BFH Urteil v. - VIII R 70/01

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Lehrerin im Ruhestand und bezog für ihren im Juni 1962 geborenen Sohn X Kindergeld. X leidet seit mindestens 1983 an einer endogenen Psychose mit psychopathologischen Auffälligkeiten. Der Grad der Behinderung beträgt lt. Schwerbehindertenausweis 60 v.H.; weitere Merkzeichen sind im Schwerbehindertenausweis nicht eingetragen. Das Versorgungsamt hat mit Bescheid vom Februar 1989 als Behinderung eine ”endogene Psychose” festgestellt und entschieden, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G, aG, BL, H, RF und 1. Kl. nicht vorliegen. Im Oktober 1984 ist die Klägerin zur Pflegerin ihres Sohnes bestellt worden.

Zum Juli 1987 trat X als Lernbehinderter eine Ausbildung zum Metallfachwerker an der Berufsschule für Lernbehinderte an; zum Mai 1990 wurde das Ausbildungsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen aufgelöst. Seit dieser Zeit hat X, der im Haushalt der Klägerin lebt, keine andere Beschäftigung aufgenommen.

Im Sommer 1997 nahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) eine Überprüfung der Kindergeldberechtigung der Klägerin vor. Dabei stellte sich heraus, dass der Sohn der Klägerin Vermögen von mehr als 30 000 DM besaß. Zum war X Inhaber eines Wertpapierdepots mit einem Kurswert von ca. 114 000 DM, die daraus erzielten Erträge beliefen sich auf ca. 5 200 DM. Außerdem war X Inhaber einer Rentenversicherung mit abgekürzter Beitragszahlung, als Beginn der Rentenzahlung war der vorgesehen. Der Beklagte setzte daher mit Bescheid vom mit Wirkung ab das Kindergeld für X auf 0 DM fest und forderte das für die Zeit von Januar 1997 bis Oktober 1997 gezahlte Kindergeld in Höhe von 2 200 DM zurück.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 1458 veröffentlichten Urteil vom als unbegründet ab. Das FG stützte seine Entscheidung darauf, bei der Frage, ob ein Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ”außerstande ist, sich selbst zu unterhalten”, könne man nicht nur auf die Einkünfte und Bezüge des Kindes abstellen, sondern müsse auch das Vermögen des Kindes berücksichtigen. Da das eigene Vermögen des X weit mehr als 30 000 DM betrage und der Ausnahmefall der Verschonung des Vermögens nicht gegeben sei, sei X nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten. Demzufolge habe die Klägerin keinen Anspruch auf Kindergeld für X.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.

Sie beantragt,

die Vorentscheidung aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin für ihren Sohn X ab Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 1997 (i.d.F. der Bekanntmachung vom , BGBl I 1997, 821, BStBl I 1997, 415) besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

a) Das Tatbestandsmerkmal ”außerstande sein, sich selbst zu unterhalten” ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Davon ist auch das FG zutreffend ausgegangen. Durch die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat der Gesetzgeber aber klargestellt, dass der steuerrechtliche Begriff des ”Außerstandeseins zum Selbstunterhalt” seit der Systemumstellung zum auch im Kindergeldrecht anzuwenden und somit eine einheitliche steuerrechtliche Auslegung geboten ist. Auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Bundeskindergeldgesetz in der bis zum geltenden Fassung (BKGG a.F.), das für das Kindergeld und für den Kinderfreibetrag eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung zugrunde gelegt hat (vgl. , Sozialrecht 3. Folge —SozR 3— 5870 § 11a BKGG Nr. 10), kann daher nicht zurückgegriffen werden. Denn das Kindergeld dient seit dem —ebenso wie der Kinderfreibetrag— in erster Linie der steuerrechtlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern.

b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (, BFH/NV 1997, 343, und vom III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173).

§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muss es wegen seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72).

c) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen ( in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72; VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75; VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79). Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern oder anderen gegenüber dem behinderten Kind Unterhaltsverpflichteten kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert, so dass es dann gerechtfertigt ist, für behinderte Kinder kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (vgl. , 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658). Dabei ist bei behinderten Kindern zu berücksichtigen, dass sich deren gesamter existenzieller Lebensbedarf nicht nur aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), sondern zusätzlich aus einem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt (BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72). Für das Streitjahr 1997 ist der Grundbedarf mit 12 000 DM zu bemessen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75; zur allgemeinen Bemessung dieses am Existenzminimum orientierten Betrages nach dem im Sozialhilferecht jeweils anerkannten Mindestbedarf vgl. , 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, zu C. II.). Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen.

2. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall bestehen keine Zweifel, dass X nicht über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existentiellen Lebensbedarf zu decken. Denn die Einnahmen des X bestanden im Streitjahr lediglich aus Kapitalerträgen in Höhe von ca. 5 200 DM —vor Abzug des Sparerfreibetrages gemäß § 20 Abs. 4 EStG von 6 000 DM p.a. (s. dazu , BFHE 192, 485, BStBl II 2000, 684)—, so dass bereits daraus deutlich wird, dass der Gesamtbedarf —selbst ohne Ansatz eines individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarfs— in keinem Falle gedeckt ist.

3. Entgegen der Auffassung des FG kann bei der Frage, ob der Sohn der Klägerin außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, jedoch nicht auf dessen vorhandenes Vermögen abgestellt werden. Hierin liegt ein materiell-rechtlicher Mangel, der zur Aufhebung der Vorentscheidung führt. Denn nach den Grundsatzentscheidungen des Senats vom VIII R 51/01 und VIII R 17/02 kann das Vermögen volljähriger behinderter Kinder bei der Beurteilung der Frage, ob das behinderte Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht herangezogen werden. Auf die Begründung dieser Entscheidungen nimmt der Senat insoweit in vollem Umfang Bezug.

4. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Der Senat kann aufgrund der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen, ob die Behinderung des Sohnes der Klägerin für dessen Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ursächlich ist. Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt grundsätzlich anzunehmen, wenn im Schwerbehindertenausweis das Merkmal ”H” eingetragen ist oder der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (, BFHE 196, 61, BStBl II 2001, 832; , BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; ebenso die im Streitjahr anzuwendende Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes —DA-FamEStG— 63.3.6.4 Abs. 4., BStBl I 1998, 389, 422).

Im Streitfall ist X zwar zu 60 v.H. behindert; sein Schwerbehindertenausweis trägt aber keine weiteren Merkmale, die zu dem Schluss zwingen, für X erscheine aufgrund seiner Behinderung eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen. Zwar lässt der Umstand, dass X nach Abbruch der Berufsausbildung zum Metallfachwerker keine weitere Ausbildung begonnen und sich anschließend zumindest zeitweise wieder in stationärer Behandlung befunden hat, darauf schließen, dass eine normale Erwerbstätigkeit, die auch von Nichtbehinderten ausgeübt werden kann, für X nicht in Betracht kommt. Ob das tatsächlich der Fall ist, vermag der Senat nach den vom FG getroffenen Feststellungen jedoch nicht abschließend zu beurteilen, da das FG —aus seiner Sicht folgerichtig— keine Feststellungen dazu getroffen hat, welches Ausmaß die seelische Behinderung des X im Einzelnen hat und ob deren Auswirkungen so gravierend sind, dass X deshalb außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuverweisen, die die erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang nachzuholen hat.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2003 S. 311
BFH/NV 2003 S. 311 Nr. 3
QAAAA-71345