Sozialgerichtliches Verfahren - Einverständnis zum Verzicht auf mündliche Verhandlung - kein Verbrauch des Einverständnisses durch Entscheidung über erfolglosen Befangenheitsantrag - keine weitere Frist zur Stellungnahme nach längerer Zeitdauer - Verlesung des protokollierten Einverständnisses nicht erforderlich - Nichtzulassungsbeschwerde
Gesetze: § 124 Abs 2 SGG, § 122 SGG, § 60 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 42 ZPO, § 162 Abs 1 S 1 Alt 1 ZPO, § 162 Abs 1 S 1 Alt 2 ZPO, § 162 Abs 1 S 3 ZPO, § 160 Abs 3 Nr 3 Alt 3 ZPO
Instanzenzug: Az: S 7 SB 1261/16 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 6 SB 3342/16 Urteil
Gründe
1I. Der Kläger begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung und des Merkzeichens G.
2Das SG hat seine darauf gerichtete Klage als unzulässig abgewiesen (), das LSG hat die Berufung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen (Urteil vom ).
3Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt, für die ihm Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist. Der Kläger macht als Verfahrensfehler geltend, das LSG habe nicht durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen.
4II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil die behaupteten Verfahrensmängel nicht ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
51. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, es liege ein Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung dieses Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst substantiiert die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen dargetan werden. Diese Darlegungen enthält die Beschwerde nicht. Es fehlt bereits an der zusammenhängenden und aus sich heraus verständlichen Darlegung des Streitgegenstands, der Verfahrens- und Prozessgeschichte sowie des vom LSG festgestellten Sachverhalts und damit der Umstände, die möglicherweise zu einem entscheidungsrelevanten Verfahrensfehler geführt haben. Es ist nicht Aufgabe des Beschwerdegerichts, sich die erforderlichen Tatsachen aus dem Urteil und erst recht nicht aus den Verfahrensakten herauszusuchen.
6Unabhängig davon hat der Kläger auch seine ausschnittsweise Schilderung prozessualer Vorgänge keinen Verfahrensfehler dargelegt. Seine Behauptung, er habe schon kein wirksames Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG abgegeben, weil sein im Erörterungstermin zu Protokoll erklärtes Einverständnis nicht nochmals verlesen worden sei, hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert. Wie die Beschwerde selber zutreffend ausführt, schreibt das Gesetz keine Form für den Verzicht auf die mündliche Verhandlung vor. Zwar wird sie in der Regel schriftlich erfolgen, sie kann aber auch durch mündliche Erklärung zur Niederschrift des Urkundsbeamten des Gerichts oder im Rahmen einer mündlichen Verhandlung oder - wie im Fall des Klägers - eines Erörterungstermins zu Protokoll abgegeben werden (vgl - SozR Nr 4 zu § 124 SGG Juris RdNr 19; Bergner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 124 RdNr 54 mwN). Verlesung und Genehmigung des Protokolls schreibt § 122 SGG iVm § 162 Abs 1 S 1 Var 1 ZPO nur für im Einzelnen aufgeführte Prozesserklärungen wie Klagerücknahme und Rechtsmittelverzicht vor, zu denen der Verzicht auf mündliche Verhandlung nicht gehört. Ebenso wenig handelt es sich dabei um eine sonstige Erklärung, deren Feststellung im Protokoll vorgeschrieben ist, § 160 Abs 3 Nr 3 Var 3 ZPO, noch um einen zu Protokoll erklärten Antrag iS von § 162 Abs 1 S 1 Var 2 ZPO. Ohnehin hat es nicht die Unwirksamkeit einer (einseitigen) Prozesshandlung zur Folge, wenn im Protokoll der Vermerk nach § 162 Abs 1 S 3 ZPO fehlt, sofern Abgabe und Inhalt der Erklärung anderweit festgestellt (bewiesen) werden können (Schultzky in Zöller, ZPO, 32. Aufl 2018, § 162 RdNr 6 mwN).
7Ebenso wenig hinreichend substantiiert hat die Beschwerde ihre Behauptung, die Einverständniserklärung des Klägers sei durch seinen erfolglosen Befangenheitsantrag verbraucht worden. Nach der nahezu einhelligen Auffassung in Rechtsprechung und Rechtslehre bezieht sich das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nur auf die jeweils nächste Entscheidung. Ist diese nicht das abschließende Urteil, so wird die Verzichtserklärung in der Regel durch jede gerichtliche Entscheidung verbraucht, die die Endentscheidung wesentlich sachlich vorbereitet ( - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2, Juris RdNr 15). Indes hat die Beschwerde nicht dargelegt, in welcher Weise der erfolglose Befangenheitsantrag des Klägers die Entscheidung in seiner Sache sachlich vorbereitet haben sollte. Vielmehr handelt es sich um einen rein verfahrensrechtlichen Antrag, der das Verfahren in der Sache nicht gefördert hat und schon wegen seiner Erfolglosigkeit die Prozesslage in keiner Weise verändert hat. Dementsprechend geht auch der Beschluss über den Befangenheitsantrag hierüber nicht hinaus.
8Soweit die Beschwerde schließlich eine Überraschungsentscheidung rügt, fehlt es ebenfalls an der hinreichenden Darlegung entsprechender Tatsachen. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht ( - SozR 4-2500 § 103 Nr 6, Juris RdNr 17 mwN). Die Beschwerde legt nicht dar, warum eine Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung über ein halbes Jahr nach Abgabe der entsprechenden Einverständniserklärungen der Beteiligten einen gewissenhaften Prozessbeteiligten hätte überraschen sollen. Die von der Beschwerde verlangte weitere Fristsetzung zur abschließenden Stellungnahme durch die Beteiligten sieht das Gesetz nicht vor. Vielmehr setzt ein Urteil ohne mündliche Verhandlung die Entscheidungsreife des Verfahrens voraus, die erst eintreten kann, wenn die Beteiligten bereits ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.
9Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
10Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
112. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2018:280618BB9SB5317B0
Fundstelle(n):
NAAAG-96844