Sachverständigenbeweis: Erfordernis der erneuten Anhörung des Sachverständigen in der Berufungsinstanz
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 529 Abs 1 Nr 1 ZPO
Instanzenzug: OLG Dresden Az: 10 U 1545/14vorgehend LG Görlitz Az: 5 O 225/08
Gründe
I.
1Der Kläger fordert von den Beklagten Schadensersatz im Zusammenhang mit dem im Zuge der Ausführung von Sanierungsarbeiten erfolgten Teileinsturz eines historischen Gebäudes im Jahre 2006.
2Die Beklagte zu 1 war mit der Erbringung von Planungsleistungen der Leistungsphasen 1-7 HOAI (1996) beauftragt, der Beklagte zu 2 sollte verschiedene statische Berechnungen durchführen. Mit der Ausführung der Bauarbeiten beauftragte der Kläger die Streithelferin S. AG als Generalunternehmerin.
3Im Zuge der Sanierung sollten zwei Garagenräume im Kellergeschoss des Hinterhauses errichtet werden. Hierzu musste die Kelleraußenwand durchbrochen und die Gebäudeaußenwand mittels eines Baubehelfs abgefangen werden.
4In diesem Zusammenhang wurden folgende Arbeiten ausgeführt: Eine Subunternehmerin der S. AG durchbohrte am die Gebäudeaußenwand oberhalb der über dem Keller befindlichen Geschossdecke mittels Kernbohrungen. Sie erstellte sechs Bohrlöcher mit einem Durchmesser von etwa 45 cm in einem Abstand von je etwa 1 m in einer waagerechten Reihe. Mehrere Tage nach der Herstellung der sechs Bohrlöcher schob die S. AG jeweils einen Doppel-T-Träger durch die Bohrlöcher und legte diese an ihren Enden jeweils auf mehr als geschosshohe ausziehbare Baustützen auf.
5Der Errichtung dieses Baubehelfs lagen keine planerischen Vorgaben des Beklagten zu 1 zugrunde. Durch den Beklagten zu 2 war auf Bitten des Bauleiters der S. AG eine Berechnung erfolgt, welche Tragkraft die Doppel-T-Träger haben müssen, um das Gewicht der Gebäudeaußenwand zu tragen.
6Am stürzte die im Bereich des Baubehelfs befindliche Gebäudeaußenwand nebst einer sich daran anschließenden Außenwand des Seitenhauses einschließlich der Geschossdecken und des Dachstuhls ein.
7Der Kläger verlangt von den Beklagten in unterschiedlicher Höhe Schadensersatz im Umfang der Wiederaufbaukosten in Höhe von insgesamt 301.284,36 €.
8Das Landgericht hat - sachverständig beraten - die Beklagte zu 1 zur Zahlung von 197.603,07 € nebst Zinsen, sowie beide Beklagte als Gesamtschuldner zur Zahlung weiterer 98.801,53 € nebst Zinsen verurteilt und festgestellt, dass die Beklagten für den Fall der Wiederherstellung des Bauwerks auch die vom Kläger zu zahlende Mehrwertsteuer zu erstatten haben.
9Das Berufungsgericht hat auf die Berufungen der Beklagten und der S. AG das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der er Zulassung der Revision und die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils begehrt.
II.
10Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
111. Das Berufungsgericht hat, soweit für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
12Die Beklagten seien nicht zum Schadensersatz verpflichtet.
13Nach den Feststellungen der Sachverständigen sei der Einsturz der Gebäudeteile maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die Stabilität der Gebäudeaußenwand durch das Herstellen der sechs Bohrlöcher massiv geschwächt und die Wand danach mehrere Tage nicht abgestützt worden sei. Das Einziehen der Doppel-T-Träger habe den Einsturz nicht mehr verhindern können. Der Sachverständige habe hinsichtlich des Beklagten zu 2 festgestellt, dass die durch ihn bemessenen Doppel-T-Träger "für sich betrachtet" geeignet gewesen seien, "die aufstehenden Lasten aufzunehmen, ohne zu versagen". Der Beklagte zu 2 sei nicht verpflichtet gewesen, einer Schwächung des Gebäudeaußenmauerwerks durch die S. AG entgegenzuwirken und den Kläger und/oder sonstige Baubeteiligte vor Gefahren durch das Einbringen der Bohrlöcher zu warnen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass er auf Bitte des Bauleiters der S. AG die erforderlichen Maße für die Doppel-T-Träger berechnet habe. Dies begründe keinen Anlass, auf die Risiken der beabsichtigten provisorischen Abfangung der Gebäudewand hinzuweisen. Insbesondere sei er nicht verpflichtet gewesen, darauf hinzuweisen, dass die Bohrlöcher nicht ohne sofortiges Einbringen der Doppel-T-Träger in einem Zug erstellt werden dürften. Auch bestehe keine Rechtspflicht des Beklagten zu 2 zur Erteilung einer Warnung.
