegenwärtig noch beim FA anhängig. Das FA hat während des Einspruchsverfahrens die Verfahrensherrschaft (vgl. § 365 Abs. 1, § 367 der Abgabenordnung) und ist jederzeit in der Lage, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen. Da die dem Antragsgegner vom Senat gewährte AdV einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung automatisch endet, könnte das FA sein mit dem gerichtlichen Änderungsantrag erstrebtes Ziel auch auf anderem Wege —durch Gebrauchmachen von seiner eigenen Verfahrensherrschaft— erreichen, ohne dass es eines aufwändigen gerichtlichen Verfahrens bedürfte.
16 Der Antragsgegner hat schon mit Schreiben vom —also vor über einem Jahr— um eine Entscheidung über den Einspruch gebeten. Er hat mehrfach ausdrücklich erklärt, im Einspruchsverfahren keine Unterlagen mehr vorlegen zu wollen. Damit ist das FA —da andere Möglichkeiten der Sachaufklärung als die nochmalige Einsichtnahme in die Aufzeichnungen des Antragsgegners nicht ersichtlich sind— an der weiteren Sachaufklärung gehindert. Es ist daher nicht erkennbar, welche Umstände dem Erlass einer Einspruchsentscheidung aus Sicht des FA gegenwärtig noch entgegenstehen.
17 Der kurzfristige Erlass der —vom Antragsgegner ohnehin bereits erbetenen— Einspruchsentscheidung wäre für das FA deutlich einfacher und schneller durchführbar als das von ihm eingeschlagene Verfahren, auf dem Umweg eines Antrags auf Änderung des AdV-Beschlusses des Senats eventuell eine inhaltliche Äußerung des BFH zum Umfang der Mitwirkungspflichten des Antragsgegners zu erhalten.
18 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2018:B.210818.XS23.18.0
Fundstelle(n):
BFH/NV 2019 S. 35 Nr. 1
KAAAG-99262