14Die Beklagte zu 1 sei nicht mit der Bauüberwachung beauftragt gewesen. Es könne dahinstehen, ob die Beklagte zu 1 verpflichtet gewesen sei, auf eine "ordnungsgemäße Planung" der Abstützungskonstruktion hinzuwirken, da nicht die unzureichende Konstruktion des Baubehelfs, sondern das nicht fachgerechte Herstellen der Bohrlöcher ohne Anwendung des sogenannten Pilgerschrittverfahrens - dem sofortigen Einbringen einer Abstützung nach Herstellung des Bohrlochs vor der Herstellung des nächsten Bohrlochs - für den Einsturz der Gebäudeteile ursächlich gewesen sei. Der Beklagten zu 1 habe keine Pflicht oblegen, den Kläger darauf hinzuweisen, dass bei Einbringen der Bohrlöcher das Pilgerschrittverfahren einzuhalten sei oder dass der Eingriff in die Bausubstanz einer vorherigen Prüfung durch einen Statiker bedürfe.
152. Zu Recht rügt die Nichtzulassungsbeschwerde, dass das Berufungsgericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG die Ausführungen der Sachverständigen anders als das Landgericht gewürdigt hat, ohne die Sachverständigen erneut anzuhören.
16a) Gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Solche Anhaltspunkte können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als die Vorinstanz.
17Beim Sachverständigenbeweis gilt, dass es einer erneuten Anhörung des Sachverständigen bedarf, wenn das Berufungsgericht dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter. Unterbleibt diese gebotene Beweisaufnahme, ist das Recht des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (vgl. BVerfG, NJW 2011, 49 Rn. 10-14; Rn. 8, 13, BauR 2010, 1095).
18b) Das Berufungsgericht hat die Ausführungen der Sachverständigen im Rahmen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme in diesem Sinne abweichend gewürdigt.
19Das Landgericht hat die Pflichtverletzung des Beklagten zu 2 darin gesehen, dass dieser aufgrund seiner Kenntnis, dass eine Auflagerung der von ihm berechneten Stahlträger auf Baustützen beabsichtigt war, den Kläger oder dessen Architekten auf die Gefahrenlage hätte hinweisen müssen, dass ein nicht geeigneter Baubehelf zur Ausführung kommen soll. Das Gericht sei davon überzeugt, dass die unterlassene Warnung des Beklagten zu 2 den Einsturz verursacht habe, da "die mit dem Anbringen der gewählten ungeeigneten Abstützungskonstruktion einhergehenden Eingriffe in die Bausubstanz den Einsturz verursacht" hätten.
20Das zeigt, dass das Landgericht, gestützt auf die Sachverständigengutachten, sowohl den ungeeigneten Baubehelf - die Baustützen - als auch die Eingriffe in die Bausubstanz - die Durchführung der Bohrungen ohne Einhaltung des Pilgerschrittverfahrens - als kausal für den Einsturz erachtet hat.
21Das Berufungsgericht versteht die Gutachten hingegen anders. Danach sei der Einsturz kausal darauf zurückzuführen, dass das Pilgerschrittverfahren nicht eingehalten wurde. Darauf, ob die Stützen ihre Wirkung hätten entfalten können oder nicht, komme es nicht mehr an. Folgerichtig misst das Berufungsgericht die mögliche Pflichtverletzung beider Beklagter nur an der Frage, ob diese auf die Einhaltung des Pilgerschrittverfahrens hätten hinwirken müssen. Inwiefern die Beklagten im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Abstützung Planungs- oder Hinweispflichten trafen, lässt es offen.
22Dies stellt ein in maßgeblicher Weise abweichendes Verständnis der Sachverständigengutachten dar. Dieses Verständnis war erstinstanzlich nicht Gegenstand der umfangreichen schriftlichen Gutachten sowie der Anhörungstermine. Das Berufungsgericht legt keine Umstände dar, warum es ausnahmsweise bereits aufgrund des Akteninhalts zu einem anderen Ergebnis als das Landgericht hätte kommen können. Das Berufungsgericht hätte diese Frage daher nicht ohne erneute Anhörung der Sachverständigen entscheiden dürfen.
233. Die Entscheidung des Berufungsgerichts beruht auf dem dargestellten Verfahrensfehler. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach einer erneuten Anhörung der Sachverständigen zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass ein ordnungsgemäß geplanter und ausgeführter Baubehelf den Einsturz trotz Nichteinhaltung des Pilgerschrittverfahrens verhindert hätte.
24Ob die Beklagten unter diesen Voraussetzungen für die Folgen des Einsturzes haften, ist offen, da das Berufungsgericht hierzu - aus seiner Sicht folgerichtig - bisher keine Feststellungen getroffen hat.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2018:180718BVIIZR30.16.0
Fundstelle(n):
NJW-RR 2018 S. 1173 Nr. 19
DAAAG-96146